«Minderheiten müssen in der Medizin sichtbarer werden»

Wer am Universitätsspital Zürich eine Samenprobe abgibt, muss mit heteronormativen Hilfsmitteln vorliebnehmen. Es ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie queere Männer in der Medizin das Nachsehen haben.

diana-polekhina-AzkX_56p-KQ-unsplash
Queere Männer müssen am Unispital Zürich zu hetero Pornos masturbieren. (Bild: Unsplash)

Paul* zieht die Tür hinter sich zu und lässt den Blick durch den kleinen Raum schweifen. In einer Ecke steht eine Spitalliege. Auf einem kleinen Tischchen sind Sex-Hefte ausgelegt. An der Wand hängt ein Bildschirm. Eine Auswahl an Pornofilmen steht zur Verfügung. In der nächsten halben Stunde soll Paul hier ejakulieren. Er wirft einen kurzen Blick auf die Hefte, legt sie aber schnell wieder zur Seite. Weder der Porno auf dem Bildschirm, noch die Bilder in den Heften sprechen ihn an. Denn das Material, das den Männern im Masturbationsraum des Universitätsspitals Zürich (USZ) zum Orgasmus verhelfen soll, richtet sich an Heterosexuelle. Gezeigt werden Männer, die Sex mit Frauen haben. Pornos für queere Männer gibt es nicht.

Paul ist schwul und verheiratet. Gemeinsam mit einem lesbischen Paar zogen er und sein Partner eine Co-Elternschaft in Erwägung. Im Universitätsspital hat Paul deshalb sein Sperma auf Fruchtbarkeit testen lassen. Dazu musste er seinen Samen in einer der beiden Masturbationskabinen abgeben. Seine sexuelle Orientierung sei im Vorgespräch kein Thema gewesen, was er auch in Ordnung gefunden hätte. Dennoch habe ihn die Ausstattung in der Masturbationskabine erstaunt. Offenbar geht das USZ davon aus, dass alle Männer, die diesen Raum betreten, auf Frauen stehen. 

Der geschilderte Fall zeige «einmal mehr», dass automatisch angenommen würde, dass ein Mann Frauen begehrt, sagt Roman Heggli vom Schwulenverband Pink Cross. «Diese Vorstellung ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und macht es vielen schwulen Männern schwer, sich so zu akzeptieren, wie sie sind.» Es fehle das Bewusstsein für nicht-heteronormative Menschen. Queere Männer würden oft vergessen, auch in der Medizin.

Unispital lehnt Interview ab

Scheinbar auch beim USZ: Das Universitätsklinikum lehnt ein Interview mit der Begründung ab, es handle sich um eine «nicht-medizinische» Angelegenheit. Nach mehrmaliger Aufforderung erklärt man sich dennoch bereit, die Fragen schriftlich zu beantworten. Zumindest jene, die nicht zu kritisch sind. Weder will das USZ ausführen, welche Hilfsmittel es den Patienten zur Verfügung stellt, noch äussern sich die Verantwortlichen zur Kritik, warum es ausschliesslich heteronormatives Material in den Kabinen gibt. In seiner Stellungnahme heisst es, dass pornografische Hilfsmittel je nach Vorzug verwendet werden könnten, «falls gewünscht». Auf Nachfrage korrigiert das USZ diese Aussage jedoch wieder und räumt ein, dass immer eine «kleine Auswahl» an Bildern und Filmen im Raum vorliege – auch, wenn nicht explizit danach gefragt werde. Weitere Rückfragen bleiben unbeantwortet.

Für schwule Männer gleicht diese Gleichgültigkeit einem Schlag ins Gesicht, doch Paul wundert sie nicht. «Das Gesundheitssystem ist nicht auf schwule Männer eingestellt», sagt er. Dass er beim Arztbesuch vor den Kopf gestossen wird, hat er auch schon in anderen Institutionen erlebt.

«Das Personal sollte erst Material bereitstellen, wenn explizit danach gefragt wird»

Paul

Auch für Roman Heggli von Pink Cross ist die Stigmatisierung und Diskriminierung schwuler Männer in der Medizin nichts Neues. Als Beispiel nennt er den Ausbruch der Affenpocken, heute Mpox, im Jahr 2022. Betroffen waren vor allem schwule und bisexuelle Männer. Es dauerte lange, bis man sich in der Schweiz gegen Affenpocken impfen lassen konnte. Immer wieder wurde die Impfung verschoben, weil man sich nicht über die Finanzierung einigen konnte. Heggli ist überzeugt: «Die Impfung wäre schneller beschafft gewesen, wenn Mpox nicht nur schwule Männer betroffen hätte.» 

Im Fall der Masturbationskabinen am USZ bräuchte es keine Forschung und auch nicht viel Geld: «Das Personal sollte nur Material zur Verfügung stellen, wenn explizit danach gefragt wird», meint Paul. Zudem: «Die meisten Männer haben ein Handy mit Internetzugang und schauen sowieso ihre eigenen Pornos.» Entweder man lässt die Hefte ganz weg – oder man bietet eine breite Palette von Möglichkeiten an, lautet seine Forderung.

Für Paul ist klar: Die Stigmatisierungen, denen schwule Männer ausgesetzt sind, seien oft unterschwellig und vermeintlich banal. Dennoch müssten auch diese Formen der Diskriminierung thematisiert werden, um ein Umdenken zu erreichen. «Minderheiten oder vermeintliche Minderheiten müssen in der Medizin sichtbarer werden.»

*Name geändert

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Jetzt unterstützen!

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare