Winterrede Barbara Bosshard: «Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 13. bis 24. Januar 2025 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Barbara Bosshard
Liebe Anwesende
Schön, dass Sie heute gekommen sind. Mit Ihrem Dasein unterstützen Sie mich beim Reden. Und es freut mich, dass wir uns beim anschliessenden Apéro noch austauschen können.
Als das Karl*a-Team mit der Anfrage für eine Winterrede an mich gelangte, wollte ich zuerst absagen. Ich dachte, reden, worüber – in Anbetracht dieser Weltlage.
Eine Welt der Kriege und Machtdemonstrationen. Wo Autokraten, Diktatoren und selbst demokratisch gewählte Politiker:innen Frauenrechte, queere Rechte und insbesondere Rechte von trans Menschen einschränken, abschaffen, verbieten.
Diese Überlegungen durchkreuzten meine Gedanken, als ich nach der Anfrage durch den Friedhof Sihlfeld wanderte. Ich beschloss, zuzusagen. Ich dachte, ich werde über mich reden, weil all dies auch mein Leben betrifft. Mich als 73-jährige lesbische Frau. Doch darauf werde ich etwas später zurückkommen.
Vielleicht musste es ja gerade der Spaziergang über den Friedhof sein, der mich motivierte, die Gelegenheit zu packen und über mich zu erzählen. Der Friedhof Sihlfeld ist in meinem Leben ein wichtiger Ort geworden. Es ist ein Ort, der mich kräftigt, auch anregt, über das Leben, das Sterben und den Sinn des Lebens nachzudenken.
Es ist ein Ort, der auch mit seelischem Schmerz verbunden ist.
Seit 2008 – seit gut 16 Jahren also – ruht dort meine langjährigste Lebenspartnerin. Unser gemeinsames Leben dauerte bis zu ihrem Tod: 24 Jahre lang. Oft sind wir in ihrem Übergang von Leben zu Sterben durch den Friedhof gewandert. Er lag nahe bei unserer Wohnung. Durch das Nachlassen ihrer physischen Kraft – war es oft der einzige Fixpunkt ausserhalb der Wohnung.
Dort führten wir die intensivsten Gespräche. Wir redeten über alles: Über uns, den Sterbeprozess, was kommt danach. Was für sie. Was für mich. Für sie war klar: Energie bleibt. Ich war gedanklich noch nicht soweit. Als sie starb, war sie 53. Ich 57.
Obwohl ich zusehen konnte, wie ihr Sterben näherrückt, gelang es mir nur bedingt, mich auf ihren Tod vorzubereiten.
Meine grosse Sorge: Was bringt das Leben MIR? Es brachte mir eine grosse Leere und ein Zurückziehen in die Einsamkeit. Eine um fast 40 Jahre ältere Freundin wusste um meine Situation. Wir waren uns emotional tief verbunden. Einmal – es war kurz vor deren Tod – überreichte sie mir zum Mittagessen ein Blatt Papier. Sie lächelte und sagte: Schau, was ich dir mitgebracht habe.
Es waren Zeilen, die ihre Lebenshaltung beschrieben, die ich ebenfalls sehr bewunderte. Hinterher war ich mir sicher: Sie wollte mir etwas anbieten, das mir helfen soll, den bevorstehenden Verlust zu verkraften. «Sich trauen. Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten. Auch in uns.»
Diese Aussage gab mir tatsächlich Kraft und auch Mut. Ein erstes Mal war es wenige Wochen nach dem Tod meiner damaligen Lebenspartnerin. Mir begegnete eine Frau, die in mir emotional einiges auslöste. Und das, obwohl ich am Anfang meines eigenen Trauerprozesses war.
Zwei Stimmen begannen sich zu duellieren: Die eine warnte: Das geht doch nicht! Das Jahr ist noch nicht einmal in seiner Hälfte! Die andere lockte: Öffne die fremde Tür. Wag’s. Betrete den neuen Raum.
Das war vor 16 Jahren, als sich die mutigere Stimme durchsetzen durfte. Wir wagten es, den neuen, unbekannten Raum zu betreten. Wir statteten ihn sukzessive aus: Mit Neuem – Mit neu zu Definierendem – und auch mit Altgewohntem.
