Studierende in der Seebahn-Kolonie: Der Letzte macht das Licht aus

Nach 100 Jahren Geschichte schreiben Studierende das letzte Kapitel der Seebahn-Kolonie. Wo sie hin sollen, wenn die Siedlung bald abgerissen wird, ist ungewiss.

Seit 1930 steht die BEP-Siedlung als Teil der Seebahn-Kolonie im Kreis 4. (Bild: Nina Graf)

Die Bewohner:innen der Seebahn-Kolonie leben mit einem Ämtliplan und der Gewissheit, dass es ihr Zuhause bald nicht mehr gibt.

Nach zwei Jahrzehnten voller Verzögerungen und Aufschüben, hiess Ende September der Stadtrat die Pläne für den Neubau gut. Sagen nun auch Gemeinderat und Kanton «Ja», könnten die Bauarbeiten 2026 starten.

In der Küche an der Erismannstrasse sieht man aber nichts von einem drohenden Abriss. 

Leben mit dem Abriss 

Postkarten dekorieren die Wände, am Kühlschrank hängen Automatenfotos der Bewohner:innen. Es riecht nach Kaffee aus der Bialetti, nach alten Holzmöbeln und frischem Waschmittel – nach Leben in einer WG.

«Man gewöhnt sich an das Gefühl, dass irgendwann die Kündigung kommt. Vielleicht bin ich auch einfach gut im Verdrängen», sagt Larissa. Sie war die erste, die vor dreieinhalb Jahren in das Haus der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) eingezogen ist. Uorsin hat sie an einer Party vor zwei Jahren kennengelernt, als er ein Zimmer und sie einen Mitbewohner suchte.

Die Wohnung wird wie alle anderen in der Siedlung vom Jugendwohnnetz (JUWO) an Studierende und Lehrlinge untervermietet.

Weil sie zu dritt in der Wohnung leben, ist die Küche das Wohnzimmer von Larissa und Uorsin. (Bild: Nina Graf)
Zettel wie dieser hier ordnen das Leben in jeder WG. (Bild: Nina Graf)

«Offiziell wissen wir nicht, dass die Immobilie abgerissen wird», sagt Larissa. Ihre Mietverträge sind unbefristet. Aber die Pläne der Seebahn-Kolonie sind allen bekannt. Und wohne man in einer JUWO-Wohnung, sei es oft so, dass das Haus abgerissen werden soll, der Termin mit etwas Glück dann aber doch noch nach hinten verschoben wird.

Man muss einfach die Nerven bewahren. Die Kündigungsfrist beträgt gemäss Vertrag drei Monate.



Nicht für alle gibt es eine Anschlusslösung 

Die Genossenschaften BEP und ABZ planen seit zwei Jahrzehnten den Abriss und Neubau der Arbeiter:innensiedlung von 1930. Und seitdem mietete sich die gemeinnützige Organisation JUWO nach und nach hier ein. Heute ist die Siedlung eine der größten Anlagen in ihrem Portfolio, 118 ihrer insgesamt 1800 Wohnungen liegen zwischen der Erismann- und der Seebahnstrasse. Die Blockrandbebauungen sind das Zuhause von 261 jungen Menschen.

Für diese Rechnung braucht es kein Mathematikstudium: Wird die Siedlung abgerissen, dann fehlt es dem JUWO an Platz. 

«Die Seebahn-Kolonie ist eine grosse Kund:in von uns. Und es ist leider so: Wir werden nicht allen Mieter:innen eine Anschlusslösung in einer JUWO-Immobilie bieten können», sagt Alisha Müller, Bereichsleiterin Immobilienbewirtschaftung und Mitglied der JUWO-Geschäftsleitung. Die betroffenen Mieter:innen würden einen bevorzugten Platz auf der JUWO-Warteliste für neue Wohnungen erhalten, aber es werde nicht möglich sein, alle unterzubringen. 

Aus der Stadt raus

Am Küchentisch macht Uorsin deutlich, was es heissen würde, wenn er keine JUWO-Wohnung findet. In der 3-Zimmerwohnung leben sie zu dritt, die Miete von 1158 Franken beträgt pro Person etwa 400 Franken im Monat, inklusive Nebenkosten. Das klingt nach einem Schnäppchen – viel mehr können sich die Bewohner:innen aber auch gar nicht leisten.

Der 27-Jährige studiert Soziale Arbeit. Daneben arbeitet er im Stundenlohn und kommt so je nach Monat auf einen Lohn von 1000 bis 1500 Franken.

Laut einer Erhebung des Kantons liegt die durchschnittliche Einzugsmiete in der Stadt Zürich je nach Baujahr der Immobilie zwischen 2000 und 2390 Franken monatlich. Der Monatslohn sollte dreimal so hoch sein.

Eine Wohnung auf dem regulären Markt zu finden, wird für den Studenten also schwierig: «Wenn ich keine JUWO-Wohnung mehr finde, dann bedeutet das vermutlich, dass ich es mir nicht mehr leisten kann, in der Stadt zu wohnen.»

Kaffee aus der Bialetti und eine Küche aus dem letzten Jahrhundert. (Bild: Nina Graf)
Im Trockenraum unter dem Dach hängen die Bewohner:innen die Wäsche auf oder lagern sie zwischenzeitlich am Boden. (Bild: Nina Graf)

Auf der Warteliste des JUWO stehen im Schnitt 2000 Personen, die Zahl hält sich seit Jahren konstant. Einen Platz auf der Liste kriegt nur, wer sich bei der Anmeldung im Studium oder in einer Ausbildung befindet, maximal 28 Jahre alt ist und ein jährliches Einkommen von weniger als 30`000 Franken hat.

