Das war die Pitch-Night zum Fokus Degrowth
Die Degrowth-Bewegung plädiert für einen radikalen Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft. Doch wie kann eine schrumpfende Wirtschaft überhaupt funktionieren? Sieben Expert:innen gaben an der Pitch-Night Antworten.
Degrowth – ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Auf Deutsch auch als Postwachstum bekannt, steht dieses Konzept für eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaft und Gesellschaft. Anstelle eines ungebremsten Wachstums, das die ökologischen Ressourcen erschöpft und die sozialen Ungleichheiten verstärkt, verfolgt Degrowth das Ziel eines guten Lebens für alle.
Im Mittelpunkt stehen Werte wie Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation. Die Menschheit wird dabei als integraler Bestandteil des planetaren Ökosystems verstanden – nicht als dessen Nutzniesser. Doch wie realistisch ist diese Idee? Wie kann ein postwachstumsorientiertes Zusammenleben in Zürich und der Schweiz erreicht werden?
An der Pitch-Night von Tsüri.ch haben sieben Expert:innen in je sieben Minuten versucht, diese Fragen zu beantworten. Über 100 Personen haben den Pitches im Migros Museum für Gegenwartskunst gelauscht.
Irmi Seidl – Ökonomin an der WSL
«Ein neugeborener Hamster verdoppelt jede Woche sein Gewicht bis zur 18. Woche. Wenn er nicht aufhören würde, so zu wachsen, würde er zu seinem ersten Geburtstag so viel Getreide zum Fressen brauchen, wie die Welt in einem Jahr produziert», sagt Irmi Seidl, Ökonomin und Leiterin der Forschungsgruppe Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) an der ETH Zürich.
Exponentielles Wachstum gehe nicht unbegrenzt, sagt Seidl. Doch genau dahin würden wir abzielen. Stetiges Wirtschaftswachstum sei eine Fehlüberlegung, sagt Seidl, denn: Selbst wenn die Wirtschaft in absoluten Zahlen weiter wachse, könne es sein, dass das Wachstum stagniere oder gar sinke. Doch dieses Wachstum zehre an den Ressourcen unseres Planeten. Um laut Seidl die planetaren Grenzen zu berücksichtigen, braucht es eine ausreichend absolute Entkopplung des Wirtschaftswachstums von der Umweltnutzung. Alleine der CO2-Ausstoss in der Schweiz müsse um den Faktor 19 geringer sein, um diese Grenze zu unterschreiten. Seidl argumentiert, dass es grünes Wachstum also nicht geben könne und wir entsprechend nicht darauf setzen dürften, sondern vom Wachstum unabhängig werden müssten.
Anastasia Linn – Degrowth Switzerland
Als Leiterin des Projekts Postgrowth-Finance bei Degrowth Schweiz versuchen Anastasia Linn und ihr Team, das Konzept des Postwachstums in der Schweiz für die Allgemeinheit zugänglicher zu machen. Mit Events und Workshops zielen sie darauf ab, einen gerechten und partizipativen Prozess der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Transformation zu fördern, der die absoluten negativen Auswirkungen auf die Umwelt rasch auf ein nachhaltiges Niveau bringt.
Dazu sei eine Reduzierung des Material- und Energieverbrauchs nötig, aber nicht unbedingt ein Rückgang des Bruttoinlandproduktes, sagt Linn. So würden gewisse wirtschaftliche Sektoren durch die Degrowth-Bewegung ebenfalls wachsen: Nachhaltigkeit im Bauwesen und die Förderung von erneuerbaren Energien würden vorangetrieben, ebenso müsste das öffentliche Verkehrsnetz und Bildungseinrichtungen wohl ausgebaut werden.
Ondine Riesen – Ting Community
Würdest du dir auch gerne mal eine Auszeit nehmen, um eine Idee, ein Projekt, eine Vision zu verfolgen? Und warum tust du es nicht? Wenn es dir wie vielen anderen geht, liegt der Grund auf der Hand: Es ist nicht leicht, eine solche Periode finanziell zu überbrücken. Jetzt stell dir vor, du würdest für deine Auszeit bezahlt werden – klingt gut, oder?
Das passiert in der Ting Community. Hier zahlen monatlich 650 Mitglieder in einen Fond ein, der es möglich macht, sich persönlichen Projekten zu widmen. Basierend auf dem Solidaritätsprinzip kann jedes Mitglied einen Antrag auf finanzielle Unterstützung für ein bis sechs Monate beantragen. Die Community stimmt anschliessend darüber ab, ob dieses Geld gesprochen werden soll.
Ondine Riesen, Co-Founder der Ting Community, sieht darin enormes Potenzial: «Der erste Schritt in eine Richtung, deren Ziel noch unbekannt ist, ist Nährboden für existenzielle Ängste, meint Riesen. Mit ihrer Community schaffe sie Möglichkeiten, diesen Ängsten zu trotzen und Menschen in der Verwirklichung ihrer Visionen zu unterstützen.
Fred Frohofer – Autor und Suffizienzexperte
Fred Frohofer lebt in der Genossenschaft Kalkbreite – einem Ort mit kostendeckender Miete, intern organisierter Kita und Gemeinschaftsküche. In seinem Pitch sprach er über das Konzept der Commons: geteilte Ressourcen, die nicht dem Markt, sondern der Gesellschaft dienen. Er plädiert für nachbarschaftliche Strukturen von etwa 500 Personen, in denen gegenseitige Unterstützung den Konsum reduziert und ein gutes Leben für alle ermöglicht – durch geteilte Infrastruktur, kollektive Zeitersparnis und weniger finanzielle Zwänge. Suffizienz, sagt Frohofer, sei keine Einschränkung, sondern ein Weg zu mehr Freiheit.
