«Die wenigsten Menschen wissen, wie der Samen eines Kopfsalates aussieht»

Die Biodiversität in der Schweiz ist stark gefährdet. Auch, weil die Arten- und Sortenvielfalt in der Landwirtschaft immer weiter schrumpft. Mit fatalen Folgen für das Klima, unsere Ernährung und die gesamte Gesellschaft. Ein Projekt in Zürich Altstetten will sich dem Problem annehmen. Zu Besuch im Samen- und Lerngarten «Grünhölzli».

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Der Kreislauf des Pflanzenbaus – vom Samen bis wieder zum Samen – wird im Grünhölzli erlebbar gemacht. (Alle Fotos: Isabel Brun)

Im Schatten des grossen Baumes geht eine leichte Brise an diesem Nachmittag Mitte Juli. Wildes Vogelgezwitscher wird für einige Sekunden vom Getöse eines Flugzeugs übertönt, ehe das Gesänge wieder ans Ohr dringt. Hinten in den Beeten strahlen die Blumen in der Sonne um die Wette. Die Stimmung auf dem Dunkelhölzli erinnert ein bisschen an Ferien auf dem Bauernhof. Nur Kühe findet man hier oben vergebens.

Die Wiesen wurden zwar früher für konventionelle Landwirtschaft genutzt, sind heute aber Labor für Freizeitgärtner:innen und Erholungsraum für die Stadtbevölkerung. Das «Grünhölzli», wie der Gemeinschaftsgarten getauft wurde, wird vom gleichnamigen Verein geführt, die Fläche gehört der Stadt. Es erstaunt deshalb nicht, dass bei der Eröffnung des neuesten Streichs der Gartenmacher:innen auch Stadträtin Simone Brander und die Direktorin von Grün Stadt Zürich, Christine Bräm, ihren Weg hierher gefunden haben.

Bräm war Teil der Fachkommission «Umwelt und Klima», die den Samen- und Lerngarten Anfang diesen Jahres im Rahmen des Projektwettbewerbs «Für Züri» auserkoren hatte. Etwas über 44’000 Franken von der ZKB-Jubiläumsdividende flossen so in die Planung und Umsetzung des Projekts auf dem Grünhölzli-Areal. Künftig soll dort die Stadtzürcher Bevölkerung lernen, wie man aus Pflanzen Samen gewinnt und mit diesen weiter züchten kann. Eine lohnende Investition, sind sich die Initiant:innen sicher.

Der Pionier und das «Novum»

«Es ist wichtig, dass der Anbau von biologischen Pflanzen für die breite Bevölkerung zugänglich gemacht wird», sagt Robert Zollinger. Gerade in einer Zeit, in der Ernährungsunsicherheiten auf Klimawandel treffen, seien nachhaltige, regionale Nahrungsmittel nicht einfach ein Trend, sondern dringend von Nöten. Er geht vor der versammelten Zuhörerschaft auf und ab – barfuss, als wolle er der Erde so nah wie nur möglich sein.

Der Samen- und Lerngarten sei ein «Novum», denn bisher würden Saatgut nur in privaten oder staatlichen Betrieben gezüchtet werden, erklärt der Experte: «Dass die Bevölkerung hier künftig beim Anbau mithelfen und bei den Sorten mitentscheiden kann, ist in Europa praktisch einzigartig.»

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Robert Zollinger will mit dem Samen- und Lerngarten ein Stück seines Wissens an die nächste Generation weitergeben.

Wenn einer Bescheid weiss, dann Zollinger. Anfang der 80er-Jahre begann er zusammen mit seiner Frau Christine, biologisches Saatgut zu züchten und sich für den Erhalt von traditionellen Sorten einzusetzen. «Pionierarbeit» sei das gewesen. Heute wird das Unternehmen von Zollingers Söhnen weitergeführt, während sich ihr Vater hauptsächlich Projekten wie dem Samengarten auf dem Dunkelhölzli widmet; sein Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Zusammen mit seinem Team von Hortiplus – einer Vereinigung von erfahrenen Samenzüchter:innen – betreut Zollinger verschiedene Gemeinschaftsgärten in der Deutschschweiz, die sich der Züchtung und Etablierung von regional angepassten Gemüse-, Kräuter- und Blumensorten verschrieben haben. 

Biodiversität hilft auch dem Klima

Warum es wichtig ist, die Arten- und Sortenvielfalt von Nutzpflanzen zu erhalten, erklärt Johanna Jacobi von der ETH Zürich. Die Professorin für Agrarökologie untersucht seit vielen Jahren, wie die Biodiversität in der Landwirtschaft unser Leben beeinflusst – und umgekehrt. In den letzten hundert Jahren sei der Arten- und Sortenschwund stark fortgeschritten, sagt Jacobi, «es wird geschätzt, dass 75 bis 90 Prozent der Agrarbiodiversität verloren gegangen sind.» Der Grund ist laut der Forscherin die Abkehr von kleinstrukturierten, diversen Anbausystemen hin zu grossflächigen, einheitlichen Strukturen, die für die kommerzielle Nutzung von Pflanzen als sinnvoll erachtet werden. Diese Veränderung hänge unter anderem mit der zunehmenden Mechanisierung der Landwirtschaft und dem Anbau von Monokulturen ab Mitte des 20. Jahrhunderts zusammen, so Jacobi.

