Aufwachsen in Schwamendingen: «Jugendliche brauchen konfliktfähige Räume»

SP-Gemeinderat Dafi Muharemi und Sozialarbeiter Philippe Haldi kennen den Kreis 12 aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie wissen, wie es den Jugendlichen geht und wo das Quartier auf politischer Ebene vernachlässigt wird. Ein Spaziergang durch das Schwamendinger Quartier Hirzenbach.

Philippe Haldi, Dafi Muharemi
Philippe Haldi und Dafi Muharemi diskutieren die Veränderunen im Quartier. (Bild: Yves De Prà)

Nirgends fühlt sich Zürich grossstädtischer an als im Tram nach Schwamendingen. Während sich das Gefährt durch den Untergrund bewegt, tauchen leibhaftige U-Bahnstationen vor den Fenstern auf: Breite Bahnsteige, blau schimmerndes Licht. Tatsächlich durchfährt man hier ein Überbleibsel des ehrgeizigen Zürcher U-Bahnprojekts, das die Stimmbevölkerung in den 70er-Jahren ablehnte. Seit 1986 kommt man dafür unterirdisch mit dem Tram ins Quartier, das vorher nur durch Buslinien mit dem Rest der Stadt verbunden war.

So urban die Fahrt im Untergrund auch ist, das Auftauchen am Schwamendingerplatz wirkt dann erst einmal ernüchternd: Kein Grossstadt-Flair mit zubetonierten Hochhausschluchten, stattdessen zwei-bis fünfstöckige 50er-Jahre-Bauten, verkehrsberuhigte Strassen und ein hübscher kleiner Wochenmarkt. Hier treffen wir den SP-Gemeinderat Dafi Muharemi und den Jugendarbeiter Philippe Haldi.

Mit den beiden sprechen wir über das Aufwachsen und die Veränderungen in einem Randquartier, das medial auch schon mal als «Problemquartier» oder «Ghetto» bezeichnet wurde, in dem der Ausländer:innenanteil über- und die Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich ist. Und das, wie andere Randquartiere auch, alle paar Jahre durch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen in die Schlagzeilen gerät.

«Wenn viele verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, ist das nicht immer einfach, aber das heisst nicht, dass es ein Problem ist.»

Dafi Muharemi, Gemeinderat

Dafi Muharemi kam 2001 im Alter von 14 Jahren aus dem heutigen Nordmazedonien in die Schweiz. Der SP-Politiker sitzt seit letztem Jahr für den Kreis 12 im Gemeinderat. Als Jugendlicher hat er im benachbarten Oerlikon gewohnt und hat durch den Fussball früh einen Bezug zu Schwamendingen aufgebaut. Muharemi findet den Begriff des «Problemquartiers» falsch und spricht lieber von einem Quartier mit vielen Herausforderungen. Er sagt: «Wenn viele verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, ist das nicht immer einfach, aber das heisst nicht, dass es ein Problem ist. Es geht darum, sich gegenseitig kennenzulernen und Verständnis füreinander zu entwickeln.» Das Quartier sei in seinem Empfinden in den letzten 20 Jahren ruhiger geworden: «Es geht in die richtige Richtung.»

Dafi Muharemi, Philippe Haldi
(Bild: Yves De Prà)

Ein vielfältiger, uneinheitlicher Ort

Auch Philippe Haldi hat ein Problem mit dem Wort «Problemquartier». «Bei diesem Label spielen sehr viele Stereotypen mit. Ich selbst habe Schwamendingen nie als problematisch empfunden, sondern eher als vielfältigen, uneinheitlichen Ort», sagt er. Haldi ist auf dem Land aufgewachsen. Seit 13 Jahren lebt der 33-Jährige in Zürich. Als Jugendarbeiter im GZ Hirzenbach ist er täglich im Austausch mit Jugendlichen aus dem Quartier, unterstützt sie und kümmert sich, wenn sie Probleme haben. «Es geht darum, anzuerkennen, dass es hier einen besonderen Bedarf von Milieus mit tiefen sozioökonomischen Ressourcen gibt», sagt er. Gleichzeitig geht es ihm darum, genau das nicht zu stigmatisieren.

