Dagmar Pauli: «Innert vier Wochen einen Therapieplatz zu bekommen, ist utopisch»
Jugendliche mit psychischen Problemen sollen in Zürich innert vier Wochen einen Therapieplatz bekommen. Dafür brauche es massiv mehr Unterstützung in der Ausbildung von Fachpersonal, betont Dagmar Pauli von der psychiatrischen Universitätsklinik. Die Verantwortung dürfe jetzt nicht auf die Kliniken abgewälzt werden.
Es kommt selten vor, dass eine Vorlage sowohl in der vorberatenden Kommission als auch im Parlament von allen Parteien einstimmig angenommen wird. Die Initiative «Gesunde Jugend Jetzt!» der Jungen Mitte ist seit 2006 erst die zweite Volksinitiative, die von Regierung und Parlament unterstützt wird. Im Kantonsrat sprach man von einer kleinen Sensation.
Doch hinter der aussergewöhnlichen Einigkeit stehen erschreckende Zahlen: Immer mehr Kinder und Jugendliche kämpfen mit schweren Depressionen, Angst- und Essstörungen oder anderen psychischen Problemen. Gemäss einer Unicef-Studie aus dem Jahr 2022 ist ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen in der Schweiz und in Liechtenstein von psychischen Problemen betroffen. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Unbestritten ist, dass der Behandlungsbedarf bei psychischen Problemen zunimmt. Gleichzeitig ist der Weg bis zu einer Therapie mitunter lang: Bis zu neun Monate warten Betroffene auf einen ambulanten Therapieplatz.
Eine schnelle Behandlung für alle
Die Initiative «Gesunde Jugend jetzt!» fordert daher, dass psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen frühzeitig erkannt und behandelt werden. Zudem soll mehr Geld für die Ausbildung von Psycholog:innen und Schulsozialarbeiter:innen gesprochen werden.
Während die Initiative im Parlament unbestritten angenommen wurde, war man sich über die konkrete Umsetzung nicht ganz einig. Die Initiative sieht vor, dass alle psychisch kranken Kinder und Jugendlichen spätestens nach vier Wochen von einer Fachperson behandelt werden.
Dies sei unrealistisch und kaum umsetzbar, kritisieren SVP und Mitte und plädieren stattdessen für die Formulierung «möglichst rasche Aufnahme der Behandlung». Die Mehrheit der Gesundheitskommission schlägt der Regierung sechs Wochen vor. Zudem müsse der Fokus zusätzlich auf Präventionsmassnahmen gelegt werden, damit es in Zukunft gar nicht erst zu einer Behandlung kommen müsse.
Während die genaue Umsetzung nun von der Regierung gestaltet wird, bleibt die Frage nach der Machbarkeit. Die Chefärztin und stellvertretende Direktorin der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Dagmar Pauli, berichtet von überfüllten Notfallstationen und der Dringlichkeit, mehr Fachpersonal auszubilden. Doch dafür fehlen derzeit die öffentlichen Gelder.
Noëmi Laux: Vielen Kindern und Jugendlichen geht es nicht gut. War das schon immer so und man sprach früher einfach weniger darüber oder haben die psychischen Probleme tatsächlich so zugenommen?
Dagmar Pauli: Ich denke beides. Im Vergleich zu vor zehn Jahren empfinden Jugendliche heute mehr Stress und glauben, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Aber es gab auch früher Jugendliche, denen es schlecht ging. Aufgrund mangelnder Aufklärung, die nicht zuletzt auf eine starke Stigmatisierung psychischer Erkrankungen zurückzuführen ist, blieben Jugendliche früher mit ihren Problemen häufig allein.
Sie griffen eher zu harten Drogen oder wurden gewalttätig, wenn es ihnen nicht gut ging. Heute äussern sich Krisen anders, sie sind eher nach innen gerichtet. So nehme ich vermehrt schwere Depressionen, Angst- und Essstörungen wahr. Diese Phänomene lassen sich auch mit Zahlen belegen. Auffällig finde ich, dass immer jüngere Jugendliche von psychischen Problemen betroffen sind. Wir haben regelmässig 12-Jährige mit Essstörungen in Behandlung. Vor zehn Jahren war das noch die Ausnahme.
Womit hängt das zusammen?
Der subjektive Druck von aussen hat zugenommen. In der Schule müssen Kinder heute mehr leisten als früher. Es werden ständig Inhalte hinzugefügt, aber nichts abgespeckt. Diese Erwartungen machen vielen zu schaffen. Auch die unsichere Weltlage, die Klimakrise und die Kriege treffen Jugendliche in einer entscheidenden Lebensphase, viele fühlen sich ohnmächtig und überfordert. Nach innen gerichtete Störungen sind eine scheinbare Bewältigung, um all den Anforderungen von aussen zu entgehen.
«Wir müssen mehr Therapeut:innen ausbilden, dazu braucht es finanzielle Unterstützung aus öffentlicher Hand.»
Dagmar Pauli, Chefärztin und stellvertretende Klinikleiterin
Das zeigen auch Zahlen. Für einen Therapieplatz wartet man in Zürich teils bis zu neun Monate. Die Initiative «Gesunde Jugend jetzt!» fordert, dass die Aufnahme in eine Therapie innerhalb von vier Wochen erfolgen muss. Ist das überhaupt realistisch?
Mit den derzeitigen Ressourcen nicht. Innert vier Wochen einen Therapieplatz zu bekommen, ist utopisch. Unsere Notfallambulanzen sind voll, viele Praxen führen lange Wartelisten. Therapeut:innen stehen bereits heute stark unter Druck. Darum ist es wichtig, dass jetzt die Politik aktiv wird und die Umsetzung der Initiative in Angriff nimmt. Die Verantwortung darf nicht allein auf uns Therapeut:innen und Kliniken liegen.
