Walk of Shame: 7 Dinge, für die sich die Textilbranche schämen sollte
Die Bahnhofstrasse ist nicht nur ein Paradies für Shoppingfans, sondern auch ein Ort voller Geschichten über Ausbeutung, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung. An einem Stadtrundgang gewährte David Hachfeld von Public Eye Einblick in die Textilindustrie.
Gemeinsam mit der NGO Public Eye organisierte Tsüri.ch vergangene Woche den «Walk of Shame». Dieser führte durch das teuerste Einkaufsviertel der Schweiz. Für einen historischen, sowie aktuellen Blick auf die Modewelt sorgte der Textilexperte David Hachfeld.
Nach rund eineinhalb Stunden beendete Hachfeld den Rundgang mit den Worten: «Das nachhaltigste Kleidungsstück ist das Kleidungsstück, das man nicht gekauft hat.» Geht es nach ihm, sollten wir die Rolle der Konsumierenden ablegen, um wieder verstärkt als Bürger*innen agieren zu können. Warum das nötig ist und in welchen Punkten sich die Textilindustrie schuldig macht, fasst die nachfolgende Liste zusammen:
1. Für ihre organisierte Verantwortungslosigkeit
Als H&M die globalen Märkte eroberte, veränderte sich das Geschäftsmodell der Textilbranche grundlegend. Modemarken wie H&M, Esprit oder Tally Weijl besitzen keine Fertigungsstätten. Sie entwickeln Designvorgaben und konzipieren Marketingmassnahmen, doch direkte Arbeitgeber*innen ihrer Produktionsbetriebe sind sie nicht. H&M lässt seine Kleider von 800 externen Zulieferern produzieren. Der Vorteil: Bei Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverschmutzung in den Zulieferbetrieben können die grossen Markenfirmen die Verantwortung von sich weisen. Schliesslich können sie ihre Zulieferer*innen lediglich darum bitten, sich an ihren Verhaltenskodex zu halten; gemäss Hachfeld geschieht dies oft mittels Anhängen in den Verträgen.
2. Für die Wegwerfmentalität, die sie fördern
Ein weiterer Aspekt moderner Geschäftsmodelle ist die starke Verschmelzung von Handel und Design. Während Warenhäuser wie Manor eine grosse Auswahl verschiedenster Marken führen, setzen junge Modefirmen ausschliesslich auf Eigenmarken und schlankere Prozesse. Fast Fashion Pionier ist Zara. Von Konzeption bis Produktion schafft es eine neue Kollektion binnen fünf bis sechs Wochen in die Filialen, wie der Experte ausführt. Durch den häufigen Kollektionswechsel und Marketing erzeugt Zara eine Dringlichkeit, die einen stetigen «Jetzt oder nie» Zustand erzeugt. Aufgrund dieser Strategie gehört Zara zu den ersten Modemarken, die auf klassische Werbung verzichten kann.
Marken wie Tally Weijl oder Primark setzen derweil auf noch kurzweiligere Moden, deren billiger Preis und oft geringere Qualität Konsument*innen dazu motiviert, für jeden Anlass etwas neues zu kaufen. Das Ergebnis: 10 bis 20 Prozent unserer Kleidung bleibt heute ungetragen im Schrank hängen und die Anzahl der Tage, an denen man ein Kleidungsstück vor seiner Entsorgung trägt ist um ein Drittel gesunken.
3. Für ihre Produktionsstandorte und die Not, auf der sie bauen
Was viele nicht wissen: Zürichs Reichtum beruht auf der Seiden- und Textilindustrie, die im 15. Jahrhundert ihren Ursprung fand und bis Anfang des letzten Jahrhunderts 60 bis 70 Prozent der Schweizer Exporterlöse ausmachte. Laut Hachfeld profitierte die Textilindustrie schon damals von Menschen, die in ihrer Not nicht auf andere Jobs ausweichen konnten. Schlecht bezahlte Heimarbeit für die Textilindustrie wurde für viele arme Bauernfamilien in der Schweiz alltäglich, insbesondere Frauen und Kinder schufteten hart.
Auf den gleichen Abhängigkeitsverhältnissen beruht auch die heutige Textilindustrie. In Bulgarien verdienen Arbeiter*innen 300 Franken im Monat, rechnet Public Eye die Überstunden heraus, sind es unter 200. Für ein einfaches Leben in Würde bräuchte es jedoch 1400 Franken, rechnet Hachfeld vor. Ein fairer Lohn liege dabei nicht unbedingt beim staatlich festgelegten Mindestlohn. Auch Staaten liessen sich durch das Drohpotential grosser Modefirmen unter Druck setzen. Diese haben mehrfach bewiesen, dass sie ihre Produktionsstätten verlagern, sollten sich die monetären Produktionsbedingungen verändern. Das neueste Domizil für die Textilproduktion liegt nach Asien nun in Afrika. Laut eigenen Angaben von H&M verdienen Arbeiter*innen in Äthiopien nur 44 Dollar im Monat. Das Erschütternde: Dieser Lohn liegt sogar weit unter der von der Weltbank verwendeten absoluten Armutsgrenze von täglich 1.90 Dollar pro Person – 58 Dollar bräuchte es, um alleine diese zu erreichen.