Schulhaus Stettbach
Monument der Beton-Moderne: Das Schulhaus Stettbach. (Bild: Steffen Kolberg)

Hirzenbach ist der Ort unserer Erkundungstour. Ein Quartier, dessen Grenzen am Reissbrett gezogen wurden, als das Bevölkerungswachstum der 50er- und 60er-Jahre eine administrative Aufteilung Schwamendingens nötig machte. Die Autobahn, die Schwamendingen zerschneidet und deren Einhausung wohl vieles verändern wird, liegt in unserem Rücken. Die eingeschlagene Richtung führt zur Stadtgrenze, wo der Bahnhof Stettbach den einzigen S-Bahn-Anschluss für den Kreis darstellt.

Ein Kreis, der politisch vernachlässigt wird

Den ersten Halt erreichen wir schnell: Ein niedriger 50er-Jahre-Bau mit Satteldach auf der Ecke Dübendorf- und Winterthurerstrasse. In ihm befinden sich die Quartierwache der Stadtpolizei, aber auch der Schulärztliche sowie der Schulpsychologische Dienst (SPD) Schwamendingen. In wenigen Jahren soll das Gebäude einem Neubau weichen und die Gesundheitsdienste mitsamt Schulpsychologischem Dienst bereits im nächsten Jahr nach Oerlikon umziehen.

Der Stadtrat hat im letzten Jahr seinen ursprünglichen Plan, die SPD-Standorte in der Stadt drastisch zu reduzieren, zwar revidiert. Doch nun findet er nach eigener Aussage keinen Ersatzstandort mehr, um die Institution im Quartier zu halten. Die Folge: Ab 2024 wird Schwamendingen als einziger Zürcher Stadtkreis wohl keinen eigenen Schulpsychologischen Dienst mehr haben. Eltern, Schulkinder sowie Lehr- und Betreuungspersonen müssten für die Beratungsleistungen dann nach Oerlikon fahren. Dabei seien die Hürden, eine solche Hilfeleistung anzunehmen, gerade in Familien mit bildungsfernem Hintergrund gross, meint Muharemi. Und davon gebe es in Schwamendingen eben mehr als in manchen anderen Stadtteilen.

Dübendorfstrasse, Schwamendingen
Überall Bauvisiere: Alte Mehrfamilienhäuser an der Dübendorfstrasse. (Bild: Steffen Kolberg)

Haldi bestätigt diese Einschätzung aus der Sicht der Sozialen Arbeit. Denn auch der Sozialdienst für Schwamendingen befindet sich in Oerlikon, was für einige Menschen eine Hürde sei: «Gerade bei Milieus von Menschen, die vielleicht auch weniger sprachliche und kulturelle Kenntnisse mitbringen oder weniger Selbstverständlichkeit, sich mit psychischer Gesundheit auseinanderzusetzen, muss man sich bemühen, etwas niederschwelliger zu sein.»

Muharemi hat kürzlich ein breit abgestütztes Postulat beim Stadtrat eingereicht, das verlangt, sich noch einmal auf die Suche nach einem Quartierstandort für den SPD zu machen und den Umzug so weit wie möglich hinauszuzögern. Er sieht im momentan geplanten Umzug nach Oerlikon auch ein Zeichen dafür, dass der Kreis 12 politisch manchmal vernachlässigt wird. Hier am Rand der Stadt, wo die meisten Zürcher:innen eher vorbeifahren statt anzuhalten.

Dutzende Häuser dem Abriss geweiht

Dabei gibt es in diesem Quartier durchaus etwas zu sehen, nicht nur weiter oben am Hang des Zürichbergs, wo die Ausflugslokale und Obstwiesen thronen. Auch unten, wo unter dem Label der Gartenstadt in den 50er- bis 70er-Jahren Platz für zehntausende Menschen entstand und die Einwohner:innenzahl in dem ehemals kleinen Dorf sich in kurzer Zeit verzehnfachte.

An der Dübendorfstrasse stehen in unmittelbarer Nachbarschaft zwei Monumente des modernistischen Betonbaus: Die Kirche St. Gallus und das Schulhaus Stettbach, beide im städtischen Inventar schützenswerter Bauten.

