Nach Angriffen von Rechtsextremen: Weshalb Opfergruppen Verbündete brauchen
Im letzten halben Jahr kam es in der Stadt Zürich zu mehreren Übergriffen aus der rechtsextremen Szene – unter anderem im Tanzhaus. Die verantwortliche Gruppierung gab sich daraufhin erstmals öffentlich zu erkennen. Ein Novum, das laut Expert:innen nicht nur bezeichnend für die Polarisierung in der Schweizer Politik ist, sondern auch die Wichtigkeit von zivilgesellschaftlichem Engagement ins Zentrum rückt.
Sie verkörpern das Schwiegersohn-Image, gehen gerne wandern, loben auf ihren Social Media Kanälen den Gruppenzusammenhalt und ihre Heimat, die Schweiz. Würden sie nicht regelmässig wegen Aktionen und Übergriffen auffallen, könnte es sich bei der Jungen Tat durchaus auch um eine harmlose Pfadfindergruppe handeln. Doch der Schein trügt. Das wurde aus Fachkreisen in der Vergangenheit immer wieder bestätigt. «Hier sind Rechtsextreme am Werk. Militante Rechtsextreme mit Nazi-Symbolik», schrieb der Rechtsextremismus-Experte und SRF-Journalist Daniel Glaus Anfang November letzten Jahres.
Dass zwei Köpfe der Jungen Tat nach einer Störaktion gegen eine queerfeministische Veranstaltung mit Kindern im Zürcher Tanzhaus unvermummt in einem Video auftraten, liess nicht nur die Medien und die Politik aufhorchen. Es zeige vor allem eines, so Dirk Baier, Leiter am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW): «Die Junge Tat wähnt sich mit ihren Positionen anschlussfähig an konservativ denkende Personen oder Parteien; sie verortet sich damit auf den Boden demokratischer Positionen.»
Eine Entwicklung, unter welcher in erster Linie die Feindbilder von Rechtsextremen leiden würden: Minderheiten wie Queers, Migrant:innen, People of Color oder Frauen, sagt Judith Bühler, die zusammen mit Baier an der ZHAW zu Themen wie gesellschaftliche Radikalisierung und Hass im Internet forscht.
Doch wie kommt es, dass in einer Demokratie wie der unseren menschenfeindliches Gedankengut, wie es unter anderem von Rechtsextremen verbreitet wird, plötzlich von so vielen Teilen der Gesellschaft akzeptiert wird?
Hass beginnt im Netz
Einen Einflussfaktor sieht Bühler in der heutigen Internetnutzung: «Durch den niederschwelligen, jederzeit verfügbaren und teils anonymen Zugang fällt es den Menschen leichter, sich zu einem Diskurs zu äussern. Jede:r kann seine Meinung im interaktiven Internet im Netz kundtun. Man spricht dabei vom ‹demokratischen Potential des Internets›.» Das sei auf der einen Seite gut, weil dadurch mehr Betrachtungsweisen sichtbar würden. Andererseits führe es auch dazu, dass Menschenfeindlichkeiten einfacher veröffentlicht und verbreitet werden könnten.
«Unsere Gesellschaft veränderte sich durch den Einfluss des interaktiven Internets extrem schnell.»
Judith Bühler, Forscherin am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW
Aktuelle Studien zeigen, dass die Internetnutzung auch negative Aspekte der Meinungsfreiheit befeuert. So hat die sogenannte Hate Speech – also menschenverachtende Aussagen gegen bestimmte Gruppen – laut einer Analyse der ZHAW aus dem Jahr 2021 im Internet in den letzten Jahren stark zugenommen. Soziale Medien und Kommentarspalten von etablierten publizistischen Medien seien dabei eine beliebte Verbreitungsform von Hass gegen bestimmte Gruppen von Menschen.
In Zahlen gesprochen bedeutet das, dass über die Hälfte aller 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz im Zeitraum eines Monats in Kontakt mit Hassbotschaften kommt. Und auch in Bezug auf die Opfergruppen gibt die Studie ein klares Bild ab: 90 Prozent der Befragten gaben an, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, Politiker:innen, Muslim:innen, Geflüchtete oder politische Andersdenkende betroffen seien. Auch weiblich gelesene Personen sind im Netz öfter Hassbotschaften, die sich auf ihr Aussehen beziehen, ausgesetzt als andere Gruppen.
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Bühler erstaunen diese Ergebnisse nicht. Im Gegenteil: «Es ist die logische Folge, wenn sich die Kommunikation in den immer verfügbaren medialen Raum verlagert. Zumal in diesem auch der Zugang zu Andersdenken jederzeit unerwünscht oder erwünscht möglich ist. Die Sichtbarkeit der gruppenspezifischen Menschenfeindlichkeit kann den Weg für Hate Crimes im realen Leben ebnen und den Prozess der Radikalisierung fördern.»