4. Für ihre Hauptzielgruppe: Junge Frauen
Sowohl auf Konsument*innen-, als auch auf Arbeiter*innenseite stehen vor allem junge Frauen im Zentrum der Textilbranche. Im globalen Norden sind junge Konsument*innen Hauptzielgruppe glänzender Konsumtempel, die Mode in Freizeitvergnügen verwandeln. In sexistischen Werbekampagnen wird ihnen zudem das Gefühl vermittelt, nur mit gängigen Schönheitsidealen mithalten zu können, indem sie konsumieren.
In den Produktionsstätten des globalen Südens sind nach Schätzungen von Public Eye 80% der Arbeiter*innen Frauen. Doch auch hierzulande zeigt sich der Handel weiblich. Immer mehr junge Frauen arbeiten als Aushilfskräfte zu einem deutlich niedrigeren Lohn als Fachpersonen und verdrängen damit ausgebildetes Verkaufspersonal. Betritt man wiederum das mittlere Management, wendet sich das Bild hin zum weissen Mann. Die strukturelle Benachteiligung von Frauen kommt, so Hachfeld, in der Textilbranche besonders zum Tragen.
5. Für die gesundheitsschädlichen und lebensbedrohlichen Arbeitsbedingungen
Die Katastrophe von Rana Plaza, bei der im Jahr 2013 1138 Menschen getötet wurden, hat uns auf dramatische Art und Weise vor Augen geführt, welchen lebensbedrohlichen Risiken Arbeiter*innen in der Textilproduktion ausgesetzt sind. Doch auch ohne einstürzende Bauten kämpfen Menschen täglich mit den Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken. Zwei Drittel aller kambodschanischen und ein Drittel aller indischen Arbeiter*innen gaben in einer Untersuchung von Public Eye zu H&M-Zulieferern an, während der Arbeit in Ohnmacht gefallen zu sein.
6. Für die massive Umweltbelastung
Die Textilindustrie ist und war schon immer ein dreckiges Geschäft, so Hachfeld. Hohe Emissionen, weite Transportwege, immenser Wasserverbrauch, intensiver Einsatz von Chemikalien, grossflächige Monokulturen – die Textilbranche sorgt für zahlreiche Umweltschäden, die nicht in die Preise unserer Textilien eingerechnet werden.
7. Für den Reichtum ihrer Besitzer*innen und Aktionär*innen
H&M erzielte 2018 einen Umsatz von 20 Milliarden Dollar und einen Gewinn von 1,5 Milliarden, so Hachfeld. Betrachtet man die Forbes Liste der reichsten Menschen der Welt, finden sich allein unter den Top 10 drei Männer, die ihren Reichtum u.a. mit Textilien erwirtschaftet haben. Auf Platz 1 mit 131 Milliarden US-Dollar Amazon-Gründer Jeff Bezos, auf Platz 4 mit 76 Milliarden US-Dollar Bernard Arnault, Präsident des Luxusgüter-Konzerns LVMH (u.a. Louis Vuitton) und auf Platz 6 Amancio Ortega, Inhaber von Zara, mit 62,7 Milliarden.
Und nun – was können wir tun? Der naheliegendste Gedanke: Wir müssen nachhaltige Konsum-Alternativen finden. Der sinnvollere Weg: Wir müssen anfangen ehrlich zu uns zu sein, unsere Konsummotivationen grundlegend hinterfragen und uns gegen die Einflüsse der Modeindustrie wappnen.
«Wer die Lösungen im Konsum selbst zu finden versucht, läuft Gefahr ein Grüner Materialist zu werden», so Dr. Pia Furchheim, Konsumforscherin an der ZHAW. Sie sagt, dass aktuell noch ein falsches Verständnis von Nachhaltigkeit vorherrscht. Viele wählen Konsum als Mittel zum Zweck und übersehen worum es eigentlich geht: «Nachhaltigkeit heisst nicht grün zu konsumieren, sondern sich vom Materialismus zu lösen».
Die Leitfrage eines*r aufgeklärten Konsument*in lautet also nicht «Ist das nachhaltig?», sondern «Brauche ich das wirklich?». Stellt man diese Frage ins Zentrum der Modewelt, weitet sich das eigene Handlungsspektrum enorm: Wir können unseren Konsum reduzieren, unsere Teil- und Tauschbereitschaft erhöhen, mehr Achtsamkeit im Umgang mit Kleidungstücken aufbringen, die Nutzungsdauer verlängern, einen wirklich eigenen Geschmack ausbilden, der immun gegen Trends macht und – besonders entscheidend – unsere Identität nicht länger über unseren «Style», sondern wieder vermehrt über schöne Handlungen, kluge Worte und eine gesunde Portion Haltung definieren.
Alle Bilder: Elio Donauer
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