Wohnungen untervermieten

Das Unternehmensmodell des JUWO ist sowas wie eine professionalisierte Untervermietung. Der Verein hat einige eigene Immobilien, den Grossteil aber mietet er von Dritten.

Neue Liegenschaften erhalten sie durch langjährige Zusammenarbeit mit Genossenschaften und grösseren privaten Verwaltungen. Wird bekannt, dass Wohnungen frei werden oder ein Umbau ansteht, reicht das JUWO ein Angebot ein. Die Miete pro Zimmer sollte dabei zwischen 450 und 600 Franken liegen. Für die Eigentümer:innen bedeutet das zwar oft eine Senkung des Mietzinses, aber «eine Zusammenarbeit mit uns ist lukrativ für die Verwaltungen», erklärt Alisha Müller. Es gäbe keine Zahlungslücken, man habe nur eine Ansprechspartnerin und der Verein kümmert sich um die Verwaltung.

In den neuen Seebahnhöfen ist das JUWO bis jetzt nicht eingeplant, gemäss Müller bestünde aber Interesse. 350 Wohnungen soll es einst geben, die bis zu 1000 Personen aufnehmen. 500 Personen mehr als bisher. «Gemäss Angaben des Planungsbüros sind ja auch 9.5-Zimmerwohnungen geplant. Die wären prädestiniert für WGs», sagt Müller.

Haushohe Bäume begrünen den Innenhof der Blockrandbebauung. (Bild: Nina Graf)
Die Küche ist gleichzeitig das Wohnzimmer. (Bild: Nina Graf)

Wohnungswechsel einmal quer durch den begrünten Innenhof mit den alten Bäumen.

Beim Betreten der Wohnung ein Déja-vu: Es ist derselbe Gang mit den roten Fliesen, rechts vom Eingang das Bad mit dem altertümlichen Blumenmuster. Eins, zwei, drei Zimmer gehen im Uhrzeigersinn vom Gang weg. Dann folgt die Küche mit der Loggia, die in den kalten Monaten gleichzeitig als Raucherbalkon und zweiter Kühlschrank funktioniert. 

Noah ist im Sommer des ersten Coronajahres eingezogen. Bevor Livia dazustiess, wohnte sie für einige Zeit in einem Mehrgenerationenhaus. Dort gab es viele Regeln, die das Zusammensein strukturierten. Nun geniesst sie das vergleichsweise freie Leben hier im JUWO-Haus.

Berühmte Dachterrassen

Dabei sei das Zusammenleben im Haus viel ruhiger, als sich das Externe vorstellen. «Eigentlich lebt jede WG für sich. Hin und wieder zieht jemand aus, dann sieht man ein neues Gesicht im Gang», sagt Livia. «Ausser jemand veranstaltet ein Fest», ergänzt Noah.

Die Seebahn-Kolonien besitzen einige der legendärsten Dachterrassen Zürichs. Von ihnen aus sieht man das Lochergut, den Swissmill-Turm, den Fernsehturm auf dem Uetliberg. Ein beliebter Ort für Feste – vor allem während der Sommermonate flattert deswegen einmal im Monat ein mahnender Brief der JUWO in die Briefkästen.

Die Dachterrassen der BEP sind Treffpunkt für ganz Zürich, nicht nur die Anwohner:innen. (Bild: Nina Graf)
Ein Haus verwaltet sich selbst. (Bild: Nina Graf)

«Alle kennen die Seebahn-Kolonie», sagt Noah. «Entweder weil sie jemanden kennen, der hier wohnt oder weil sie schon mal auf einer Party waren. Die Seebahn-Kolonie ist Teil der Geschichte von Zürich.»

Stadt hat immer weniger Platz für ihre Studierenden

Wie lange ist es noch möglich, dass junge Menschen in derselben Stadt leben, wie sie studieren? Auch das JUWO merkt die Auswirkungen vom aufgeheizten Zürcher Wohnungsmarkt.

«Es war schon immer schwierig für uns, in der Stadt neuen Wohnraum zu finden, weil wir nur einen tiefen Mietzins anbieten können. In der Tendenz geht es deswegen raus in die Peripherie», sagt Alisha Müller. Letzte Woche habe sie eine Immobilie in Horgen besucht.

Die Studierenden würden am liebsten zentral leben wollen, möglichst im Kreis 4, 5 oder 6. Dieser Wunsch sei nachvollziehbar, meint Müller und es sei auch für eine Stadt wünschenswert, dass sie auch Platz hat für junge Menschen mit tiefem Einkommen. «Mit dem JUWO garantieren wir ja, dass in einem Quartier soziale Durchmischung stattfinden kann. Aber wir alleine reichen halt nicht, um das zu ermöglichen.»

In einer Arbeit hat Noah die letzten Bewohner:innen der Seebahnkolonie festgehalten. (Bild: Nina Graf)
Livias Zimmer grenzt direkt an die Seebahnstrasse – schlafen mit offenem Fenster geht nicht. (Bild: Nina Graf)

Noah hat für sein Studium in Visueller Kommunikation die Bewohner:innen der Seebahnkolonie dokumentiert. Der Bildband zeigt junge Menschen in ihren Zimmern. Einige Räume sind voll mit Büchern, Ordnern, Pflanzen, bei anderen liegt die Matratze direkt auf dem Boden.

Nachdem vor hundert Jahren Arbeiter:innen die ersten Bewohner:innen waren, begleiten nun Studierende die Seebahn-Kolonie ins letzte Kapitel ihrer 100-jährigen Geschichte. Wo es für die jungen Menschen einst hingeht, wenn die Bagger anrollen und ob die Stadt noch Platz hat für sie, das wird sich erst zeigen.

Hier erfährst du mehr über das Projekt Neubauprojekt: «Seebahn-Höfe» – zwei Jahrzehnte Planung für 350 neue Wohnungen.

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