Die Anwältin des Schweizer Nachtlebens
Isi von Walterskirchen, Ikone der alternativen Schweizer Clubkultur und Leiterin des Clubbüros der Roten Fabrik, gibt im Gespräch mit unserer Redaktorin tiefe Einblicke in ihr Leben und Schaffen und verrät, weshalb sie den «Letten-Moment» nicht zum Glücklichsein braucht.
Auf die Frage nach der besten Party ihres Lebens antwortet Isabelle «Isi» von Walterskirchen (42): «Ich habe unheimlich viele inspirierende, wunderschöne Traum-Momente an Partys erlebt. Aber wenn ich wählen muss, dann einerseits das erste Rhizom-Festival im Sommer 2017 und andererseits eine Nacht, die vergangenen Juli vom Kollektiv Fagdom organisiert worden ist.»
Es sei eine jener Feste gewesen, an denen in den frühen Morgenstunden 90 Prozent der Feiernden ohne Shirt, manche gar ohne Hosen auf der Tanzfläche gestanden seien. «Irgendwann kam DJ Sirenessa, die davor bereits aufgelegt hatte, ans DJ-Pult stolziert, um das Mikro in die Hand zu nehmen und die Crowd als MC weiter durch die Nacht zu begleiten», erinnert sich Isi und ihre Augen beginnen zu leuchten. Der dabei entstandene Austausch, all die nackten, schwitzenden Oberkörper, das Gemeinsame, der Platz für jedes einzelne Individuum hätten sie sehr berührt. Isi: «Mir war es, als würden wir uns in einem dieser New Yorker Lagerhäuser Anfang der 90er befinden.»
Weshalb das Summercamp fast nicht stattgefunden hätte
In Zeiten wie diesen, in denen man sich räumlich immer mehr voneinander entfernt, entfernen muss, habe es den Leuten gut getan, zusammen zu sein. Wenn auch nur für kurze Zeit. Dies habe sich auch während des Summercamps (#RFSC) gezeigt, während dem sie zusammen mit einem losen Kollektiv anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums der Roten Fabrik den sonst im Sommer «gespenstisch leeren» Innenhof mit Radio, Workshops, Talks, sozio-politischen Aktionen, Performances, Listening-Sessions, Raves und Konzerten bespielt hat, die nicht kuratiert wurden sondern prozessorientiert entstanden sind.
Isi mag es, «geschmeidig» mit unerwarteten Situationen umzugehen. Corona war unerwartet. Während des Lockdowns sagte sich die Clubkultur-Chefin der Roten Fabrik mehrmals, dass sie das geplante Camp mit so vielen Kompromissen nicht durchführen kann. Doch irgendwann spürte sie es auf einmal. So, wie wenn man frisch verliebt ist. «Genau jetzt brauchen wir das», beschloss sie. «Jetzt müssen Menschen zusammen sein, diskutieren können und Künstler:innen eine Plattform erhalten.»
Weshalb Isi eigentlich ein Fly-Girl ist
Obwohl Isi heute vor allem mit ihrer Rolle als Akteurin in der alternativen Techno-Szene in Verbindung gebracht wird, mit den von ihr während all den Jahren organisierten Partys in Clubs wie dem «Cabaret» oder der «Zukunft» und in besetzten Häusern – und das stets mit viel Herzblut und originellen Konzepten – liegen ihre Wurzeln eigentlich ganz woanders. Denn eigentlich war sie ein Fly-Girl. Aber dazu später, denn zuerst war Moskau.
Fünf Jahre lebte Isi mit ihren Eltern in der russischen Hauptstadt, wo ihr Vater eine Mission als Diplomat ausübte, in einer wie sie sagt «schizophrenen Situation». Einerseits genoss sie durch den Status ihres Vaters entsprechende Möglichkeiten und Privilegien, gleichzeitig nahmen ihre Eltern sie in den Untergrund mit, wo geheime Treffen, Ausstellungen und Parties der Konterrevolutionäre stattfanden. Man durch verborgene Tunnels in Wohnungen von kreativen Kunstschaffenden gelangte, die zu dieser Zeit vom Gulag, dem Netz von Straf- und Arbeitslagern in der damaligen Sowjetunion, bedroht waren. Mit der Wende 1989 zog sie als 10-Jährige mit ihren Eltern zurück in die Schweiz.
«Die Zeit in Russland hat mich extrem geprägt. Mein Vater kommunizierte damals stets offen über unsere Lage und die verschiedenen Schichten der UDSSR-Gesellschaft.»
Isi von Walterskirchen
Zurück in Bern verliebte sich Isi in den Hip-Hop, gab sich aber auch der von George Clinton und Parliament-Funkadelic geschaffenen P-Funk-Mythologie hin. «Ich war sehr fest in dieser Szene drin», so Isi – bis sie Ende der 90er-Jahre den Techno für sich entdeckte und damit auch die daraus entstandene Clubkultur. Als kurz darauf die Afterhour immer stärker aufkam, schienen Zürcher Nächte plötzlich ewig anzudauern.