«Klare Verhältnisse schaffen Orientierung»
Was sich im Internet durch Hate Speech äussert, sei jedoch auch auf andere Veränderungen zurückzuführen, so Bühler: «Unsere Gesellschaft veränderte sich durch den Einfluss des interaktiven Internets in den letzten zehn bis 15 Jahren extrem schnell. Nehmen wir das Beispiel des sozialen Geschlechts: Bis vor einigen Jahren war das binäre Geschlechtersystem als alleinige Norm etabliert und sichtbar. Es war klar: Wir unterscheiden zwischen Mann und Frau. Und nun soll es plötzlich mehr als zwei Geschlechter geben? Das ist für bestimmte Gruppen verunsichernd – ihr gesamtes Weltbild, ihre Regeln und ihr Orientierungsrahmen wird in Frage gestellt. Es geht um nichts weniger als um ihre Identität.»
Gleichzeitig weiss man laut Bühler aus Untersuchungen, dass Menschen klare Verhältnisse suchen, da diese helfen, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden. Fehle die Orientierung, würden verunsicherte Menschen sich deshalb eher einer Bewegung anschliessen, die einen klaren, bekannten Rahmen bietet.
Dass es in Krisenzeiten zu einer Polarisierung der Gesellschaft kommt, sei deshalb keine zufällige Erscheinung, sondern ein Ergebnis der zunehmenden Verunsicherung und des gefühlten Kontrollverlustes. «Hinzu kommt, dass immer, wenn es um Gleichberechtigung zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen geht, an den Machtpositionen von privilegierten Gruppen gerüttelt wird», sagt Bühler. Eine Kombination, die eine Demokratie vor grosse Herausforderungen stelle sowie radikalen Gruppierungen in die Hände spiele.
Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft
Obwohl Rechtsextremismus in Europa in den letzten Jahren zugenommen hat und rechtsextreme Gruppierungen vermehrt versuchen, ihre Ideologien mehrheitsfähig zu positionieren, stellt Dirk Baier klar: «Wir dürfen die Aktionen der Jungen Tat nicht gleich als Anzeichen für einen Rechtsruck der Schweiz Gesellschaft verstehen.» So hätten Befragungen der ZHAW zu rechten Einstellungen in der Bevölkerung gezeigt, dass diese in der Gesellschaft rückläufig seien, so Baier.
Derzeit sei jedoch zu beobachten, dass die Gesellschaft, wie auch die politischen Akteur:innen, um ihre Position zu neuen Themen wie Queerness, Klimakrise oder den Krieg in der Ukraine ringen würden. «In diesem Ringen werden vor allem Extrempositionen gehört», erklärt der Forscher. Ihm zufolge ist es entscheidend, dass Positionen, die von rechtsextremen Ideologien durchsetzt sind, auch als diese entlarvt werden: «Es werden menschenfeindliche Haltungen wie Homophobie, Queer- oder Ausländerfeindlichkeit vertreten; es wird das Narrativ des ‹grossen Austauschs› bemüht; es wird Gewalt toleriert – all dies ist weit weg von demokratischen Prinzipien», sagt Baier. Die Schweizer Gesellschaft müsse deshalb klare, demokratische Haltungen zu diesen Themen beziehen, damit sich die Junge Tat wieder in ihr «anonymes Schneckenhaus» zurückziehe.
«Die Junge Tat setzt ihre Charmeoffensive in Richtung SVP fort. Ich hoffe, dass die Partei dies endlich merkt und sich distanziert.»
Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW
Umso erschreckender sei deshalb die Reaktion vonseiten einiger SVP-Politiker:innen auf den Übergriff im Zürcher Tanzhaus gewesen: So versuchten beispielsweise die Stadtzürcher Gemeinderäte Samuel Balsiger und Stephan Iten mittels eines Postulats die Veranstaltung künftig zu verbieten, weil die «radikalfeministische Drag Show ‹Drag Story Time›, die sich an Kinder ab drei (!) Jahren richtet und sie anregt, ihre Geschlechtsidentität anhaltend veränderbar zu halten» mit Steuergeldern finanziert wird. Zwar zogen die beiden SVP-Politiker den Vorstoss einige Wochen später wieder zurück, nutzten jedoch die Budgetdebatte von Mitte Dezember, um einen neuen Versuch zu starten. Der letztlich ohne Erfolg blieb.
