Ruby Rebelde: «Sexarbeit inklusiv denken – das wäre echter Feminismus»
Anlässlich des 40. Jubiläums der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration Zürich liest Ruby Rebelde aus dem Buch «Warum sie uns hassen». Ein Gespräch über Feminismus, Sklaverei und Doppelmoral.
Sexarbeit bleibt in Zürich ein Reizthema. Im März trat der schwedische Polizist und Autor Simon Häggström auf Einladung der Frauenzentrale auf und warb für das sogenannte nordische Modell: ein Sexkaufverbot. Dutzende Menschen protestierten gegen seinen Auftritt im Zürcher Volkshaus.
Sexarbeit ist politisch. Anfang Jahr wurde im Stadtrat über eine Ausweitung der Strassenprostitution gestritten. Offiziell weist Zürich drei Strichzonen auf: im Niederdorf, an der Allmendstrasse und am Depotweg. Die Langstrasse, einst Zentrum des Zürcher Rotlichts, ist keine offizielle Strichzone. Trotzdem wird dort weiter gearbeitet – in einer rechtlichen Grauzone. Das soll sich nun ändern: Nach dem erfolgreichen Vorstoss hat der Stadtrat bis 2027 Zeit, um aufzuzeigen, wie ein legaler Strassenstrich an der Langstrasse aussehen könnte.
Ruby Rebelde begrüsst solche Bestrebungen. Seit 14 Jahren ist Rebelde im Gewerbe tätig und hat ein Buch über das Leben als sexarbeitende Person geschrieben. Mit «Warum sie uns hassen» wird die Stimme aus Deutschland am 40-jährigen Jubiläum der Zürcher Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) zu Gast sein.
Sophie Wagner: Im März protestierten Aktivist:innen vor einer Veranstaltung in Zürich, bei der der schwedische Polizist Simon Häggström das sogenannte nordische Modell verteidigte. Was halten Sie von diesem Modell?
Ruby Rebelde: Das nordische Modell existiert seit 25 Jahren in Schweden und es gibt dort nach wie vor Sexarbeit. Nur: Die Bedingungen sind heute viel gefährlicher. Es heisst immer, das Gesetz richte sich nicht gegen die Sexarbeitenden selbst, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wer einer Sexarbeitenden eine Wohnung vermietet, macht sich strafbar. Das wird dann als «Bordellbetrieb» ausgelegt. Wer eine Dienstleistung in Anspruch nimmt, die mit Einnahmen aus der Sexarbeit bezahlt wurde, wird schnell als «Zuhälter:in» kriminalisiert. Solche Kohärenzgesetze machen das Leben für uns unerträglich.
Ich habe überhaupt nichts dagegen, über mehr Sicherheit in der Sexarbeit oder Wege zur Bekämpfung von Zwangsarbeit zu sprechen. Aber das nordische Modell leistet dazu keinen Beitrag.
Viele waren irritiert, dass ausgerechnet eine als feministisch geltende Organisation Häggström eine Bühne geboten hat.
Ich finde es ehrlich gesagt auch extrem bizarr, dass sich selbsternannte Feminist:innen mit so jemandem aufs Podium setzen. Wenn man sich ein wenig über Häggström informiert, etwa durch Kolleg:innen aus Schweden, stösst man schnell auf sehr kritische Berichte über seine Arbeit. Seine Haltung gegenüber Menschen, die von der Polizei in prekären Situationen «ertappt» werden, ist schlicht fragwürdig.
Was mich besonders abstösst: Auf dem Cover seines Buches «Shadows Law» steht er in einer Pose, die man sonst mit Zuhältern assoziiert – vor Frauen, die sich in eine Ecke drängen. Und dann glauben einige tatsächlich, sie würden so Frauenrechte stärken?
Sie sprechen von Kolleg:innen in Schweden – wie vernetzt sind Sie mit anderen Sexarbeitenden?
