Täglich bis zu 2000 Kund:innen

Wenn der SBB-Schalter am Zürcher Hauptbahnhof zum Therapiesessel wird

Wer im Zürcher Hauptbahnhof eine Nummer zieht, landet bei SBB-Mitarbeitenden wie Juliana Jevtic. Jeden Tag berät sie Reisende zu Fahrplänen und Tickets und erlebt dabei auch Beleidigungen oder Gespräche, die unerwartet persönlich werden.

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Zu Stosszeiten kommt es im Reisezentrum am Zürcher Hauptbahnhof regelmässig zu langen Wartezeiten. (Bild: Sophie Wagner)

«Wie kann ich Ihnen helfen?»

Mit ruhiger Stimme begrüsst Juliana Jevtic zwei Männer am Schalter. Sie wollen von Pfäffikon nach Wien reisen. Während auf dem Bildschirm das Ticketsystem flimmert, schlägt Jevtic einen Nachtzug für die Rückfahrt vor.

Das Reisezentrum im Zürcher Hauptbahnhof wirkt wie eine eigene kleine Welt. Zwischen Marmorsäulen und hellem Licht ziehen Menschen ihre Wartenummer, während Stimmengewirr und das Rollen von Koffern über den Steinboden hallen. Ganz vorne steht die «Welcome»-Schicht, die Kund:innen zum Ticketverkauf, Fundbüro oder Geldwechsel weist.

Bis zu 2000 Kund:innen pro Tag

Je nach Einsatz arbeitet Jevtic an all diesen Stationen: Sie plant Gruppenreisen für Tourist:innen, beruhigt Pendler:innen, deren Anschluss verloren gegangen ist, oder kümmert sich um vergessene Koffer. «Wir dürfen Trinkgeld bis 100 Franken annehmen, dafür haben wir eine gemeinsame Trinkgeldkasse. Ab und zu bringen uns Kund:innen auch kleine Geschenke, um ihre Dankbarkeit zu zeigen», sagt sie.

Die Belastung verteile sich über den Tag, sagt die Co-Leiterin Eliane Neuhaus. «Besonders ab 10 Uhr am Morgen und dann wieder am Feierabend, gegen 17 oder 18 Uhr, haben wir viele Leute im Reisezentrum.» Kommt es zu Zugausfällen, steigt die Zahl sprunghaft an: «Wenn ein internationaler Zug ausfällt, dann haben wir schnell hundert Leute gleichzeitig im Reisezentrum. Das ist eine Herausforderung für unsere Beratenden.»

Das Kundenverhalten habe sich verändert, sagt Eliane Neuhaus. Zwar sinke die Zahl der Menschen, die ein Reisezentrum aufsuchen. Doch die Anliegen sind laut ihr komplexer geworden. «Heute kommen viele, weil sie online nicht weiterkommen – sei es mit Apps, Handy-Registrierungen oder beim Zurückgeben von Tickets.» Diese Probleme würden alle Alterskategorien betreffen.

«Ich blende irgendwann aus, wie viele Menschen um einen herum sind», erzählt Juliana Jevtic. «Wenn ich jeden einzelnen wahrnehmen würde, würde ich verrückt werden.» Und tatsächlich: An diesem Donnerstagnachmittag beträgt die Wartezeit am Schalter 40 Minuten.

Juliana Jevtic SBB-Schalter
Juliana Jevtic arbeitet seit sechs Jahren als Beraterin bei den SBB. (Bild: Sophie Wagner)

Im Reisezentrum Zürich HB arbeiten derzeit rund 140 Mitarbeiter:innen. «Der Fachkräftemangel betrifft uns in diesem Bereich derzeit nicht», sagt Neuhaus.

Die Menschen warten in lockeren Gruppen, lehnen an Marmorsäulen oder blicken unruhig auf ihre Zahl am Bildschirm. Zwischen den Schaltern reihen sich kleine Verkaufsflächen: Reiseführer und Souvenirs, von Uhren über Kugelschreiber mit Schweizer Kreuzen bis zu Postkarten, sollen die Wartezeit erträglicher machen.

Grenzüberschreitungen am Schalter

Die meisten Kund:innen würden geduldig ausharren, doch nicht jedes Gespräch verlaufe harmonisch. «Es passiert schon, dass Leute beleidigend werden», erzählt Jevtic. Einmal habe sie ein Kunde «Schlampe» genannt, nur weil sein Zug Verspätung hatte. Andere überschreiten ihr zufolge die Grenzen noch deutlicher – in Form von Beleidigungen oder unangebrachten Anmachsprüchen.

«Ich versuche, Vorfälle mit Kund:innen nicht mit nach Hause zu nehmen. Die Leute haben ihre eigenen Probleme. Man ist ein Ventil.»

Juliana Jevtic, Beraterin am SBB-Schalter

Was viele nicht wissen: Beschimpfungen von SBB-Mitarbeitenden gelten rechtlich wie verbale Angriffe auf Beamt:innen oder die Polizei. Wer am Schalter beleidigt, riskiert eine Anzeige und juristische Konsequenzen. «Wir melden solche Vorfälle», sagt Jevtic. «Aber ich versuche, sie nicht mit nach Hause zu nehmen. Die Leute haben ihre eigenen Probleme. Man ist ein Ventil.»

Doch es komme auch immer wieder zu berührenden Momenten. «Manchmal gleicht der Schalter eher einem Therapiesessel.» Menschen erzählten von ihrem Haus, das in Flammen stand, ihrer Obdachlosigkeit oder suchen generell Rat. «Letzte Woche habe ich einem alten Mann zugehört. Er konnte bei mir seine Sorgen abladen und hat am Schluss geweint.» Auch solche Momente gehören zu Jevtics Job als Beraterin am Schalter.

In einem Tag nach Venedig und zurück

Jevtic arbeitet seit über sechs Jahren bei den SBB, mit Stationen in Winterthur, Wetzikon und Zürich. Am Hauptbahnhof, sagt sie, sei es vielfältiger als an jedem anderen Ort. Was sie motiviert: «Die Menschen. Ich liebe es, mit Leuten zu arbeiten, vor allem mit Tourist:innen.» Sie lacht, als sie erzählt, wie sie manchmal Reisenden einen «Realitätscheck» gibt – etwa, wenn eine Amerikanerin einen Tagesausflug nach Venedig plant.

«Meine Gespräche, wenn ich mit SBB-Leuten unterwegs bin… Oh mein Gott, das ist ein ICE! Der kommt von da und da und geht dorthin. Man ist total in einer Blase, wenn man bei den SBB arbeitet», erzählt sie weiter.

Doch aktuell sitzt Juliana Jevtic hinter dem Schalter, die Hände ruhig auf der Tastatur. Seit 20 Minuten berät sie zwei Männer, die eine Reise nach Wien buchen möchten. Noch ein letzter Klick, die Tickets drucken aus dem Automaten, die beiden bedanken sich und ziehen zufrieden davon.

Zwei Sekunden Ruhe, bevor auf dem Bildschirm die nächste Nummer aufleuchtet, das Lämpchen am Schalter 24 blinkt, Jevtic wieder lächelt und fragt: «Wie kann ich Ihnen helfen?» 

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sophie

Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch

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