App «BeReal»: Von wegen authentisch

Nachdem uns Covid einige Monate unseres Lebens geraubt hatte, konnte das Jahr 2022 so einige Trends aus dem Hut zaubern. «BeReal» war einer davon. Dabei schafft es auch eine Social-Media-App nicht, unsere Echtheit im World Wide Web zu wahren – auch wenn sie sich Authentizität auf die Fahne schreibt. Das findet zumindest unsere Redaktorin Isabel Brun.

Szeni-Starterpack 2022
Damit warst du im Jahr 2022 cool. (Bild: Collage Tsüri.ch)

Dass die Sozialen Medien nicht die Wirklichkeit abbilden, sollte mittlerweile allen klar sein. Professionelle Paarfotos im Instagram Feed deuten nicht auf eine konfliktfreie Beziehung hin und ein Selfie lässt sich im Handumdrehen so bearbeiten, dass das Gesicht vielmehr dem von Kylie Jenner als dem eigenen gleicht. Wer das ist, wirst du dich vielleicht fragen. Doch das ist nicht der Punkt, sondern: Wir sind es uns gewohnt, das Leben anderer durch einen Filter zu betrachten. Selbstzweifel inklusive.

Eine App will dieser Entwicklung nun einen Riegel vorschieben. «BeReal» heisst das Glanzstück, das im letzten Sommer sogar Tiktok vom Thron gestossen hat. 20 Millionen Menschen in den USA versuchten im August 2022 echter zu sein, als die Nutzer:innen der Konkurrenz. Doch wahre «Realness» scheint uns nach der Ära Facebook, Snapchat, Instagram und Co. gar nicht mehr so leicht zu fallen. Das kann auch eine App nicht einfach ungeschehen machen.

«Wir werden auch ohne Filter Nischen finden, um uns im bestmöglichen Licht zu zeigen.»

Isabel Brun

Es muss irgendwann im Juni gewesen sein, da hörte ich das erste Mal von Be Real. Ich sass mit einer Freundin vor zwei Gläsern Wein und sie meinte, sie müsse kurz ein Foto von mir machen für diese neue App. Wenige Sekunden zuvor hatte sie eine Benachrichtigung erhalten, dass sie am Zug sei mit posten.

Das Prinzip ist einfach und verspricht – zumindest auf dem Papier – Authentizität: Alle 24 Stunden werden Nutzer:innen aufgefordert, innerhalb von zwei Minuten ein Foto hochzuladen. Für dieses ist nicht nur die Front-, sondern auch die Rückkamera aktiviert, sodass neben einem Selfie auch ein Bild der Umgebung gemacht wird. Zudem gibt es keine Möglichkeit, das Foto zu bearbeiten. Mehr Echtheit, weniger Kontrollwahn lautet das Credo. Posts auf dem Klo, vor dem Arbeitsdesk, im Bett oder am Abendessen sind deshalb auf Be Real nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Soweit, so gut. Doch es gibt ein Problem: Die App erlaubt es nämlich, auch nach Ablauf der zweiminütigen Frist noch Fotos zu posten. Es ist also möglich, den Klo-Post zu umgehen und auf einen spannenderen Moment im Leben zu warten. Und hier wird die App eben wieder zu dem, was bereits frühere Social-Media-Kanäle für uns waren: Orte, an denen wir uns in Selbstdarstellung üben, und uns schlecht fühlen, weil andere gerade eine grosse Schar von Freund:innen um sich haben, die ekligen Wintertage in den Bergen verbringen können oder sich mit einem Buch von Hermann Hesse brüsten – obwohl sie es nach drei Minuten wieder weglegen werden.

Die Idee der App ist gut, aber ich zweifle daran, ob wir bereit sind, unseren Komfort, uns zu jeder Zeit gut in Szene zu setzen, aufzugeben. Denn «be real» hin oder her: Uns ist wichtig, was andere von uns denken. Deshalb werden wir auch ohne Filter Nischen finden, um uns im bestmöglichen Licht zu zeigen. Authentizität spielt dabei noch immer eine untergeordnete Rolle – auch wenn das Gegenteil wünschenswert wäre. 

Das Szeni-Starterpack 2022

Trends kommen und gehen. So kamen auch im Jahr 2022 so einige modische und gesellschaftliche Neuheiten dazu, andere wurden wiederbelebt. In unserem Rückblick schauen wir auf ein Jahr voller fetzigen Frisuren, lässigen Tretern und neuen Hobbys zurück, die unsere Bubble in den letzten 12 Monaten bewegt haben. Zusammen kam ein Starterpack, mit dem du in Zürich alles warst, aber bestimmt nicht auffällig.

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2. App «BeReal»: Von wegen authentisch

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2024-02-27 Isabel Brun Redaktorin Tsüri

Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.  

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