Wohnungsnot: Die Migration verantwortlich zu machen, greift zu kurz

Dass Migration einen Einfluss auf den Schweizer Wohnungsmarkt hat, ist längst erwiesen. Trotzdem sind nicht Zuzüger:innen schuld an den hohen Mieten in Zürich. Ein Kommentar.

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An der St. Jakobstrasse wird ein ganzer Häuserkomplex für Apartments genutzt – laut Eigentümerschaft bereits seit den 60er-Jahren. (Foto: Isabel Brun)

Im Zürcher Kreis 4 geht ein Gespenst um. Eines, das ganze Häuser in Business-Apartments verwandelt. Seit bekannt ist, dass Google an der Müllerstrasse 16/20 einen neuen Standort beziehen wird, spriessen im Quartier am Stauffacher möblierte Kleinwohnungen wie Pilze aus dem Boden. Für Preise, die sich Normalverdienende kaum leisten können. Sieben Übernachtungen in einem der neu errichteten Studios des Unternehmens Nest Temporary AG an der Müllerstrasse 57 kosten 1373 Franken.

Dass viele der Apartments auch für künftige Google-Mitarbeitende attraktiv sind, lässt sich nicht leugnen. Zumindest für jene, die aus dem Ausland rekrutiert werden. Denn auf die Schnelle findet in Zürich kaum mehr jemand eine Mietwohnung. Business-Apartments decken die Nachfrage nach Wohnraum ausländischer Arbeitnehmender, gleichzeitig schmälern sie das Angebot «normaler» Wohnungen. Der freie Markt ist gnadenlos. 

Tatsächlich zeigt eine aktuelle Studie von Forschenden des Bundesamts für Statistik, der Universitäten Freiburg (Schweiz) und Hohenheim (Deutschland), dass die Migration einen Einfluss auf die Immobilienpreise und Mietkosten in der Schweiz hat. 

So hat sich durch die Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 gemäss den Autor:innen nicht nur die Zuwanderung beschleunigt, sondern es sind seither auch mehr Menschen aus EU-Ländern statt aus Drittstaaten, also Ländern, die nicht der EU oder dem Schengen-Raum angehören, eingewandert. Und diese hätten in der Regel auch höhere Einkommen – und somit auch höhere Wohnansprüche. 

Von «guten» und «schlechten» Ausländer:innen

Die Schlussfolgerung, dass die Migration bei der Wohnungsnot in Zürich eine Rolle spielt, ist also nicht ganz falsch. Zu sagen, dass sie die Krise verantwortet, greift jedoch viel zu kurz. Denn nur, weil sich Google-Mitarbeitende teure Wohnungen leisten können, sind sie nicht schuld daran, dass diese existieren. Sie tragen ebenso wenig eine Schuld daran wie Geflüchtete.

«Migrant:innen sind nicht schuld an einem System, das zu einem Grossteil der Marktlogik überlassen wurde.»

Es passt zur Widersprüchlichkeit der SVP und ihrer Rhetorik, dass gerade jene, die am meisten von Zuzüger:innen profitieren, gegen Ausländer:innen hetzen. Wie zum Beispiel der Geschäftsleiter der Nest Temporary AG, Philippe Aenishaenslin. Der SVP-Politiker aus dem Steuerparadies Hergiswil im Kanton Nidwalden macht aus seiner Meinung kein Geheimnis. Er sehe die Wohnungsknappheit als «Folge der offenen Grenzen», die durch die EU-Politik der SP befeuert werde, wird er in einem Beitrag vom Tages-Anzeiger zitiert. Dass eben diese Einführung der Personenfreizügigkeit massgeblich zu seinem Erfolg mit Business-Apartments beiträgt, scheint ihm entgangen zu sein. Wohl auch, dass einige hundert Meter von der Müllerstrasse entfernt Geflüchtete auf weniger als vier Quadratmetern pro Kopf in der ehemaligen Polizeikaserne hausen. 

Die Kategorisierung von «guten» und «schlechten» Ausländer:innen ist wohl so alt wie die Migration selbst und doch ist sie gerade in Zeiten, in denen wir alle um unseren Wohnraum bangen, fehl am Platz. Migrant:innen sind nicht schuld an einem System, das zu einem Grossteil der Marktlogik überlassen wurde: Nicht an Leerkündigungen, nicht an 11 Millionen schweren Häusern und auch nicht an Business-Apartments im Stadtzentrum. Ganz egal, aus welchen Gründen sie eingewandert sind.

Das Gespenst aus dem Kreis 4 mag viele Gesichter haben, wohl aber wird es seinen Spuk weiterführen. Solange, bis man ihm einen Riegel schiebt. 

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