Tabu-Serie: Mittendrin, aber nicht immer dabei

«Hast du dich verletzt?», «Hattest du einen Unfall?», «Bist du betrunken?» Das sind Fragen, die mir die Menschen stellen, wenn sie mich durch die Zürcher Strassen laufen sehen. Das heutige Thema der Tabu-Serie: meine Gehbehinderung.

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Bild: Sonya Jamil

Unsere Gesellschaft kennt viele Tabus, wenn es um das Thema Gesundheit geht. In der Tabu-Serie porträtieren wir Menschen, die sonst nicht oft zu Wort kommen.

Ich habe von Geburt an eine Gehbehinderung namens Cerebralparese, abgekürzt CP. Diese macht sich bei mir in den Beinen bemerkbar, was zur Folge hat, dass ich beim Laufen hinke, Treppen ohne Geländer eine Herausforderung sind und ich vermutlich nie eine Karriere als Seiltänzerin anstreben sollte, denn meine Balance-Künste beschränken sich auf das Transportieren eines Glas Wassers von A nach B. Der Alltag hat seine Tücken, welche ich mittlerweile selbstständig meistere. Das war nicht immer so, aber alles von vorne.

Eine Kindheit im Kinderwagen

Meine Behinderung liess sich anfangs nicht so leicht erschliessen; Schliesslich war ich ein aufgewecktes Kind, redete gern und vor allem viel, nur schien ich nicht wie Gleichaltrige sitzen und laufen zu können. Damals noch im Irak, woher ich ursprünglich komme, setzten sich meine Eltern mit Ärzt*innen zusammen, denen das nötige Wissen fehlte. Als meine Familie und ich Ende der 90er Jahre in die Schweiz immigrierten, konnte ich immer noch nicht laufen. Damals war ich vier Jahre alt, und seit ich denken kann, sass ich entweder im Kinderwagen oder wurde von meinen Eltern getragen.

CP - kurz und knapp

Bei einer Cerebralparese ist das Nervensystem angegriffen und kann deshalb nicht die nötigen Signale aussenden, um den Bewegungsapparat richtig funktionieren zu lassen. Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff «infantile Cerebralparese» zum ersten Mal vom englischen Kinderarzt und Orthopäden William John Little beschrieben.

Schwangerschaftskomplikationen vor oder bei der Geburt, wie auch Sauerstoffmangel des Kindes, können zu einer CP führen. Die Folgen der Behinderung sind Motorikstörungen. Diese können in verschiedenen Formen auftreten, in den meisten Fällen zeigen sie sich durch Spastik; die Muskulatur des Körpers steht unter erhöhter Spannung, da das Verhältnis zu Anspannung und Entspannung nicht stimmig ist. Je nachdem, welche Hirnregion wie stark betroffen ist, zeigt sich die Behinderung an verschiedenen Körperstellen, wie zum Beispiel den Beinen, Armen oder an der Mimik. Auch eine beeinträchtigte räumliche Wahrnehmung kann einer CP zugrunde liegen. Die Behinderung hat viele Gesichter, aus diesem Grund lassen sich zwei Personen mit der gleichen Diagnose CP meiner Meinung nach nicht miteinander vergleichen.

Ich habe die Behinderung, wie bereits erwähnt, vor allem in den Beinen; meine Handarbeit- und Geometrielehrer*innen aus der Schulzeit würden an dieser Stelle sicher etwas anderes behaupten.

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In der Sonderschule SKB

Frisch in der Schweiz, fehlte es uns als Familie an den nötigen Sprachkenntnissen und mir an körperlicher Selbstständigkeit. Aus diesem Grund war es keine Option, mich in eine reguläre Volksschule zu schicken. Ich wurde demzufolge in die Schule für Körper- und Mehrfachbehinderte (SKB) in Wollishofen eingeschult. Menschen mit einer Beeinträchtigung in eine Sonderschule zu schicken, entsprach dem damaligen Zeitgeist; heutzutage wird viel mehr Wert darauf gelegt, solche Menschen in regulären Schulklassen zu integrieren, was ich sehr befürworte. Die SKB besuchte ich vom Kindergarten bis in die dritte Klasse, dann ging es für mich in die reguläre Volksschule, dazu aber später mehr. Der Fokus der Sonderschule lag primär auf verschiedenen Therapieformen wie Physio-, Psycho- oder Ergotherapie. Mithilfe zahlreicher Physiotherapiestunden, in denen auch ein Rollator involviert war, lernte ich im Alter von sieben Jahren laufen.

Der Weg zum heutigen Gangbild

Nun konnte ich endlich laufen; jedoch ging das mehr schlecht als recht. Mit meinem rechten Fuss lief ich aufgrund der starken Muskelspannung und der verkürzten Achillessehne auf Zehenspitzen. Der linke Fuss war eher unproblematisch, da er jedoch die Fehler des rechten ausgleichen musste, gestaltete sich das Gehen schwierig. Ich fiel mehr hin, als das ich lief.

Die Ärzt*innen versuchten mir damals ein besseres Gangbild zu ermöglichen. So trug ich zum Beispiel zur Stabilisierung Schienen an den Beinen; von meinem sechsten bis zehnten Lebensjahr wurde mir halbjährlich Botox in die Beine gespritzt, in der Hoffnung, dass es die Muskeln entspannen würde. Wenn das im Alter keine straffen Beine gibt, dann weiss ich auch nicht! Einige Male zeigte das Botox Wirkung und ich kam mit dem rechten Fuss dem Boden schon etwas näher. Nach etwa zwei Wochen verlor das Nervengift in der Regel seine Wirkung, manchmal zeigte sich überhaupt kein Ergebnis.

Im Alter von 12 Jahren wurde ich das erste Mal an beiden Beinen operiert. Die OP führte zu einer immensen Verbesserung des Gangbildes: Nun stand ich mit beiden Beinen am Boden und damit im Leben. 2015 folgte eine zweite Operation, die den Gang nochmals korrigieren sollte. Diese OP empfand ich als ernüchternd, da sie keine grosse Verbesserung hervorbrachte. Es sind zurzeit keine Eingriffe mehr geplant. Um fit zu bleiben, bleibt wie für andere auch, nur noch der Gang ins Fitnesscenter. Wichtig zu wissen: Ich spüre alles an meinem Körper, habe keine Schmerzen und muss der Behinderung wegen auch keine Medikamente nehmen.

Der Wechsel in die Regelklasse

Wie bereits erwähnt, besuchte ich bis zur dritten Primarstufe die Sonderschule SKB. Die Schule war klein und ein bunt gemischter Haufen; hier trafen 5-jährige Kindergartenkinder und 16-jährige Oberstufenschüler*innen aufeinander und sei es nur auf dem Schulhof oder dem Korridor. Die Schüler*innen waren grösstenteils stark beeinträchtigt, körperlich wie auch geistig. Die Lehrpersonen mussten dementsprechend den Schulstoff anpassen. Was es hiess, die Schüler*innen zu fördern, das definierte jede*r Lehrer*in anders: In der ersten Klasse motivierte mich man dazu, Kurzgeschichten zu schreiben. In der dritten Klasse lernte ich das kleine Einmaleins. Ich wusste, dass ich im Leben mehr konnte und wollte. Ab der vierten Klasse entschieden meine Eltern und ich, es in der regulären Volksschule zu versuchen, was auch funktionierte. Was für ein Erfolgserlebnis! Diese Primarschule befindet sich zufälligerweise im Kreis 4 und ist vermutlich einer der Gründe, wieso mir dieser Kreis so am Herzen liegt.

Neue Chancen

Der Wechsel in eine reguläre Schule war anfangs nicht leicht, aber dennoch das Beste, das mir passieren konnte. Zunächst musste ich lernen, wie man lernt; noch nie hatte ich zuvor Prüfungen geschrieben und irgendwie war alles so schnelllebig. Von meiner Familie und den jeweiligen Lehrpersonen wurde ich die Jahre hinweg jedoch immer sehr unterstützt. Mit einer Abneigung zu Mathematik, dafür aber viel Sprachgefühl, kam ich somit erfolgreich durch die Schuljahre. Auf die obligatorische Schulzeit folgte Lehrabschluss mit Berufsmaturität, was ein Studium mit sich führte und nun sitze ich bei Tsüri.ch und darf diesen Artikel schreiben. Wer hätte das gedacht?

Das Leben als Twentysomething

Mittlerweile bin ich 25 und lebe meinen Alltag mit all den Höhen und Tiefen einer Twentysomething. Ich habe eine eigene Wohnung, tolle Freund*innen und sogar ein Auto, welches ich durch einen Umbau des Gaspedals, wortwörtlich mit links fahre.