Es ist noch immer ein Geschenk. Was für eine unglaubliche Chance und Bereicherung: Neue Räume mit teilweise neuen Realitäten und Menschen bestücken zu dürfen. Neue Räume mit Bücherregalen auszustatten, in denen nur etwas Altbekanntes steht: Nämlich die eigene Lebensgeschichte.
Die eigene Lebensgeschichte steht in jedem Raum, auch im neu zu definierenden: Wenn dies im Dialog geschehen kann, ist es umso schöner. An den Ausgangspunkten warten jeweils Leerstellen. Diese auszuhalten, ist oft schwierig. Doch wichtig für Überlegungen, WIE sich Lebensräume und Lücken füllen lassen. Vielleicht sogar aus einer ungewohnten Perspektive, um Gewohntes neu …, anders zu definieren.
Erst recht, wenn sich etwas auflöst, das nicht festzuhalten ist.
Nach 45 Jahren Berufsleben als Fernseh-Journalistin bei SRF stand ich nach der Pensionierung erneut vor Leere. Die Leerstelle zwang mich, sie anzugehen, um den nächsten Lebensabschnitt mit Sinn zu füllen.
Womit?
Ich arbeitete gerne. Im Beruf liebte ich es, im Team gemeinsam entwickelte Ideen umzusetzen. Und nun – mit 64 Jahren – Wie, mit wem Ideen umsetzen? Sind meine Gedanken – Gedanken einer alten Frau – überhaupt noch gefragt?
Wer wartet auf mich?
Wie beneidete ich diejenigen, die in einem Laien-Orchester oder -Chor musizierten und aufs Jahreskonzert übten. Obwohl mich meine Eltern zu Schulzeiten in den Klavierunterricht schickten, war es keine Investition in die Zukunft.
Wie also schaffe ich, den dritten Lebensabschnitt sinnstiftend zu gestalten? Es wartete keine Struktur auf mich, wie sie heteronormativ lebende Menschen häufig vorfinden: eine durch Kinder und Enkelkinder getaktete Agenda.
Ich hatte mich bewusst gegen eigene Kinder entschieden, auch aus gesellschaftlichen Gründen. Auf mich wartete ein neu zu definierendes Leben, nachdem ich in jungen Jahren gewagt hatte, mich als Lesbe zu outen. Dies gilt für viele queere Menschen, nicht zuletzt in meinem Alter. Viele wurden aufgrund ihrer Lebensweise ausgeschlossen und leben seitdem ohne herkunfts-familiäre Strukturen. Viele Queers entfernten und entfremdeten sich von ihren Familien. Vielleicht vorübergehend wie ich.
Queere Lebensfelder passen nicht in hetero-patriarchale Pfade. Unsere Themen sind: Welche gesellschaftlichen Konsequenzen bringt ein Coming-out? Wie erreichen wir Akzeptanz und Annäherung an gleichere Rechte? Jüngere Queers haben es heute besser, aber nicht nur.
Das Leben lehrt uns, dass wir mit unseren eigenen Netzwerken, ausserhalb familiärer Strukturen, besser fahren. Netzwerke, innerhalb derer Diversität gelebt und nicht infrage gestellt wird. Wo unsere Biografien akzeptiert sind. Wo gut ist, wie Mensch ist.
Leider bewegte ich mich nach der Berufsarbeit nicht in einem solchen Netz. Ich beschäftigte mich erst einmal mit der Frage nach dem Sinn und dem neuen Lebensabschnitt: dem Altwerden.
Wenn ich meine Gedanken Pensionierten-Profis mitteilte, meinten diese: Mit der Pensionierung beginnt doch die schönste Zeit. Genuss pur! Zum Beispiel: Die heranwachsenden Grosskinder verwöhnen. Reisen, Kino, Wandern. Abenteuer.
Langeweile war für sie etwas Unbekanntes. Jedenfalls liessen sie nichts anderes zu. Sicherlich waren meine Fragen auch Fragen des Luxus in Anbetracht, dass mir Rente und AHV ein angenehmes Leben gestatten.
Aber mit 64 Jahren fühlte ich mich einfach zu jung, um nichts mehr zu tun. Ich sehnte mich nach Herausforderung. Als Lesbe suchte ich die Nähe zu queeren Menschen. Menschen, die durch Ähnliches geprägt worden sind, wie zum Beispiel, dass die WHO ALLE als krank bezeichnete, die nicht heterosexuell lebten: Bis 1992 galt dies für Lesben und Schwule; bis 2019 für trans Menschen.
