Fokus Degrowth: Wie viel Raum brauchen wir?
Je weniger Fläche wir zum Wohnen brauchen, desto besser ist es für die Umwelt. Ausserdem könnte es die Wohnungsknappheit mindern, sind sich Expert:innen sicher. An der Veranstaltung «BRIGHT» des Fokusmonats Degrowth stellten sie ihre Visionen vor.
Ukulele Klänge erfüllten den Raum in der Kulturbar «Gleis», während das Licht langsam gedämmt wurde. Als Ella Ronen zu singen begann, verstummten die Gespräche. Sie gab ein kurzes Konzert, bevor im Gleis im Kreis 5 über Postwachstum gesprochen wurde. Die Veranstaltung «BRIGHT – Dialog mit Format» am Mittwochabend war der zweite Anlass im Rahmen des Tsüri-Fokusmonats Degrowth. Die zentrale Frage des Abends: Wie viel Platz benötigen die Zürcher:innen zum Leben?
«Wie viel Wohnraum wir brauchen, ist vor allem eine politische Frage», eröffnete Stephanie Hering, die erste Speakerin des Abends, die Gesprächsrunde. Zusammen mit Christina Schumacher bildet sie das Kollektiv «Sofa*P». Die beiden bewegen sich im Feld der Architektur und Soziologie.
Darauf gebe es laut ihnen keine einfache Antwort, wie viel Platz wir brauchen. «Was wir als dicht erleben und ob wir Dichte gut finden oder nicht, hängt davon ab, ob wir sie wählen oder in Kauf nehmen müssen», sagte Schumacher. In der S-Bahn wünsche man sich eine ganz andere Dichte als zum Beispiel an einer Demo oder an einem Konzert – dort sei Dichte ein Qualitätskriterium.
«Teilen können vor allem die, die schon viel haben»
Und beim Thema Wohnen? Gerade im Vergleich zu anderen Schweizer Städten wie Genf oder Basel sei Zürich gar nicht so dicht besiedelt, weiss Hering. Der Grund, weshalb es sich zuweilen anders anfühle, sei, dass Zürich viele Arbeitsplätze im Vergleich zu Einwohner:innen habe, heisst, viele Leute pendeln für die Arbeit hierher.
«In Zürich gibt es aber auch viele Einpersonenhaushalte», ergänzte Schumacher. Viele Menschen, die alleine eine Küche und ein Bad benutzen. «Wenn wir an dieser Verbrauchschraube etwas drehen wollen, müssen wir Haushalte zusammenlegen oder Infrastruktur teilen», sagte Hering.
Teilen sei gar nicht so einfach, wie es scheint. Denn: «Teilen können vor allem die, die schon viel haben.» Verzicht sei eine Verlusterfahrung, die sich gar nicht alle leisten können, erklären die beiden und auf der Folie hinter ihnen stand: «Die meisten, die mit wenig Platz leben, tun das, weil sie müssen, nicht weil sie wollen.»
Und Schumacher erklärte: Auch das gemeinsame Nutzen von Räumen brauche Ressourcen wie Zeit und Energie, die man sich zunächst leisten können müsse. «Deshalb setzt ein sozialer Ausgleich voraus, dass wir zuerst mit offenen Karten darüber sprechen», schloss Hering den ersten Input ab.
Gemeinnütziger Wohnraum als Lösung
Als zweite Sprecherin trat die Architektin Claudia Thiesen auf die Bühne. «Wenn wir darüber sprechen, wie viel Raum wir zum Leben brauchen, müssen wir auch darüber sprechen, wem dieser Raum eigentlich gehört», sagte sie zu Beginn.
Denn die Immobilienbranche, die den Raum vermarktet, habe den Wohnraum schon lange als profitables Gut entdeckt. So würden derzeit vor allem Wohnungen mit einer hohen Quadratmeterzahl gebaut. «Grossflächig wohnen wird zum Statussymbol, das können sich aber längst nicht alle leisten», meint Thiesen, die sich seit mehreren Jahren mit platzsparendem Wohnen beschäftigt.