Dass sich die SVP für die Sache einer seiner Einschätzung nach rechtsextremen Gruppierung einspannen lässt, ist laut Baier problematisch, zumal die Junge Tat mit einer weiteren Aktion auf dem Basler Bahnhof Ende Dezember ein weiteres Kernthema der SVP aufgegriffen hat: Die restriktive Asylpolitik. «Damit setzt sie ihre Charmeoffensive in Richtung SVP fort. Ich hoffe, dass die Partei dies endlich merkt und sich distanziert.» Auch sie müsse sich für die Grundfreiheiten in einer Demokratie einsetzen.
Der Kampf aller
Es sei ein wichtiges Zeichen gewesen, als sich die Stadt Zürich und alle Parteien – ausser der SVP – geschlossen gegen den Angriff der Jungen Tat im Tanzhaus öffentlich äusserten, sagt auch Judith Bühler: «Die Politik ist ein zentrale Akteurin im Kampf gegen Extremismus.»
Seit dem Vorfall wurden im Stadtzürcher Parlament verschiedene Vorstösse eingereicht, die das Thema Rechtsextremismus aufgreifen: So sollen beispielsweise Mitarbeitende der Stadt Zürich regelmässig verpflichtende Weiterbildungen durch Fachpersonen mit Fokus auf die Bereiche Prävention, Erkennung und Intervention durchgeführt werden. Ein anderes Postulat fordert eine Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagne für die Zürcher Stadtbevölkerung, um sie über die Gefahren und Strategien von Rechtsextremismus zu informieren und auch in den Stadtzürcher Volksschulen soll das Thema noch intensiver bearbeitet werden.
Neben den politischen Forderungen gab es auch aus der Zivilgesellschaft Stimmen, die sich nach den Störaktionen im Tanzhaus im Oktober sowie am Pride-Gottesdienst im Juni 2022 zu den Machenschaften der Jungen Tat äusserten. «Wir wollten etwas gegen unsere Ohnmacht tun», sagt ein Gründungsmitglied des Instagramkanals Queere Tat, das aus Schutzgründen lieber anonym bleiben möchte. Die Inhalte auf dem Profil wirken witzig, wie eine Parodie. Doch es gehe nicht darum, sich über Rechtsradikale lustig zu machen, sondern vielmehr darum, ihre Inhalte zu «übersetzen», also etwas Destruktives in etwas Konstruktives umzuwandeln. «Deshalb führt unsere Domain auch zu einem Artikel über ein Aussteigerprogramm für Rechtsextreme.» Einen Versuch sei es wert. 1743 Menschen folgen mittlerweile dem Profil, nur knapp 300 weniger als dem Original.
Judith Bühler sieht im zivilgesellschaftlichen Engagement viele Chancen. «Es braucht alle, um effektiv gegen Extremismus vorzugehen: Die Politik, die Gesetze macht; die Verwaltung, welche die Gesetze umsetzt; die Medien, die das Ganze einordnen und eben auch die Zivilgesellschaft, die sich für das Zusammenleben, für Vielfalt und für Minderheiten stark macht.» Gerade letzteres sei entscheidend, denn vor allem als unterdrückte oder minderprivilegierte Gruppe sei man auf die Unterstützung privilegierterer Gruppen und Menschen angewiesen.
Deshalb pocht die Wissenschaftlerin darauf, dass aktivistische Initiativen – sei es von Queers oder anderen Minderheiten und ihren Verbündeten, sogenannten Allies – nicht in ihren eigenen Kreisen bleiben, sondern sich vernetzen und gemeinsam für Anti-Diskriminierung einstehen sollen. Und auch Dirk Baier betont: «Vor zwei Jahren hat sich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung in der Abstimmung dafür entschieden, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung Teil der Rassismusstrafnorm wird – dies darf nicht nur Symbolik bleiben, sondern die Bevölkerung muss aktiv einen Beitrag leisten.»
Unterschied Extremismus und Radikalisierung |
In den Medien werden Begriffe Extremismus und Radikalisierung oft als Synonyme verwendet. Sie bedeuten jedoch aus wissenschaftlicher Sicht nicht dasselbe. Radikalisierung ist ein Prozess, bei dem eine Person oder Gruppe immer extremere politische, soziale oder religiöse Bestrebungen annimmt, allenfalls bis hin zum Einsatz von extremer Gewalt, um ihre Ziele zu erreichen. Extremismus ist ein Zustand, in dem eine Person oder Gruppe den demokratischen Verfassungsstaat und seine Werte abwertet. Dabei werden die Menschenwürde sowie die Rechtsstaatlichkeit missachtet. Einher geht oft die Bereitschaft zur Gewalt. Mehr Informationen dazu, findest du unter diesem Link oder im untenstehenden Video der Schweizerischen Kriminalprävention. |