Dübendorfstrasse, Schwamendingen
(Bild: Steffen Kolberg)

Auf der gegenüberliegenden Strassenseite ist der Wandel dieses Quartiers hautnah zu spüren: Die typischen zwei- bis dreigeschossigen Satteldachhäuser aus der Aufbauzeit des Quartiers sind zu Dutzenden einvisiert und dem Abriss geweiht. Direkt daneben strahlen die ersten Ersatzneubauten in der Sonne. Wahrscheinlich sei es leichter, hier zu verdichten als irgendwo im Stadtzentrum, glaubt Haldi: «Das liegt auch an der unterschiedlichen Sichtbarkeit von Quartieridentitäten. Aus gesamtstädtischer Sicht ist es einfacher, den Charakter des Kreis 4 oder des Seefelds auszumachen als von Affoltern oder Schwamendingen. Aber viele kleinere identitätsstiftende Orte hier sind inzwischen von diesen Bauprojekten betroffen.»

«Jugendliche brauchen Orte, an denen sie auch noch bis spät herumhängen können.»

Philippe Haldi, Jugendarbeiter

Muharemis Blick schweift entlang der Reihenhäuser. «Das Gesicht des Quartiers, das sind genau diese zwei- bis dreigeschossigen Reihenhäuser, die jetzt langsam verloren gehen», sagt der SP-Politiker. Durch die vielen Ersatzneubauten würden die Mieten auch hier tendenziell teurer, erklärt er, und fügt hinzu: «Wir müssen dafür sorgen, dass der Wohnraum bezahlbar bleibt.» Dank den vielen Genossenschaftswohnungen bewege sich die Steigerung glücklicherweise unter dem Niveau der restlichen Stadt.

Haldi allerdings erzählt davon, dass sich die Fälle häuften, in denen Familien aus ihren Wohnungen müssten und sich dann ausserhalb der Stadtgrenzen, beispielsweise in Wallisellen oder Dübendorf, etwas Neues suchten. «Dafür kommen die Leute, die im Stadtzentrum keine Wohnung mehr finden, dann hierher», sagt er.

Der Ueberlandpark zwischen Ruhebedürfnis und Konfliktpotenzial

Nicht ganz einig sind sich der Politiker und der Jugendarbeiter bei der Einhausung und dem darauf entstehenden Ueberlandpark: Während Muharemi betont, dass er sich besonders auf die Ruhe freue, die mit der Überdeckung der Autobahn einhergehe, sieht Haldi in dem geplanten Park potenzielle Nutzungskonflikte heraufziehen. Zwar habe es einen partizipativen Prozess zur Gestaltung des Parks gegeben, an dem er als Vertreter der Jugendarbeit auch teilgenommen habe. Dieser habe sich aber nicht an die Jugendlichen als Anspruchsgruppe gewandt: «Ein Raum, der nicht mit den Leuten zusammen gestaltet wird, ist anfälliger für Konflikte. Er vergisst Bedürfnisse. Für die Jugendlichen wird es schwierig, sich diesen Park anzueignen.»

Hirzenbach, Schwamendingen
Eine Aussenstelle der Musikschule Konservatorium Zürich befindet sich nahe des GZ Hirzenbach. (Bild: Steffen Kolberg)

Es mangle im Quartier an Orten, die sich an Jugendliche richten würden. Die Stadtentwicklung halte nicht Schritt mit der Entwicklung im Quartier, die davon ausgeht, dass immer mehr junge Menschen im Kreis 12 wohnen. «Jugendliche brauchen Orte, an denen sie auch noch bis spät herumhängen und mal laut sein können, wo sie vielleicht auch mal einen Tag platzieren können. Sie brauchen Räume, die konfliktfähig sind», so Haldi.

Wie es anders geht, zeigt der Aussenraum, der direkt an das GZ Hirzenbach angrenzt. Als wir uns nähern, zeigt Haldi auf mehrere Hügel, hinter denen Jugendliche ungestört und ungesehen sein können. «Als der Park im Zuge der Renovation des GZs neu gestaltet wurde, haben wir uns dafür stark gemacht, dass es solche Nischen gibt», erläutert Haldi. Das Nebeneinander von Kinderspielplätzen und herumhängenden Jugendlichen funktioniere sehr gut: «Auch Nachbarschaftskonflikte sind kein grosses Thema hier.»