Weshalb die «jungen Wilden» nicht so wild sind wie man denkt
Weil Isi – Einzelkämpferin, die zwar gerne mit anderen zusammenarbeitet, aber stets immer irgendwie die Zügel in der Hand hat – als Veranstalterin immer mehr programmatorische Kompromisse hätte eingehen und die Zürcher Szene verstückelt und mit Konkurrenzdenken belastet waren, entstand bei ihr und ihrem Freund Olaf Yarce, Musiker, Aktivist und Labelmacher (Lustpoderosa), das Bedürfnis nach Kollektivität und vor allem: Kompromisslosigkeit.
Vor fünf Jahren versammelten die beiden schliesslich die Akteur:innen der alternativen Clubszene dieser Stadt an einem Tisch, gründeten den Verein VAZEM und schrieben eine gemeinsame Charta. Das Rhizom Festival war geboren. Isi: «Seither hat sich in Zürich ganz viel bewegt, man agiert nicht mehr nur in seinem Kuchen und hat weniger Angst vor kompromisslosen Line-ups und dem sichtbar machen von sozio-politischen Anliegen und Initiativen im Club.»
Von all diesen Erfahrungen profitiert nun auch die nächste Generation engagierter Menschen, die das Zürcher Nachtleben prägen wollen. Isi nennt es ein Privileg, sie in ihrer Funktion als Clubbüro-Chefin begleiten und inspirieren zu dürfen. Doch wie crazy, wie mutig sind die vermeintlich «jungen Wilden» überhaupt? «In der Art wie sie miteinander kommunizieren, legen sie eine unglaubliche Offenheit und Reife zutage. Das ist toll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie diesbezüglich bereits in der Muttermilch eine Charta mitbekommen haben.»
«Ich habe das Gefühl, dass wir damals viel trashiger, wilder und punkiger waren. Mehr Molotow-Cocktail und Brecheisen.»
Isi von Walterskirchen
Was die «Wildheit» angehe, würde sie sich diese Gruppe 18- bis 28-Jähriger sogar selber als «eine ziemlich brave Generation» bezeichnen. Isi hat da ihre ganz eigene Theorie: «Die Lage unserer Welt und das System, in dem wir leben erfordern, dass man als Gesellschaft funktioniert und nicht mehr nur auf seinen eigenen Exzess und die eigene Verwirklichung setzt. Dass man sorgfältig mit seinen Mitmenschen umgeht und sich um die Probleme, die unser System generiert, kümmert. Man experimentiert schon gerne und macht auch Party, gut Party sogar, aber ich habe das Gefühl, dass wir damals viel trashiger, wilder und punkiger waren. Mehr Molotow-Cocktail und Brecheisen.»
Weshalb «haten» nicht die Lösung ist
Die Anbindung von jungen Leuten ist Teil des Clubbüro-Konzepts. Auch, weil es in Zürich wie auch in vielen anderen grossen Städten immer weniger Platz für Experimente gibt. Seitens der IG Rote Fabrik wird grosses Vertrauen in Isi gesetzt. Vertrauen von Menschen, von denen man munkelt, seit den Anfängen sprich seit 40 Jahren auf den Sesseln der mittlerweile zur Institution gewachsenen Kulturstätte zu kleben. «Es sind natürlich lang gewachsene Strukturen vorhanden, auf denen auch Krusten liegen.»
Gewisse Prozesse laufen langsam, weil die Geschäftsführung im Kollektiv passiert», so Isi, die einen Master in Rechtswissenschaften und Kulturmanagement in der Tasche hat und deshalb auch «Anwältin des Schweizer Nachtlebens» genannt wird. Die früher als Präsidentin des Zürcher Nachtstadtrates und während zehn Jahren als Geschäftsleiterin von Petzi, dem Schweizer Zusammenschluss der nicht Gewinn orientierten Konzertlokale und Festivals, agierte und derzeit noch immer Co-Präsidentin von Live DMA, dem europäischen Dachverband von Musikclubs und Festivals, ist.
Dank diesem riesigen Puzzle voller Engagements hat Isi gelernt, wie man in Vereins- und Kollektiv-Strukturen arbeitet. «Auch wenn man manchmal gewisse Hürden überwinden muss und es ein wenig länger dauert, ist trotzdem viel möglich». Die IG Rote Fabrik sei ein Verein, in dem jeder Mensch Mitglied werden könne. Ein «fett subventionierter Luxus-Spielplatz», in dem die Vereinsmitglieder der Boss seien. Isi findet es «lame, immer nur Sündenböcke zu suchen und zu kritisieren. Wenn ihr was verändert wollt: Kommt mit Vorschlägen! Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, hier etwas zu bewegen.»
