Sicherheit und Verunsicherung: Gedenken und Gespräch nach dem 7. Oktober

Ein Jahr ist der Angriff der Hamas auf Israel her, seither herrscht in Gaza und in Libanon Krieg. Ein Podium will in dieser polarisierten Zeit Raum für Reflexion und Verarbeitung bieten – besonders aus feministischer, queerer und jüdischer Sicht.

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Auf dem Podium vertreten waren Do Graff, Anna Jikhareva, Simon Jacoby (Moderation), Laura Cazés und Philip Bessermann (v.l.n.r).

«Bist du sicher?», fragt der Titel des Podiums. Und diese Frage trifft eigentlich schon den Kern der Diskussion: Am 6. Oktober fand im C.F.Meyer-Haus in Kilchberg eine Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Massakers vom 7. Oktober statt. Das Wort «sicher» verweist hier nicht nur auf Sicherheit, sondern auch auf Zweifel und ganz grundsätzliche Verunsicherung anlässlich des grossen Leids und Grauens, die der Angriff der Hamas auf Israel und die darauffolgende militärische Reaktion in Gaza und im Libanon mit sich gebracht haben.

Mitgefühl für dieses Leid bildete den Ausgangspunkt der Diskussion, die sich jedoch nicht auf die Situation in Israel und Palästina konzentrierte, sondern auf die Lage hier in Zürich, der Schweiz und Deutschland. Spätestens seit dem Ausbruch des Gaza-Krieges haben sich hier die Debatten polarisiert, Ambivalenzen finden kaum mehr Räume und das gemeinsame Sprechen ist schwieriger geworden. Ins Leben gerufen hat sie die Organisation Feministisch*Komplex, mitveranstaltet wurde der Anlass von Tsüri.ch, Maison du Futur und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). 

Polarisierung brennt Zwischenräume aus

Moderator und Tsüri-Chefredaktor Simon Jacoby fragte die Podiumsgäste als Einstieg nach Begriffen, die im persönlichen Erleben vergangenes Jahr zentral waren. So sprach Laura Cazés, die unter anderem 2022 den Sammelband «Sicher sind wir nicht geblieben – Jüdischsein in Deutschland» herausgegeben hat, von der «Isolation», die viele jüdische Menschen hierzulande derzeit erleben, und dem «Ringen mit Gleichzeitigkeiten», die das eigene Jüdischsein angesichts der politischen Spannungen auslöst. Die WOZ-Journalistin Anna Jikhareva ergänzte, dass das vergangene Jahr von Einsamkeit geprägt war, verbunden mit Unsicherheiten über die eigene politische Positionierung.

Philip Bessermann, Geschäftsleiter der GRA, stellte die Meinungsäusserungsfreiheit in den Vordergrund, die während der Nahost-Debatte in der Schweiz immer wieder thematisiert wurde – und für ihn Grenzen hat. Herausgestochen sei für ihn ausserdem der Begriff «Globalized Intifada»: «Um mit solchen Begriffen umzugehen, sind wir heute alle gezwungen, Expert:innen zu werden», sagte Bessermann. Do Graff, Mitgründer:in des Kollektivs Feministisch*Komplex, nannte den Begriff «Flintifada», eine Verbindung aus dem Wort «FLINTA», das queere Menschen Identität und Zuhause gibt, und «Intifada», der Aufstand und Befreiung bedeutet, aber auch mit terroristischen Angriffen in Verbindung steht. Die Vermischung der beiden Begriffe habe Graff tief getroffen. 

Graffs queerer Aktivismus brachte sie immer wieder in die Bredouille: Eine Schwierigkeit sei beispielsweise gewesen, dass beim Finale des Eurovision Song Contests in links-aktivistischen Kreisen dazu aufgerufen wurde, den Event wegen der Teilnahme von Israel zu boykottieren. Obwohl es die Chance gab, dass mit Nemo zum ersten Mal eine queere Person gewinnen konnte – was dann auch passierte. Graff musste sich hier vermehrt einer neuen Querfront stellen, die zu persönlichen Verletzungen führte. «Wir mussten bei den Prides Vorfälle miterleben, wo uns gesagt wurde: ‹Zionist:innen verpisst euch!›» Zudem seien sie gefilmt und verbal attackiert worden. «Und das nur, weil ich da mitgelaufen bin, wo eine Regenbogenfahne mit dem Davidstern geschwungen wurde. Obwohl das nichts mit Israel direkt zu tun hat.»

Solche Geschichten füllten den Raum mit grosser Betroffenheit. Die starke Polarisierung brennt die Zwischenräume aus, welche die Grundlage für gemeinsame Anteilnahme bilden – dies wurde auf dem Podium immer wieder erwähnt. 

«Diskurse gefährden Menschen»

Diese Polarisierung sei auch in der medialen Berichterstattung spürbar, sagte Anna Jikhareva. Die journalistische Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt, aber auch mit damit verbundenen Themen wie Antisemitismus und Islamophobie, sei oft einseitig. Palästinensische Stimmen fänden nur wenig Gehör, was eine gefährliche Radikalisierung begünstige, da moderate Positionen aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden würden. Diese Verengung der Debattenräume führe dazu, dass extremere Ansichten an Einfluss gewinnen und die Bereitschaft zum Dialog abnehme, so Jikhareva.

Zum Thema des öffentlichen Diskurses fügte Laura Cazés hinzu: «Die Diskurse sind nicht nur eine Frage politischer Differenzen, sondern sie gefährden Menschen.» Dabei sei es leider so, dass die Gefährdungslage von Minderheiten eine andere ist als beim Rest der Gesellschaft. 

Und wenn dies der Fall sei, dann müssten diese Personen geschützt werden. «Und man muss sich solidarisch zeigen. Dies ist die Grundvoraussetzung, um in einen Dialog zu treten», sagte Cazés. 

«Rassismus wird gegen Antisemitismus ausgespielt. Dies dürfen wir nicht zulassen.»

Do Graff, Mitgründer:in des Kollektivs Feministisch*Komplex

Philip Bessermann von der GRA belegte diese Gefährdung mit Zahlen. Die Anzahl rassistischer und antisemitischer Vorfälle in der Schweiz hat sich ihm zufolge seit dem 7. Oktober 2023 massiv erhöht. Und in letzter Zeit habe sich die Zahl auf einem viel höheren Niveau als zuvor eingependelt. «Zudem gibt es aber auch viel mehr Meldungen, als dass nach Standards der International Holocaust Remembrance Alliance überhaupt als antisemitischer Vorfall deklariert wird», so Bessermann. Dies weise darauf hin, dass sich viele Personen bedroht fühlen von antiisraelischen Äusserungen oder Graffitis, die nicht zwingend in die Kategorie von Antisemitismus fallen.

Was tun anlässlich der zugespitzten Lage? «Rassismus wird gegen Antisemitismus ausgespielt und dies dürfen wir nicht zulassen», sagte Graff. Wir müssten ein neues Vokabular miteinander finden und ins Gespräch kommen. Anna Jikhareva ergänzte: Dafür brauche es Räume, die sich der Polarisierung entziehen. Wichtig sei auch, Allianzen zu schmieden für die Leute, die bereit sind, Ambivalenzen auszuhalten.

Die Polarisierung der Debatte wird uns noch begleiten, sind sich die Podiumsteilnehmer:innen sicher. Dies habe auch damit zu tun, wer davon profitiert. «Rechtsextremen Akteur:innen ist viel daran gelegen, Demokratien zu gefährden», sagte Laura Cazés. Deshalb sei es wichtig, sich vor allem auf diese Kräfte zu konzentrieren.

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