Ich suchte Menschen, die immer und immer wieder von Unverständlichem geprägt werden: Zum Beispiel, dass Saudi-Arabien den Zuschlag für die Durchführung der Fussball-WM 2034 erhielt, obwohl für Homosexualität die Todesstrafe gilt.
Oder der künftige US-Präsident Donald Trump unlängst ein Ende des «Transgender-Irrsinns» ankündigte. Nach Trump sollen trans Menschen aus Militär, Grund- und Mittelschulen sowie aus Gymnasien verbannt werden.
In einzelnen US-Staaten wird schon heute Menschen in Transition die Abgabe lebenswichtiger Hormone verweigert. Auch die gleichgeschlechtliche Ehe steht bereits auf dem Prüfstand. In Deutschland schreibt CDU/CSU in ihr Wahlprogramm, dass auf «Gendersprache» im öffentlichen Raum – an Schulen und Universitäten, im Rundfunk und in der Verwaltung – verzichtet werden soll.
Auch in der Schweiz greifen immer mehr Politiker:innen in Parteiprogrammen oder Vorstössen erfochtene, queere Rechte an und damit unsere Sichtbarkeit. Sie finden dabei erschreckend viele Anhänger:innen. Vor nicht einmal zwei Monaten wollten in der Stadt Zürich fast 43 Prozent der Wahlberechtigten das Verwenden des Genderstern abschaffen und damit auch die Sichtbarkeit unserer Vielfalt.
Die SVP, die erfolgreich am Stuhl von Viola Amherd sägte, warf ihr unlängst vor, dass sie sich «lieber mit Gender-Themen beschäftige als mit der Ausrüstung der Armee». Ende März tritt sie nun überraschend zurück. Dies hat sie vor 3 Stunden bekanntgegeben.
Rechte Parteien machen immer wie mehr Stimmung gegen die sogenannte Wokeness! Sie nennen Woke «Wahn, Irrsinn und Belehrung». Wer die Institution der deutschen Sprache, den Duden, konsultiert, findet darin die Definition: «Woke gleich <in hohem Mass politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung>.»
Was kann daran falsch sein? Durch das häufige Wiederholen von Wahnsinn im Zusammenhang mit «Woke» hat es seine ursprüngliche Bedeutung von engagierter Achtsamkeit verloren und wird nur noch als negativ ausgrenzend rezipiert. Kein Wunder, dass Gewalt gegenüber queeren Menschen jährlich zunimmt.
Laut dem jüngsten Bericht von Amnesty Schweiz von November 2024 hat in etwa «jede dritte queere Person in den letzten fünf Jahren körperliche oder sexuelle Übergriffe erlebt – die meisten Vorfälle wurden jedoch nie gemeldet». Weiter steht im selben Bericht: «Viele ziehen es aus Angst vor Anfeindungen vor, bestimmte Orte zu meiden.» Besonders gross sei diese Zurückhaltung im öffentlichen Raum.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass es Orte und Räume gibt, in denen die queere Lebensweise angstfrei gelebt werden kann. Wo gegenseitiges Unterstützen stärkend ist. Dafür setze ich mich inzwischen ein.
Seit 2016, ein Jahr nach der Pensionierung, engagiere ich mich innerhalb des Vereins queerAltern. Damit habe ich ganz persönlich etwas Sinnstiftendes gefunden, das mir und andern etwas bringt. Inzwischen bin ich bei queerAltern Vorstandsfrau und auch deren Präsidentin.
Wir setzen uns für die Anliegen queerer, älterer Menschen ein. Wir schaffen Lebensräume im Bereich Wohnen. Wir schaffen Räume fürs gegenseitige Vernetzen. Wir organisieren Veranstaltungen und schaffen dadurch Safer Spaces. Wir engagieren uns innerhalb der Gemeinschaft für die Gemeinschaft. Wir sind sichtbar. Wir sind Expert:innen, weil wir als queere Menschen wissen, was uns gut tut.