Weshalb Isi zum Glücklichsein keinen «Letten-Moment» braucht
Trotz Isis «hypersozialer Ader» macht das Nachtleben manchmal sogar sie müde. So zieht sie sich immer wieder gerne zurück. In ihre Wohnung am Friesenberg, auf einen Spaziergang im Sihltal oder an die Seite ihres Freundes, mit dem sie seit 20 Jahren zusammen ist. Den «Letten-Moment» braucht Isi nicht zum Glücklichsein, im Gegenteil: «Ich gehe in meiner Freizeit nicht gerne an szenige, überlaufene Sehen-und-Gesehen-werden-Orte. In Herden fühle ich mich nicht wirklich wohl.»
«Nach einem Burn-Out musst du ganz sanft wieder in dein altes Leben zurückfinden.»
Isi von Walterskirchen
Sie spürt, wenn ihr etwas zu viel ist. Wenn sie eine Anfrage aus Kapazitätsgründen ablehnen muss. Das war nicht immer so. Vor fünf Jahren wirft sie ein Burn-Out aus der Bahn. Zum Glück erkennt sie die Anzeichen früh und geht in eine Therapie. Trotzdem sagt sie: «Davon erholst du dich nicht einfach so innerhalb von zwei, drei Monaten. Nach so einem Erlebnis musst du ganz sanft wieder in dein altes Leben zurückfinden.» Doch genau dieses Ausgeliefert-Sein habe sie dazu gebracht, die Dinge zu reflektieren und nach neuen Möglichkeiten zu suchen.
Ja, erst – oder vor allem – während Krisen blüht Isi so richtig auf. Auch jetzt, wo in der neuen Corona-Realität Contact-Tracing, sogenannte «Superspreader», beschränkte Anzahl Gäste und Einnahmen Clubbetreiber:innen und Veranstalter:innen vor grosse Herausforderungen stellen und einigen davon das Wasser bereits bis zum Hals steht.
Weshalb trotz der neuen Covid-19-Verordnung einige noch immer aus dem Raster fallen
«Krisen erfordern sehr viel Kreativität und diese kann wiederum neue Möglichkeiten eröffnen», findet Isi. Trotz allem sei es schon so, dass viele Begebenheiten auf Behörden- und politischer Ebene oder in Sachen Förderung nicht der Realität angepasst seien. Immerhin seien in der aktuellen Covid-19-Verordnung des Bundes nicht nur Kunstschaffende, sondern auch Kulturschaffende erwähnt. Ein kleiner aber feiner Unterschied, der es zum Beispiel Tontechniker:innen, Beleuchter:innen und anderen Freelancern erlaubt, Unterstützung einzufordern. «Das Problem: Es sind professionelle Kultur- und Kunstschaffende gemeint, was bedeutet, dass man mindestens 50 Prozent seines Einkommens mit dieser Tätigkeit generieren muss. Damit fallen aber zum Beispiel viele Musiker:innen, DJs und andere bereits wieder durch das neu geschaffene Raster.»
Man befände sich gerade in einer empfindlichen Situation. «Niemand weiss genau, wie man damit umgehen soll und was noch alles auf uns zukommen wird. Auch ich hatte nicht nur vor dem Summercamp das Gefühl, dass die geplanten Anlässe unter den gegebenen Umständen nicht mehr der Safe Space sein können, die sie sein müssten.» Dies, weil sie als Clubmacherin durch die geforderten Hygienestationen, der Kontrolle der Personalien, Validierung der Telefonnummern und dem Check-In und Check-Out plötzlich auch noch wie sie sagt «Polizei, Spital und Flughafen spielen» musste.
«Das alles hat mir nicht so viel ausgemacht, weil ich mich in meiner Rolle als Frau wohl fühle und solche Erlebnisse immer als Chance wahrgenommen habe.»
Isi von Walterskirchen
Weshalb in Clubs nicht nur Frauen um ihren Platz kämpfen müssen
Dass Clubs auch auf anderen Ebenen zu sicheren Orten werden, ist Isi ein grosses Anliegen. Ganz am Ziel angekommen sei man noch nicht. Auch im Nachtleben müssten nicht nur Frauen, sondern auch Menschengruppen, die nicht den klassischen binären Rollenbildern entsprechen, um ihren Platz kämpfen. «Es ist noch sehr viel zu tun. Mit Vernetzung und Wissenstransfer kann man aber bereits einiges bewirken.» Dabei gehe es nicht nur um Frauen oder Männer sondern darum, Geschlechterbilder generell aufzulösen und alle möglichen Formen von «sich als Mensch fühlen» zu respektieren und integrieren.
Isi indes weiss, wie es ist, lediglich als Quoten-Frau zu einem Bewerbungsgespräch oder Podium eingeladen oder nicht ernst genommen zu werden, nur weil man Minirock, hohe Schuhe und Lippenstift auf den Lippen trägt. Doch es sei nicht immer nur schlecht, unterschätzt zu werden. «Das alles hat mir nicht so viel ausgemacht, weil ich mich in meiner Rolle als Frau wohl fühle und solche Erlebnisse immer als Chance wahrgenommen habe. Und weil ich gerne kämpfe.» Typisch Isi halt.