Über die European Sex Workers Alliance (ESWA) gibt es einen regen Austausch. Man kann aber auch direkt bei Organisationen wie Red Umbrella Sweden nachfragen, wie die Situation vor Ort aussieht. Ihre Vorgängerorganisation veröffentlichte schon vor fünf Jahren, zum 20-jährigen Bestehen des Sexkaufverbots einen Bericht. Die Schilderungen sind erschütternd: polizeiliche Repression, Razzien, Abschiebungen von nicht-schwedischen Sexarbeitenden. Es herrscht eine krasse Doppelmoral zwischen dem Predigen für mehr Sicherheit und der tatsächlichen Lebensrealität von Sexarbeitenden.
Um Sexarbeitende generell, aber auch für gefährliche Situationen zu schulen, bieten Sie Kurse zu Konsens und zur Professionalisierung in der Sexarbeit an. Was lernt man da?
Bei Sexarbeit geht es nicht um die eigenen sexuellen Wünsche, sondern die der Kund:innen. Da braucht man anatomisches Wissen und die Fähigkeit, Fragen zu stellen, damit die Person ins Erzählen kommt.
Gleichzeitig muss man für sich selbst klären können: Will ich das überhaupt machen? Und entsprechend den Rahmen setzen. Ein weiterer zentraler Punkt ist das Verhandeln: Wie begründe ich mein Honorar? Wie gehe ich mit Betreiber:innen von Bordellen um, wenn die Mieten zu hoch sind? Zur Professionalisierung gehört aber auch das Wissen um rechtliche Rahmenbedingungen. In Deutschland etwa ist das Prostitutiertenschutzgesetz sehr restriktiv. Wer selbstständig arbeiten möchte, muss jährlich eine Beratung durchlaufen, eine Erlaubnis wird alle zwei Jahre erneuert.
Wie sind Sie selbst zur Sexarbeit gekommen?
Ich habe schon im Studium darüber nachgedacht. Damals habe ich mich noch nicht getraut, als Sexarbeiter:in zu arbeiten. Nicht weil ich nicht wollte, sondern weil das gesellschaftliche Feedback eindeutig war: «Du schadest dir selbst», «diesen Schritt kannst du nie rückgängig machen», sagten mir viele.
Zehn Jahre später war die Situation viel prekärer: Ich hatte Studienschulden, arbeitete 42 Stunden die Woche in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Ostdeutschland und trotzdem reichte das Geld nicht. Ich brauchte eine Lösung, und die Sexarbeit war eine.
Haben Sie die gesellschaftlichen Konsequenzen unterschätzt?
Absolut. Ich war damals naiv und dachte, ich kann offen damit umgehen – schliesslich war es meine Entscheidung. Ich erzählte es ein paar Freund:innen, aber es wurde weiter getratscht. In einem Konflikt auf dem Hof drohte mir jemand, mich damit zu erpressen.
Wenn dein Umfeld, deine männlichen Chefs in einer strukturschwachen Gegend auf dem Land davon wissen, hauen die Konsequenzen richtig rein.
«Damals wurde ‹Menschenhandel› als ‹White Slavery› bezeichnet. Das heisst: Sexarbeitende wurden so automatisch als Opfer dargestellt.»
Ruby Rebelde, Autor:in und Sexarbeiter:in
Gab es Unterschiede in der Reaktion – etwa zwischen Männern, Frauen oder queeren Personen?
In Brandenburg 2015 gab es keine sichtbaren queeren Personen in meinem Umfeld. Frauen reagierten oft abwertend, aggressiv und angeekelt. Männer hörten eher voyeuristisch zu: «Erzähl doch mal, ist bestimmt aufregend.» Ich würde nicht sagen, es war strikt entlang der Geschlechtergrenzen, aber Ablehnung kam sehr häufig von Frauen oder weiblich gelesenen Personen.
Kamen diese Reaktionen eher aus konservativen Kreisen oder auch von Menschen, die sich als feministisch verstehen?