Den Verein queerAltern gibt es in Zürich seit 10 Jahren mit inzwischen über 520 Mitgliedern. In Basel gibt es den Verein seit 3 Jahren und in Bern seit einem Jahr. 2024 wurden wir mit dem Swiss Diversity Award ausgezeichnet. Wir sind Expert:innen im Ausgestalten unserer Räume. Denn in unseren Räumen stehen, im übertragenen Sinn, selten Erbstücke, so wie bei unseren heteronormativen Geschwistern.
Viele queere Menschen werden vom realen und vom sinnbildlichen Erbe oft ausgeschlossen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn queere Gemeinschaften nicht unterstützend wirkten, um tragfähige Netze, Räume zu schaffen. Dadurch entsteht Kraftvolles. Nicht nur für uns, sondern die gesamte Gesellschaft. Wir tragen dazu bei, dass diese offener ist. Doch wir müssen achtsam bleiben. Eine Gesellschaft, die bereit ist, Rechte von Minderheiten abzuschaffen, wird es dabei nicht bewenden lassen.
Und nun gelange ich zum Schluss. Um den Bogen zum Anfang zu spannen, komme ich nochmals zurück zu Spaziergang und Friedhof Sihlfeld. queerAltern hat 2023 zusammen mit anderen queeren Organisationen und dem Friedhof- und Bestattungsamt der Stadt Zürich einen weiteren Raum geschaffen, den es in dieser Form in der Schweiz noch nirgends gibt: Das Regenbogen-Grabfeld: Es ist ein Ort, benannt nach dem Symbol der queeren Gemeinschaft. Ein Ort, wo Verstorbene durch ihren Namen sichtbar bleiben.
Für alle queeren Menschen, die unsichtbar in dieser Gesellschaft an dieser Gesellschaft zerbrochen sind, soll es im Herbst 2026 zusätzlich einen Ort des Gedenkens und des SICH Erinnerns geben. Räume neu definieren, anders besetzen – dazu zähle ich unter anderem auch den Friedhof, den wir durch unser queeres Engagement neu denken. Im Sinn von: «Sich trauen. Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten.»
Nun bedanke ich mich bei allen fürs Kommen – unter ihnen auch meine Lebenspartnerin Doris. Sie alle haben mich durch meine Rede getragen. Danke. Den Raum dafür hat mir das Karla*-Team ermöglicht – einen Raum, den ich erst gar nicht wagte, einzunehmen und mit Worten zu füllen.
Vielen lieben Dank, auch dafür. Tragt euch Sorge. Wagt fremde Türen zu öffnen und neue Räume zu betreten. Noch einmal: Ein herzlichstes Danke an alle. Wir sehen uns gleich im Bistro, bei etwas Warmem.
Dies ist eine Medienpartnerschaft mit Karl der Grosse. Es fliesst kein Geld.
Alle Winterreden 2025 findest du fortlaufend hier zum Nachlesen
- Eve Moser: «Selbstbestimmtes Handeln ist ein unverzichtbarer Wert – auch für Menschen in Abhängigkeit. Warum sieht unser emotionaler Reflex das anders?», 13.01.2025
- Guy Krayenbühl: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken», 14.01.2025
- Barbara Bosshard: «Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten», 15.01.2025
- Sandra Betschart: «Das grosse Fussballfest nächsten Sommer in der Schweiz wird uns zeigen, wie weit der Frauenfussball in Europa ist. Hinsetzen und geniessen.», 16.01.2025
- Prof. Dr. Christoph Sigrist: «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers.», 17.01.2025
- Jonas Pai: «80 junge Menschen haben ausgearbeitet, wie wir die psychische Gesundheit der Schweizer Jugend verbessern können. Die Umsetzung benötigt nun die Hilfe aller!», 20.01.2025
- Dina Pomeranz: «Die Welt verbessert sich dank der vielen Menschen, die sich dafür engagieren.», 21.01.2025
- Karin A. Wenger: «Wie genau, und wie lange, wollen wir wirklich hinschauen?», 22.01.2025
- Malik El Bay: «Digitalisierung formt die Gesellschaft. Doch wie stellen wir sicher, dass die Gesellschaft die Digitalisierung formt?», 23.01.2025
- Mandy Abou Shoak: «Sicherheit durch Frieden und Gleichheit durch Solidarität», 24.01.2025
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