Laut Frohofer basiert das heutige Wirtschaftssystem auf individuellem Besitz und ständigem Wachstum – beides Faktoren, die Ressourcen verschwenden und soziale Ungleichheiten verstärken. Sein Ansatz: Gemeinschaften, die sich aktiv organisieren und alltägliche Bedürfnisse gemeinsam decken, könnten ein belastbar und nachhaltiges Modell für die Zukunft sein.
Ob gemeinsames Kochen, geteilte Mobilität oder solidarische Netzwerke für Kinderbetreuung und Pflege – durch solche Strukturen liesse sich nicht nur Geld sparen, sondern auch die Lebensqualität steigern. Entscheidend sei dabei ein kultureller Wandel. Weg von der Vorstellung, dass individuelles Eigentum Wohlstand bedeute, hin zu einem Verständnis von Wohlstand als geteilte Fülle.
Norma De Min – Rethinking Economics Zürich
«Was lernen Ökonom:innen im Studium?», fragte Norma De Min das Publikum. De Min ist Mitglied bei Rethinking Economics Zürich. Dieser setzt sich für mehr Pluralität der Theorien und Methoden, mehr Interdisziplinarität, mehr Raum für kritische Diskussionen und für mehr Realitätsbezug ein.
Die Ökonomie habe sich zu einer Art Leitwissenschaft entwickelt. Denn Aussagen, die nach mehr Wachstum rufen würden – vor allem von Politiker:innen – würden nicht hinterfragt. Als ob die Wirtschaft nach Naturgesetzen funktionieren würde, sagte De Min. Angebot, Nachfrage, Marktgleichgewicht, Optimum seien Schlagwörter, die das Denken und Handeln der Wirtschaft prägen würden.
Laut De Min gibt es nur einen sehr kleinen, eindimensionalen Kanon in der Wirtschaftslehre, und zwar egal wo auf der Welt man studiert. Diese neoklassische Lehre solle überdenkt werden, denn obschon die Wirtschaftslehre zu den Sozialwissenschaften gehört, gebe es keine Fragestellungen, die man anhand unterschiedlicher Theorien erörtert würde.
Tom Stäubli – Cerca Research & Design Lab
Es gibt mittlerweile doppelt so viel Plastik auf der Welt wie die gesamte Masse der Tierwelt. Und das ist nur ein Teil des Problems. Schon 2020 überstieg die Menge an menschengemachtem Material – vor allem Beton und Baumaterialien – die gesamte Biomasse der Erde. Geht es in diesem Tempo weiter, könnte sich diese Menge bis 2040 verdreifachen. Ein unhaltbares Szenario, das uns zwinge, grundlegend umzudenken, sagt Tom Stäubli vom Cerca Research & Design Lab.
Stäubli plädiert für eine radikale Neuausrichtung: Systeme, statt Dinge zu gestalten. Das bedeute nicht nur Innovation, sondern auch Exnovation – also das bewusste Zurückbauen und Neudenken bestehender Strukturen. Weniger Output, mehr Zirkularität, ausgefeiltere Konzepte. Nur wenn das Verständnis von Wachstum und Fortschritt neu definiert werde, könnten die planetaren Grenzen respektiert und eine lebenswerte Zukunft gestaltet werden. Deshalb sei die Kundin des Cerca Research & Design Labs die Zukunft.
Dominik Waser – GRÜNE
Was verbindest du mit Wohlstand? Ein Einfamilienhaus erben oder in einer Genossenschaftswohnung zur Miete leben? Laut Dominik Waser von den Grünen bedeutet Wohlstand für viele Menschen etwas, das die Gesellschaft vorgibt: Viel Geld, Eigentum, Individualismus. Das Narrativ über Wohlstand, das in der Schweiz herrsche, müsse überdenkt werden, sagt Waser. Und da könne die Bevölkerung der Stadt Zürich einen Anfang machen: Der Konsum in Zürich sei riesig, das Medianeinkommen über 1300 Franken höher als der Schweizer Durchschnitt und entsprechend sei Wohlstand eng an finanzielle Unabhängigkeit geknüpft.
Die Angst, dass das Leben zusammenbrechen könnte, wenn die Wirtschaft aufhöre zu wachsen, sei jedoch enorm in jeder Person verankert, sagt Waser. Um dieses Verständnis von Luxus ablegen und das System neu zu denken, zeichnete Waser dafür ein gedankliches Bild mit vielen Zahnräder, die ineinander greifen. «Egal, an welchem Rad man dreht, alle anderen drehen mit und genau so müssen wir vorgehen, wenn wir strukturelle Änderungen vorantreiben wollen», sagte Waser.
Es gebe nicht die eine korrekte Antwort, wie dieses Ziel erreichen werden könne, vielmehr müssten alle an den Zahnrädern schrauben, die innerhalb der jeweiligen Möglichkeiten liegen würden. Nach Waser heisst dies: Arbeitszeiten verkürzen und dafür öfter zu Hause kochen und mehr Care-Arbeit leisten. Das alles schone Ressourcen, Geld und führe langfristig zu einem besseren Leben für alle.
Hier gibts die ganze Pitch-Night als Video zum Nachschauen.
Veranstaltungspartnerin: Migros Museum für Gegenwartskunst
Partner: Horus Stiftung, Stiftung Temperatio, WWF One Planet Lab
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