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Das Hochhaus an der Grosswiesenstrasse ist heute eines von vielen in diesem Teil von Hirzenbach. (Foto: Yves De Prà)

Der richtige Ort zum Ankommen

Das GZ Hirzenbach liegt bereits am Stadtrand. In dieser Ecke stehen sie, die Hochhausblöcke, die Urbanität ausstrahlen. Die Kinder und Jugendlichen, denen wir auf dem Weg begegnen, grüssen Haldi, laufen zu ihm, unterhalten sich kurz mit ihm. Hinter dem Gebäude schliesst direkt das Sportzentrum Heerenschürli an. Sporthalle, Rasenfelder und hohe Umzäunungen strahlen in leuchtendem Grün. Hier steht das brandneue Campus-Gebäude des Fussballclubs Zürich., Hier trainieren die FCZ-Frauen und die Mannschaften des FC Schwamendingen. Letzterer bringt Muharemi ins Schwärmen: Beim FC Schwamendingen sei er erst Spieler, später Schiedsrichter gewesen. Der Fussball trage viel zum Miteinander und zum gegenseitigen Verständnis im Quartier bei.

«Wenn ich am Zürichberg gelandet wäre, wäre es für mich vielleicht eher schwieriger gewesen.»

Dafi Muharemi

Zürich Nord sei für ihn der richtige Ort zum Ankommen in der Schweiz gewesen, findet Muharemi: «Ich habe mich hier von Anfang an sehr wohlgefühlt. Wahrscheinlich waren die vielen Menschen mit Migrationshintergrund für mich eine Schnittstelle zur neuen Realität und haben mir geholfen, den Spagat zur neuen, schweizerischen Kultur zu schaffen. Wenn ich am Zürichberg gelandet wäre, wäre es für mich vielleicht eher schwieriger gewesen.»

Der SP-Politiker plädiert für das Wahl- und Stimmrecht für Ausländer:innen auf kommunaler Ebene, um auch die politische Integration der migrantisch geprägten Bevölkerung voranzubringen. Er selbst holte bei den letztjährigen Gemeinderatswahlen als Politneuling die drittmeisten Stimmen auf der SP-Liste und konnte somit den dritten Sitz im Kreis 12 trotz des negativen Trends der stadtweiten SP verteidigen. Das zeige, wie wichtig die politische Repräsentation der Menschen mit Migrationshintergrund sei, findet er: Als er während seiner Kandidatur auf diese Menschen zugegangen sei, hätten diese sich angesprochen gefühlt, Leute ohne Stimmrecht hätten eingebürgerte Bekannte und Verwandte ermuntert, wählen zu gehen und für ihn zu stimmen.

Heerenschürli, Schwamendingen
Hier ist Zürich zu Ende: Das Sportzentrum Heerenschürli. (Bild: Steffen Kolberg)

«Für mich ist Integration eine Frage der Teilhabe», sagt Haldi: «Dabei geht es um die Möglichkeit, sich etwas zu erschliessen, Zugriff darauf zu haben und das eigene Potenzial so einsetzen zu können, wie man das gerne möchte.» Während Muharemi sich dafür einsetzt, dass die bestehende soziale Infrastruktur im Quartier bleibt, fragt er sich vor allem: «Wie schaffen wir es, sie Schritt halten zu lassen mit der Bevölkerungsentwicklung?»

Zum Ende unseres Spaziergangs stehen wir am Bahnhof Stettbach. Die Stadtgrenze verläuft mitten durch das Bahnhofsgelände, auf der gegenüberliegenden Seite stehen die schicken neuen Wohn- und Bürohochhäuser am Stadtrand von Dübendorf. Von hier ist man mit der S-Bahn in wenigen Minuten in Zürichs Stadtzentrum oder in den nahen Agglo-Gemeinden. Mit der S-Bahn verlässt man den Kreis 12, wie man gekommen ist: Durch einen Tunnel. In acht Minuten ist man am Hauptbahnhof auf der anderen Seite des Zürichbergs, zwischen Menschenmassen und betonierten Hochhausschluchten.

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