Letztere sogar besonders häufig. Darum geht es auch in meinem Buch. Neben den christlich-fundamentalistischen Gruppen gibt es eine Strömung von selbsternannten Frauenrechtlerinnen – ich nenne sie nicht Feminist:innen –, die sich als «prostitutionskritisch» bezeichnen. Sie glauben, eine feministische Haltung zu vertreten, äussern sich aber herablassend und abwertend über Menschen wie mich.
Woher kommt diese Haltung?
Das war für mich auch lange ein Rätsel, bis ich dem für meine Buchrecherche nachgegangen bin. Zunächst dachte ich, es reicht, Texte von Alice Schwarzer aus den 80ern zu lesen. Aber das reichte nicht. Dann schaute ich mir die Verfolgungsgeschichte von Sexarbeitenden im Nationalsozialismus an – auch das erklärte es nicht vollständig. Schliesslich ging ich bis in die Zeit zwischen 1860 und 1890 zurück und verstand: Sie sehen sich in direkter Kontinuität zur Abschaffung der Sklaverei stehend. Damals wurde «Menschenhandel» als «White Slavery» bezeichnet. Das heisst: Sexarbeitende wurden so automatisch als Opfer dargestellt.
Viele dieser Gruppen sehen bei der Sexarbeit Parallelen, die es nicht gibt. Sie übertragen ihre gerechtfertigte Ablehnung der Sklaverei unreflektiert auf die Sexarbeit – obwohl diese selbstbestimmt stattfinden kann.
Wie würde ein inklusiver Feminismus in Bezug auf Sexarbeit aussehen?
Jede Emanzipationsbewegung sollte versuchen, alle von Abwertung und Diskriminierung Betroffenen zu umfassen. Wenn ich Sexarbeit inklusiv sage, meine ich, dass Sexarbeitende mitgedacht und willkommen sein müssen. Es geht nicht darum, den Feminismus zu übernehmen, sondern dass unsere Perspektive mitgedacht wird, denn sie kann helfen, andere Themen neu zu beleuchten.
Und in der Praxis?
Am feministischen Kampftag könnten wir etwa den Menschen gedenken, die sexarbeitend tätig waren und Gewalt erlebt haben – ohne dabei ihre Existenz infrage zu stellen. Und wenn wir über Sexualität und Konsens sprechen, könnten wir gezielt das Erfahrungswissen von Sexarbeitenden einbeziehen. Ein Austausch auf Augenhöhe und Sexarbeit inklusiv denken – das wäre echter Feminismus.
War das die Motivation für Ihr Buch «Warum sie uns hassen»?
Nicht direkt. Ich habe mich für eines der drei Marc-of Frankfurt-Stipendien für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung beworben und ursprünglich mit einem ganz anderen Thema. Ich wollte eigentlich nur über die mediale Berichterstattung über Sexarbeit schreiben. Der Auslöser war ein Pressearchiv, das ich 2021 erstellt habe: Ein Jahr lang habe ich über 650 deutschsprachige Beiträge gesammelt – Reportagen, Artikel, Podcasts.
Doch ich merkte schnell: Diese Daten interessieren niemanden, wenn ich nicht zuerst erkläre, was Sexarbeitsfeindlichkeit überhaupt ist. Ich habe dann eine Weiterbildung in Sozialer Gerechtigkeit gemacht, um Diskriminierung besser analysieren zu können. So entstand der erste Teil des Buches. Der zweite Teil behandelt die mediale Berichterstattung, hoffentlich auf unterhaltsame Weise. Und im dritten Teil erkläre ich, wer in Deutschland gegen Sexarbeit mobil macht und mit welchen Mitteln.
Ist die Analyse auch für Menschen ausserhalb von Deutschland relevant – etwa in der Schweiz oder Österreich?
In der Schweiz und in Österreich wird das Thema bislang weniger emotional und polarisierend diskutiert. Gerade deshalb ist es wichtig, frühzeitig darüber zu sprechen, bevor sich ähnliche Fronten wie in Deutschland bilden.
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Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch