«Zürich braucht die muslimische Gemeinschaft»
Zürcher Kirchen sollen muslimische Seelsorge mitfinanzieren – ein Vorschlag, der polarisiert. Im Doppelinterview sprechen die religiösen Vertreter:innen Esther Straub und Muris Begovic, über Geld, Vorurteile und die Anerkennung des Islam.
Im Kanton Zürich wächst die Zahl der Muslim:innen – doch öffentlich-rechtlich anerkannt ist ihre Glaubensgemeinschaft bis heute nicht.
Am 18. November stimmt die Reformierte Kirche Zürich nun darüber ab, ob sie nicht anerkannte Glaubensgemeinschaften mit sechs Millionen Franken unterstützen soll. Der mit Abstand grösste Anteil – 1,5 Millionen – ginge an die muslimische Seelsorge.
Im Kantonsrat und in Kommentar- und Meinungsspalten führte diese Frage zu hitzigen Debatten. Gleichzeitig verhandeln die alten Landeskirchen und die muslimische Gemeinschaft die Grenzen ihrer Institutionen neu: Muris Begovic hat als Präsident der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) die Gelder beantragt, Esther Straub steht als Kirchenratspräsidentin dem Parlament der reformierten Kirche vor. Nina Graf: Die Debatte über die Finanzierung muslimischer Seelsorge hat viele Reaktionen ausgelöst. Herr Begovic, wie erleben Sie diese Diskussion?
Muris Begovic, Präsident VIOZ: Die Debatte soll sachlich wirken, zielt aber auf Emotionen ab. Im Vorfeld der Abstimmung erschienen Artikel, die Muslim:innen ein mangelndes Rechtsstaatsverständnis oder fehlende demokratische Haltung unterstellen. Wir sollen uns dann rechtfertigen und abgrenzen. Innerhalb der muslimischen Gemeinschaft führt das zu Verunsicherung. Wenn Muslim:innen nur durch die Brille von Schlagworten wie Extremismus, Radikalisierung oder Kopftuchzwang gesehen werden, reduziert das eine vielfältige Gemeinschaft auf wenige Randphänomene.
Esther Straub, reformierte Kirchenratspräsidentin: Solche Zuspitzungen kommen immer wieder vor. Im Vorfeld der Debatte über den kirchlichen Rahmenkredit vor anderthalb Jahren gab es Artikel mit der Überschrift «Keine Millionen für Mohammed». Schlagzeilen wie diese sollen ganz bestimmte Bilder in den Köpfen der Leser:innen hervorrufen.
Frau Straub, Sie befürworten die Verteilung der Gelder an die muslimische Glaubensgemeinschaft. Warum wollen Sie Ihre Konkurrenz stärken?
Straub: Ganz einfach: Weil die muslimische Glaubensgemeinschaft nicht unsere Konkurrenz ist. Am Beispiel Seelsorge: Für uns ist zentral, dass die Seelsorge von einer religiösen Gemeinschaft verantwortet wird. Daher sind wir darauf angewiesen, dass die anderen Religionsgemeinschaften mitziehen. Wir sind also Partner, nicht Konkurrenten.
Begovic: Der Kanton Zürich ist im Bereich der muslimischen Seelsorge sehr viel fortgeschrittener als andere Kantone: Gemeinsam mit den beiden Kirchen und der Direktion der Justiz und des Innern hat die VIOZ 2017 den Verein für Qualitätssicherung muslimischer Seelsorge in öffentlichen Institutionen gegründet. Die Förderphase ist der nächste Schritt.
«Der Kanton wollte bis 2025 entsprechende Rechtsgrundlagen ausarbeiten, das ist nicht gelungen.»
Esther Straub, reformierte Kirchenratspräsidentin
Diese Arbeit könnten auch andere übernehmen – warum also die Kirche?
Straub: Die kantonalen Gelder werden für kirchliche Tätigkeiten gesprochen, die der gesamten Gesellschaft zugutekommen – egal, ob die Person im Spitalbett, im Asylzentrum oder der Gefängniszelle Kirchensteuern bezahlt.
In der Synode, dem Parlament der Reformierten, gab es aber deutliche Kritik daran, dass nicht der Kanton, sondern die Kirche diese Geldervergabe tätigen muss. Warum übernehmen sie diese Rolle?
Straub: Der Kanton wollte bis 2025 entsprechende Rechtsgrundlagen ausarbeiten, das ist nicht gelungen. Die Kirchen füllen diese Lücke übergangsweise und übernehmen für den Kanton eine Pilotphase bis zur Ausarbeitung eines Gesetzes. Die grossen, nicht anerkannten Religionsgemeinschaften müssen eingebunden werden, wenn sie Arbeit leisten, die der Gesamtgesellschaft zugutekommt.
Das sehen nicht alle so: Der Zürcher Kantonsrat unterstützt vorläufig eine Initiative von SVP und FDP, die genau das verbieten will – dass öffentliches Geld via Kirchen an nicht anerkannte Religionsgemeinschaften gelangt.
Straub: Diese Initiative ist schlicht obsolet. Auch wir Kirchen wollen, dass in sechs Jahren, nach Ablauf der Pilotphase, der Staat übernimmt – es ist ganz klar seine Aufgabe.
Die NZZ berichtete kürzlich von Moscheen im Zürcher Oberland, die vom türkischen Staat finanziert werden sollen. Der Vorwurf: ideologische Einflussnahme auf die lokalen Gemeinschaften. Wie stellen Sie sicher, dass die Mittel für die beantragten Zwecke eingesetzt werden?
Straub: Wir werden von der VIOZ wie auch von den anderen Glaubensgemeinschaften ein externes Controlling einfordern. So können wir nachweisen, dass das Geld nur für den vorgesehenen Zweck verwendet wird.
Begovic: Dieser Vorgang ist auch in unserem Sinne. Unsere Zusammenarbeit soll klar geregelt werden.
Sie haben unterschiedliche Voraussetzungen: Die Reformierte Kirche ist gerade in Zürich historisch tief verankert, hat aber mit sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen. Die muslimische Gemeinschaft hingegen wächst, ist aber rechtlich nicht anerkannt. Wie zeigt sich das in Ihrer Arbeit?
Begovic: Etwa bei den Strukturen. Der VIOZ hat keine Kommunikationsabteilung. Meine Arbeit als Präsident ist ehrenamtlich. Bei Ereignissen wie zum Beispiel beim Anschlag auf die Schwarze Madonna in Einsiedeln fehlten uns schlicht die Kapazitäten, zu reagieren. Die öffentliche Wirkung ist: «Die Muslim:innen schweigen.» Um auf Augenhöhe zu agieren, müssen wir unseren Verband professionalisieren können.
«Esther [Straub] sagt mir immer wieder ‹es ist an der Zeit, dass ihr eine Imamin habt›. Aber das heisst nicht, dass sie mir das als Bedingung stellt für die Zusammenarbeit.»
Muris Begovic, Präsident VIOZ
Ein Argument der Befürworter:innen ist, dass durch die Geldvergabe der kritische Dialog unter den Glaubensgemeinschaften gefördert werde. Frau Straub, sprechen Sie mit Ihren muslimischen Kolleg:innen etwa über die Rolle der Frau im Islam?
Straub: Der Dialog ist Teil unseres Alltags, etwa am Interreligiösen Runden Tisch. Aber wir mischen uns nicht in interne Angelegenheiten anderer Religionsgemeinschaften ein. Es ist uns bewusst, dass bei den Katholiken oder bei den muslimischen Vereinen Frauen kein geistliches Leitungsamt übernehmen können. Das respektieren wir, auch wenn wir eine andere Haltung haben.
Begovic: Esther [Straub] sagt mir immer wieder «es ist an der Zeit, dass ihr eine Imamin habt» …
Straub: Stimmt!
Begovic: .. aber das heisst nicht, dass sie mir das als Bedingung stellt für die Zusammenarbeit. Diese Art von Partnerschaft haben wir Gott sei Dank nicht.
Herr Begovic, können Sie reformierte Pfarrer:innen auf antimuslimischen Rassismus ansprechen?
Begovic: Es gibt ein Beispiel, das mir gerade einfällt: Eine Spitalseelsorgerin erlebte antimuslimischen Rassismus – durch einen Patienten. Sie wandte sich daraufhin an ihre reformierte Kollegin und fand bei ihr Unterstützung.
Ich stelle mir aber vor, dass es auch zu Reibereien kommt.
Begovic: Dass wir unterschiedlich sind, das macht uns ja aus – das können wir aber auch nutzen. In vielen muslimischen Kulturen in Bosnien, Pakistan, Afghanistan bittet man Gäste immer herein, selbst wenn man erschöpft ist. Unsere Seelsorger:innen erklären ihren christlichen Kolleg:innen, wie man solche Situationen respektvoll handhabt. Dass man zweimal nachfragt, bevor man ein Zimmer betritt.
Laut einer Studie wird Seelsorge immer mehr geschätzt. Auch von Menschen, die nicht Kirchenmitglied sind. Woran liegt das?
Straub: Im Gefängnis sieht man das am besten. Während die Beziehung zwischen Inhaftierten und Personal klar strukturiert ist, kommt der Seelsorger von Aussen. Die Inhaftierten wissen, dass der Inhalt dieser Gespräche nicht an den Justizapparat weitergegeben werden. Dieses Vertrauen wäre nicht möglich, wenn die Seelsorger:innen direkt vom Gefängnis angestellt oder finanziert wären.
Begovic: Auch wenn ein Muslim nicht fünfmal am Tag die Moschee besucht und eine Christin nur an Weihnachten in die Kirche geht, haben die Menschen einen Bezug zur Gemeinschaft, der sie zugehörig sind. Und in Krisensituationen brauche ich jemanden, der mich versteht, meine Tradition, meine Herkunft. Diese Anbindung an die Gemeinschaft können wir als Religionsgemeinschaften bieten.
«Oft ist Religionspolitik darauf beschränkt, dass wir über ein Kopftuchverbot reden.»
Muris Begovic, VIOZ
Die katholische Kirche hat vor zwei Wochen bereits Ja gesagt zur Finanzierung der muslimischen Seelsorge. Ist das für Sie eine Bestätigung Ihrer Arbeit?
Begovic: Das war ein historischer Moment und eine Anerkennung unserer Arbeit. Man anerkennt, dass Zürich die muslimische Gemeinschaft braucht.
Laut Prognosen wird die muslimische Bevölkerung in Zürich weiter wachsen. Bräuchte es da nicht eine öffentlich-rechtliche Anerkennung der muslimischen Gemeinschaft, um der gelebten Realität in Zürich gerecht zu werden?
Begovic: So einfach ist das nicht. Denn welche muslimische Religionsgemeinschaft würde man anerkennen – die bosnische, die türkische? Zuerst braucht es eine klare, schweizweite Religionspolitik. Oft ist Religionspolitik aber darauf beschränkt, dass wir über ein Kopftuchverbot reden. Da bevorzuge ich den pragmatischen Zürcher Weg: Anerkennen, was geleistet wird und diese Strukturen dann fördern.
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Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Master in Geschichte und Medienwissenschaft an der Universität Basel. Praktikum beim SRF Kassensturz, während dem Studium Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem SNF-Forschungsprojekt zu Innovation im Lokaljournalismus. Seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 Redaktorin bei Tsüri.ch.