Streit im Strassenverkehr: Wenn das Auto zur Waffe wird

Immer wieder kommt es auf Schweizer Strassen zu Konflikten: Wenn die Spiesse ungleich lang sind, wie das bei Automobilist:innen und Velofahrer:innen der Fall ist, kann das schwerwiegende Konsequenzen haben. Proaktiver Gestaltungswille seitens der Behörden könnte laut unserem Mobilitätsexperten Thomas Hug die Situation entschärfen.

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Das Auto: Eine Waffe auf vier Rädern? (Foto: Unsplash)

Ein Hinweis vorweg: Wahrscheinlich seid ihr alle nicht mitgemeint. Die Mehrheit von euch, die überhaupt noch Auto fährt, ist sich bewusst, dass damit eine besonders rücksichtsvolle Fahrweise gefordert ist. Denn beim kleinsten Fehler und der kürzesten Unaufmerksamkeit besteht die Gefahr, dass Menschen verletzt werden. 

Mehrere Vorkommnisse in den letzten Wochen zeigen aber: Dieses Bewusstsein scheint einigen Mitmenschen in der Blechbox vermehrt abhanden zu kommen. So wurden an einem Wochenende zwei Velofahrende verfolgt und angefahren, nachdem es zu Diskussionen gekommen war. Auch wenn es mir schon immer ein Rätsel war, wie man in einer Stadt entspannt Autofahren kann – eine allfällige Verspannung im Verkehr sollte sich nie in Gewalt entladen.

Und trotzdem schleicht sie sich immer mehr in den Alltag auf den Strassen ein. Auf Twitter erzählen verschiedene Menschen über ihre Erlebnisse. Unter dem Hashtag #motorisierteGewalt ist daraus fast schon eine internationale Selbsthilfegruppe gewachsen. Dabei sind Drängeleien und Unaufmerksamkeit noch das geringste Übel. Berichte über mutwilliges «Abschiessen» und haarsträubende Verfolgungsjagden von Velofahrenden sind keine Seltenheit.

Auch aus Zürich berichten Menschen von ihrem Alltag im Strassenverkehr. Dabei steht die Stadt nicht besonders gut da. Wer hier in seinem Umfeld das Thema «motorisierte Gewalt» anspricht, bekommt Dutzende Erlebnisse erzählt. Die meisten tauchen in keiner Statistik auf, denn auf eine Anzeige wird fast immer verzichtet. Es sei ja nichts Ernstes passiert. Deshalb gibt es auch kaum belastbare Zahlen zur Problematik.

«Der Verkehrssicherheit wäre mit proaktivem Gestaltungswille mehr geholfen als mit reaktiver Juristerei.»

Thomas Hug

Kern des Problems: Velofahrende und andere Verkehrsteilnehmende werden «entmenschlicht». Das bedeutet, dass sie nicht als ebenbürtige Menschen wahrgenommen werden und Aggressionen so einfacher fallen. Dadurch wird ihr Recht auf menschliches Wohlbefinden nicht vollständig anerkannt. Dies kann sogar soweit gehen, dass eigene Probleme auf andere Verkehrsteilnehmende projiziert werden und man so zum Sicherheitsrisiko im Verkehr wird.

Wer wiederkehrend spürt, dass Emotionen im Strassenverkehr überhandnehmen, sollte sich möglicherweise Hilfe suchen, bevor man die Kontrolle verliert, so ein Verkehrspsychologe. Auch der Wechsel auf ein anderes Verkehrsmittel könne helfen, Aggressionen abzubauen und das Verständnis für andere zu verbessern. In verschiedenen Ländern werden deshalb zum Beispiel Busfahrer:innen auf das Velo gesetzt, um zu lernen, wie es sich anfühlt, von einem Bus überholt zu werden.

Doch auf psychologische Selbsteinsicht können wir wohl kaum zählen. Welche wirksame Massnahmen bleiben im Kampf gegen motorisierte Gewalt? Die naheliegendste Antwort: Konflikte vermeiden. Und da ist primär die Stadt gefordert. Eine sichere Infrastruktur, die möglichst konfliktfrei befahrbar ist, sorgt für weniger Ärger. Dazu gehören beispielsweise abgesetzte Velowege, die nicht von Autos befahren werden können. Leider zeigt sich die Stadt in dieser Sache noch uneinsichtig und baut lieber Velowege ab, wie es an der Kornhausbrücke oder der Badenerstrasse geplant ist.

Es dürfte also noch dauern mit der Infrastruktur. Bis dann gilt: Ruhe bewahren, sachlich auf die eigene Perspektive hinweisen – und die eigene Sicherheit nicht vergessen. Wenn es einmal zu einer versuchten Tätlichkeit kommen sollte, darf auch die Polizei eingeschaltet werden. Der Verein «Velorution» hat eine hilfreiche Rechtsübersicht zusammengestellt, was bei einer Anzeige zu beachten ist.

Ja, das ist ein Armutszeugnis für unsere Verkehrskultur. Denn der Verkehrssicherheit wäre mit proaktivem Gestaltungswille mehr geholfen als mit reaktiver Juristerei. Ob absichtlich oder nicht – auf Schweizer Strassen sterben jährlich rund 250 Menschen. Kein Wunder nennt das deutsche Magazin «Der Spiegel» das Auto inzwischen gar die «Jedermann-Waffe». Denn kein Verkehrsmittel ist tödlicher als das Auto. Und daran ändert auch eine Anzeige nichts, sondern nur der politische Wille zur Veränderung.

Thomas Hug

Thomas Hug ist Verkehrsplaner und Stadtentwickler bei urbanista.ch und engagiert sich für zukunftsfähige Lebensräume – stets auf der Suche nach dem richtigen Gleichgewicht von Arbeit, Aktivismus und Politik. Als Experte für Verkehrswende und nachhaltige, inklusive Mobilität versucht Thomas eine menschenzentrierte Sicht auf die Mobilität zu fördern. Er ist eher Generalist mit dem Blick auf das Ganze wie Spezialist mit dem Auge fürs Detail.

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