Weniger arbeiten, besser leben: Arbeitszeitreduktion als Weg zu Degrowth
Eine Reduktion der Arbeitszeit kann nicht nur die Lebensqualität steigern, sondern auch die Wirtschaft nachhaltiger gestalten. Weniger Arbeit bedeutet weniger Konsum und Ressourcenverbrauch – ein Schritt in Richtung Degrowth? Ein Gastbeitrag.
Die Arbeitszeit nimmt einen Grossteil unseres Lebens in Anspruch: Aktuell liegt die übliche wöchentliche Arbeitszeit in der Schweiz je nach Branche zwischen 38,5 und 42,5 Stunden. Wie aktuelle Zahlen der Gewerkschaft Unia zeigen, arbeiten die Schweizer:innen europaweit am meisten: durchschnittlich sind es 41,7 Stunden pro Woche.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in puncto Arbeitszeit wenig verändert, obwohl die Produktivität der Arbeitnehmenden weiterhin ungebremst ansteigt und sich der Arbeitsmarkt durch die Digitalisierung stark verändert hat.
Produktiv trotz 4-Tage-Woche
Die Wirtschaft scheint davon zu profitieren: Seit 1948 ist das Schweizer Bruttoinlandprodukt (BIP) um das rund 35-fache von 22 Milliarden auf 795 Milliarden Franken gestiegen. Doch auch Freizeit und unbezahlte Arbeit sind stark an unsere bezahlte Lohnarbeit angepasst worden: Gemäss Bundesamt für Statistik leisten Frauen durchschnittlich 50 Prozent mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer und arbeiten umgekehrt weniger gegen Lohn.
Dazu gehören auch unverzichtbare Aufgaben wie Waschen und Putzen, die jedoch hinter verschlossenen Türen im Privaten stattfinden. Für wirklich freie Zeit bleibt da nicht mehr viel übrig. Was würde denn passieren, wenn wir weniger für den gleichen Lohn arbeiten würden? Ist unsere 42-Stunden-Woche nicht ein längst veraltetes Konzept, das nicht mehr in unsere industrialisierte, globalisierte und technologisierte Welt passt?
Verschiedene Studien zeigen, dass unser Wirtschaftssystem bei einer 4-Tage-Woche – also einer Reduktion der Wochenarbeitsstunden auf 34 Stunden – nicht wie vielleicht befürchtet einbrechen, sondern auf fast demselben Niveau weiter bestehen würde. Dies liege hauptsächlich an der weiter gleichbleibenden oder gesteigerten Produktivität, welche die Arbeitnehmenden während der Arbeitszeit hervorbringen.
Auch kann man in diesem Kontext das Verhältnis zwischen geleisteter Arbeit und ihrer Entlohnung berücksichtigen: Schweizer Löhne sind nicht so stark angestiegen wie die Arbeitsproduktivität.
Weniger Konsum, mehr Freizeit
Aus gesellschaftlicher Perspektive würde mehr Freizeit dazu beitragen, dass mehr Zeit mit Familie, Freund:innen oder Aktivitäten verbracht werden kann, was wiederum alles Faktoren eines gesunden Lebensstandards sind.
Wer weniger arbeitet und mehr Zeit in Sorgearbeit, Do-it-yourself-Projekte und Sachen, die Freude bereiten, stecken kann, entlastet unser Wohlfahrtssystem auf mehreren Ebenen: weniger Gesundheitskosten, weniger institutionalisierte Pflege, eine umweltschonende Lebensweise und höhere Lebenszufriedenheit sind nur einige dieser Faktoren.
Eine konsequente Einführung der 4-Tage-Woche in allen Arbeitsbereichen setzt ausserdem den Grundstein für eine sozial gerechte Aufteilung von unbezahlter und Sorgearbeit sowie Haushaltsaufgaben und kann somit zu einer sozial gerechteren Gesellschaft führen.
Doch was hat eine reduzierte Arbeitswoche nun mit Degrowth zu tun, wenn die Wirtschaft nicht direkt davon beeinflusst wird?
Durch die Entlastung des Wohlfahrtssystems und in der Annahme, dass es uns mit einer tieferen Zeitbelastung psychisch und physisch besser gehen würde, ist davon auszugehen, dass wir als Gesamtgesellschaft weniger konsumieren werden.
Langfristig wird das zu einer schrumpfenden Wirtschaft führen, ohne dass massenweise Arbeitslosigkeit zu befürchten ist. Gerade Berufe in besonders umweltschädlichen Bereichen oder Personen mit einer tieferen Bildung sind trotzdem stärker mit einem möglichen Arbeitsplatzverlust konfrontiert. Deshalb werden begleitende Massnahmen wie Umschulungen oder eine bessere Entlohnung von Sorgearbeit nötig sein, um eine sozial gerechte Transition sicherzustellen.
Alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit, also ökologische, soziale und wirtschaftliche Aspekte, werden also durch eine Arbeitszeitreduktion positiv beeinflusst. Wieso sollten wir also an diesem veralteten System festhalten, wenn es uns allen doch mit weniger Arbeit besser gehen würde und wir gleichzeitig die planetaren Grenzen eher einhalten können?
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1800 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei! Natürlich jederzeit kündbar!