Auch darauf habe die Branche eine Antwort: Micro-Living. Also das Leben auf sehr kleiner Fläche, etwa in Mikroapartments. Doch auch bei solchen Wohnformen stelle sich die Frage, wie wir damit umgehen, wenn sich Bedürfnisse ändern, «wenn wir zum Beispiel eine Familie gründen wollen», führte sie dazu aus. Eine Möglichkeit böten etwa Genossenschaften wie die Kalkbreite oder «Kraftwerk1», die Wohnräume neu denken würden.
Dort gebe es viele verschiedene Wohnungen, grössere und kleinere für verschiedene Familienmodelle, «da können die Leute auch untereinander tauschen». Ausserdem seien Räume, die für die kollektive Nutzung vorgesehen sind, ausgelagert.
«Es braucht nicht jede:r sein eigenes Wohnzimmer, sondern das können wir gut teilen», so Thiesen. Dadurch würden auch die Mietkosten sinken, wenn man nicht alles alleine bewirtschaften und zahlen müsse. «Eigentlich haben wir das Problem gelöst, wenn wir mehr gemeinnützigen Wohnraum zur Verfügung stellen und die Menschen selber entscheiden können, wie sie den Raum nutzen wollen», beendete sie ihren Vortrag.
Nachbarschaften müssen durchmischt sein
Als letzter Referent sprach Hans Widmer. Er ist der Autor des Buches «bolo’bolo» aus dem Jahr 1983, in dem er alternative Wohn- und Lebensformen vorstellt. Ausserdem ist er Mitgründer der Genossenschaft Kraftwerk1.
«Ich habe mich gefragt, was der Begriff Wohnen überhaupt heisst», sagte er zu Beginn. «Wenn mich Ruedi fragt, ob ich heute Abend ins Kino komme, sage ich nicht ab, weil ich zuerst noch zwei Stunden wohnen muss.»
Was heisst also Wohnen genau? Ursprünglich sei es dabei um das Bedürfnis nach einer klimatisch geschützten Fläche gegangen.
Später sei es als Statussymbol dazu gekommen, «da kommt uns sofort Louis XIV in den Sinn, das riesige Schloss Versailles zeigt seinen Wohlstand», führte Widmer aus. Doch ein Zuhause sei auch ein Rückzugsort. «Früher musste man sich vielleicht vor allem von der physischen Arbeit erholen, heute ist die Arbeit eher intellektueller Natur», so der Autor.
Deshalb gehe es auch um die Frage, wie wir uns Zuhause am besten erholen können. Dafür brauche es durchmischte Nachbarschaften, die die Bedürfnisse nach Rückzugsort, aber eben auch dem Zusammensein erfüllen können.
«Wenn niemand in der Nachbarschaft die Ressourcen hat, gemeinschaftliche Strukturen am Laufen zu halten, macht das auch niemand», erklärte der Autor. Deshalb brauche es Personen verschiedener Altersgruppen, Einkommensschichten und kultureller Hintergründe.
Mit Widmers letzten Worten, wurde die Diskussionsrunde eröffnet. In Kleingruppen diskutierte das Publikum, was ihm nach den Inputs durch den Kopf ging. Die Veranstaltungs-Reihe «BRIGHT» (angelehnt an die Genossenschaft Kalkbreite), findet ab sofort jeweils am ersten Montag des Monats statt und wolle sich mit verschiedenen Themen befassen.
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Sofies Begeisterung für die Medienbranche zeigt sich in ihren diversen Projekten: Sie leitete den Zeitungs-Kurs im Ferienlager, für die Jungen Jorunalist:innen Schweiz organisiert sie seit mehreren Jahren das Medienfestival «Journalismus Jetzt» mit. Teilzeit studiert sie an der ZHAW Kommunikation. Zu Tsüri.ch kam sie zunächst 2022 als Civic Media Praktikantin. 2024 kehrte sie dann als Projektleiterin und Briefing-Autorin zurück und momentan macht sie als erste Person ihr zweites Tsüri-Praktikum.