Mir ist bewusst, dass ich trotz und mit meiner Behinderung ein sehr freies und selbstständiges Leben führe und das weiss ich sehr zu schätzen. Dennoch muss ich fast täglich Kompromisse eingehen und mich fragen: Was kann ich mitmachen und wo liegen aufgrund der Behinderung meine Grenzen – und lassen sich diese erweitern oder muss ich sie schlichtweg akzeptieren? Hier die goldene Mitte zu finden, ist nicht immer leicht.

Die Tücken des Alltags

Joggen, Wandern, Klettern, Tanzen, Surfen, Skaten, Snowboarden, Velo-Fahren (!): Was für mich wie die Beschreibung eines durchschnittlichen Tinder-Profils klingt, ist für andere in meinem Alter purer Lifestyle. Aus irgendeinem Grund scheint jede*r ab Mitte 20 eins mit der Natur sein zu wollen und ist gerne outdoor. Das bin ich zwar auch, aber ich sehe mich weniger die Schweizer Berge erklimmen, sondern eher Cocktail-schlürfend in einer Rooftop-Bar.

Auch in den Ausgang gehe ich grundsätzlich gerne; wie es ist in High-Heels durch das Zürcher Niederdörfli zu stöckeln, weiss ich jedoch nicht. Stundenlang gemeinsam vor einer Bar stehen, am besten mit einem Getränk in der Hand, ist für viele der Inbegriff von Geselligkeit, mich bringt es jedoch ins Schwitzen. Da ich mich nicht auf mein Gleichgewicht verlassen kann, suche ich die Umgebung innerhalb der ersten paar Minuten nach einem Sitzplatz oder nach einer Wand zum Anlehnen ab; dann kann der Abend losgehen.

Wer mich nachts in einem Club über die Tanzfläche wirbeln will, merkt schnell, dass etwas nicht stimmt. «Bist du ein Roboter?», wurde ich schon gefragt oder «Bist du betrunken?» In solchen Momenten wäre ich es gerne.

Durch Europa stürzen

Es kann auch vorkommen, dass ich im Alltag hinfalle, weil ich das Gleichgewicht verliere oder stolpere. Die Stürze sind in der Regel unspektakulär – ich stehe dann einfach wieder auf – dennoch empfinde ich es als demütigend, schliesslich bin ich kein kleines Kind mehr.

Meine Freund*innen nehmen das gelassen; sie haben mir schon von allen gepflasterten Strassen Europas wieder aufgeholfen und sollte ich mal keine Lust haben, gleich wieder aufzustehen, setzen sie sich gemütlich zu mir auf den Boden. Eine helfende Hand steht bei zu hohen Bordsteinkanten immer bereit und eine Sitzgelegenheit haben sie schnell organisiert.

Keine Hilfsmittel gleich keine Behinderung

So viel Verständnis wie meine Freund*innen haben jedoch nicht alle. Da ich nicht im Rollstuhl sitze und auch sonst keine Hilfsmittel benötige, scheine ich in der Gesellschaft nicht als behindert durchzugehen. Die Leute gehen davon aus, ich hätte mich verletzt, darum das Gehinke. So bin ich anscheinend mit meinen Skis durch ein verschneites Winter Wonderland gefahren, nur um dann dramatisch abzustürzen. Oder ich bin mit dem Motorrad über die rutschigsten Strassen geschlittert; was mir zum Verhängnis wurde. Ich bin immer beeindruckt von so viel Fantasie; immerhin fragen diese Leute nach. Im Gegensatz zu Teenagern, die teilweise unschöne Bemerkungen von sich geben, welche ich hier zensieren müsste. Kleine Kinder schauen mir mit grossen Augen hinterher und fragen ihre Mütter, wieso diese Frau so läuft. An dieser Stelle ein Hoch auf die Kult-Figur Barbie, die mittlerweile nicht mehr nur dünn und blond ist, sondern auch im Rollstuhl sitzt.

Ein anderes Mal fragte mich ein Zürcher Hipster am Hauptbahnhof, ob er mir meine Gehbehinderung wegmassieren dürfte. Am selben Tag rauschte eine Frau mit den Worten «Gott beschütze Sie!» an mir vorbei. Sie würde für mich beten, wobei ich nicht wüsste, wieso.

Das Leben mit einer Gehbehinderung fordert viel Geduld und Selbstakzeptanz. Diese Empathie habe ich mal mehr, mal weniger. Aber wie heisst es so schön auf Pinterest? You live and you learn – und bis es soweit ist, hinke ich, ähm, ich meine natürlich gehe ich, weiterhin fröhlich durchs Leben.

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