Die Initiative wurde im Parlament angenommen, nun geht es an die Umsetzung. Wie muss diese aussehen?
Wir müssen mehr Therapeut:innen ausbilden, dazu braucht es finanzielle Unterstützung aus öffentlicher Hand. Vor allem der ambulante Bereich muss in den Kliniken stark ausgebaut werden. Ausserdem gibt es keine Regelungen, wie viele neue Patient:innen eine Praxis in einer gewissen Zeit aufnehmen muss. Das halte ich für falsch.
Psychologie gehört seit Jahren zu den beliebtesten Studienfächern. Seit 2008 hat sich die Anzahl der immatrikulierten Psychologiestudent:innen an der Uni Zürich mehr als verdoppelt. Warum sind die Engpässe in den Praxen überhaupt so gross?
Längst nicht alle, die Psychologie studieren, machen nach dem Master eine Therapeut:innen-Ausbildung. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Zusatzausbildung ist anspruchsvoll, sie dauert je nach Schwerpunkt vier bis fünf Jahre und kostet Geld. Erst seit letztem Jahr können niedergelassene Psychotherapeut:innen ihre Leistungen selbstständig über die Grundversicherung abrechnen.
Gäbe es mehr Therapeut:innen, wenn die Ausbildung kürzer wäre?
Das wäre der falsche Ansatz. Der Beruf ist anspruchsvoll und verantwortungsvoll. Im Studium lernt man die theoretischen Grundlagen, diese reichen jedoch nicht aus, um als Psychotherapeut:in zu arbeiten. Es braucht mehrere Jahre Erfahrung unter Supervision in der Klinik, damit man anschliessend eine selbständige Tätigkeit in der Praxis ausführen kann. Ich fände es nicht richtig, wenn Absolvent:innen bereits mit Mitte 20 selbständig in der Praxis Patient:innen behandeln könnten.
«Es bräuchte zusätzliche Initiativen, die noch früher ansetzen und Kinder und Jugendliche auffangen, bevor sie in eine ernsthafte Krise geraten.»
Dagmar Pauli
Auch hier will die Initiative ansetzen. Sie sieht vor, dass massiv mehr Geld in die Ausbildung von Psycholog:innen und Schulsozialarbeiter:innen fliessen soll.
Das ist für mich der einzige Weg, der langfristig funktionieren kann. Institutionen, die Psycholog:innen weiterbilden, müssen finanzielle Unterstützung bekommen, um mehr klinische Weiterbildungen anbieten zu können. Wir benötigen aber auch mehr ausgebildete Mediziner:innen, es gibt immer noch zu wenige Ausbildungsplätze in der Schweiz und daher auch zu wenige Kinder- und Jugendpsychiater:innen.
Mehr Therapeut:innen ausbilden, das ambulante Angebot ausbauen, die Ausbildung verkürzen – das sind alles Massnahmen, die spät ansetzen. Gibt es auch präventive Ansätze?
Das ist die grosse Herausforderung. Es bräuchte zusätzliche Initiativen, die noch früher ansetzen und Kinder und Jugendliche auffangen, bevor sie in eine ernsthafte Krise geraten. Das heisst, die Eltern-Kind-Beziehung schon im Säuglingsalter stärken, psychische Störungen der Eltern frühzeitig erkennen und behandeln oder die Beratungsangebote in den Schulen ausbauen. All dies sind Massnahmen, die präventiv wirken und das Risiko einer psychischen Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen reduzieren.
Sie sprechen einen Punkt an, der auch im Zusammenhang mit der Initiative laut wurde. Wäre ein präventiver Fokus zielführender, statt die klinischen und ambulanten Angebote auszubauen?
Nein, es braucht beides. Selbst wenn wir jetzt mehr in die Prävention investieren würden, also in niederschwellige Angebote an Schulen oder in die Frühberatung von Eltern, hätten wir noch mindestens zehn Jahre lang kranke Jugendliche, die lange auf einen Therapieplatz warten. Ausserdem verfolgt die Initiative auch einen präventiven Ansatz der Frühintervention. Kindern und Jugendlichen, die Hilfe brauchen, innerhalb von vier Wochen einen Therapieplatz in Aussicht zu stellen, ist sekundärpräventiv. Dies sind Massnahmen, die bei Erkrankungen in einem frühen Stadium ansetzen, um einen schweren Krankheitsverlauf zu verhindern und eine möglichst rasche Integration im Umfeld zu erreichen. Jede Form der Hilfeleistung ist wichtig. Es wäre falsch, die Massnahmen gegeneinander auszuspielen.
Die Umfragen zeigen, dass es Jugendlichen aufgrund von psychischen Krisen immer schlechter geht. Wie können wir dennoch hoffnungsvoll bleiben?
Ich verstehe, dass die aktuellen Entwicklungen Ängste auslösen können. Aber grundsätzlich blicke ich optimistisch in die Zukunft. Dass so viele Kinder und Jugendliche Hilfe suchen, hat nicht zuletzt mit einem gesellschaftlichen Wandel zu tun. Es wird mehr über psychische Erkrankungen gesprochen und sie werden weniger stigmatisiert als früher. Die Frage ist nun, wie wir dieser Entwicklung gesamtgesellschaftlich begegnen. Die Initiative «Gesunde Jugend Jetzt!» ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn noch nicht ganz klar ist, wie sie umgesetzt werden kann.
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