Auf den ersten Blick eine durchaus nachvollziehbare Entwicklung: Wird auf grossen Agrarflächen nur eine einzige Sorte angepflanzt, lässt das nicht nur den Einsatz von grossen Maschinen zu, sondern vereinfacht auch den Kampf gegen Schädlinge. Denn bei genetisch einheitlichen Nutzpflanzen können züchterisch Resistenzen gegenüber Krankheiten und Herbiziden einfacher eingebracht werden.

«Was wir essen, entscheidet darüber, was angebaut wird.»

Sebastian Kussmann, Pflanzenzüchter und Forscher an der ETH

Doch wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. «Unser jetziges Ernährungssystem ist durch den exzessiven Anbau von Monokulturen enorm verwundbar. Die Pflanzen leiden stärker unter langen Trockenperioden, extremer Hitze, Sturm oder heftigen Regenfällen», erklärt Jacobi. Ein biodiverses Anbausystem könnte solche Extreme besser verkraften.

Des Weiteren würde es auch dem Klima helfen: «Eine grosse Arten- und Sortenvielfalt auf einer Landwirtschaftsfläche kann zur Einsparung von Treibhausgasen beitragen. Denn die Produktion von synthetischen landwirtschaftlichen Inputs für intensive Monokulturen basiert häufig auf dem Verbrauch fossiler Energieträger wie Öl und Gas», ergänzt Sebastian Kussmann. Der Pflanzenzüchter aus Zürich erforscht zusammen mit Jacobi Veränderungen in Agrar- und Lebensmittelsystemen. Beide bestätigen: Klimawandel, Biodiversitätsverlust wie auch Entwicklungen des Landwirtschafts- und Ernährungssystems hängen eng miteinander zusammen. 

Pharmaindustrie dominiert Saatgutmarkt

Um den Verlust der Nutzpflanzen in der Landwirtschaft zu stoppen, müssten sich gemäss Kussmann auch unsere Konsumgewohnheiten ändern: «Was wir essen, entscheidet darüber, was angebaut wird.» Und das scheinen in der Schweiz vor allem Fleisch und Milchprodukte zu sein: Laut einer aktuellen Studie der Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften (ZHAW) werden 80 bis 90 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen hierzulande für die Produktion von Tierfuttermittel genutzt.

International stammt das meiste Saatgut heutzutage von einem der drei dominierenden Pharmaunternehmen Syngenta, Bayer oder Corteva, die über 50 Prozent des weltweiten Saatgutmarktes kontrollieren. In ihrem Geschäftsmodell sei es üblich, zum Saatgut gleich das passende Pflanzenschutzmittel anzubieten, so Johanna Jacobi: «Das führt zu einem Wettrüsten in der Landwirtschaft, da die Unternehmen vor allem mit Herbi- uns Pestiziden sowie Düngemitteln grosse Gewinne machen.» 

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Sie gärtnere regelmässig auf dem «Garte über de Gleis» in Wipkingen, sagte die Stadträtin Simone Brander an der Eröffnung des Samengartens.

Doch wie kommen wir wieder zurück zu alten Sorten, weniger Monokulturen und mehr Biodiversität in der Landwirtschaft? «Die exakte Wiederherstellung eines früheren Zustandes ist nicht möglich und auch nicht Ziel», stellt Sebastian Kussmann klar.

Die meisten Nutzpflanzensorten, die an regionale und lokale Gegebenheiten angepasst waren, hätten sich nicht mitentwickelt, viele seien verloren gegangen – meist zugunsten importierter Nahrungsmittel, die an anderen Orten weltweit in Monokultur produziert würden. «Wenn eine Pflanzenart wieder eingeführt werden soll, muss in den meisten Fällen erst einmal ausprobiert werden, welche Sorte für welchen Standort geeignet ist und dann über die Züchtung eine gezielte Anpassungen vorgenommen werden.» Damit die Pflanzen zur Umwelt, den Anforderungen der Verarbeitung und dem Ideal der Konsument:innen entspreche, so Kussmann. Für den Pflanzenexperte sind solche Experimente wie der Samen- und Lerngarten im Grünhölzli sehr wertvoll.

Johanna Jacobi nennt noch einen weiteren Grund, der für das Projekt spricht: «Durch die Möglichkeit der Partizipation kommen die Menschen mit den Themen Saatgut und Nutzpflanzen-Züchtung in Kontakt, macht diese erfahrbar, was auf lange Sicht dazu führen kann, dass die Gesellschaft der faszinierenden Vielfalt der Nutzpflanzen und den daraus entstehenden Lebensmitteln wieder näher kommt.»

Richtig ernten sei gelernt

Auch bei der Stadt ist man sich einig, dass Initiativen wie der Samen- und Lerngarten vom Verein Grünhölzli und Hortiplus viele Chancen bieten. Nicht nur, weil Grünräume einer Stadt gut tun würden, wie die Stadträtin Simone Brander an diesem Nachmittag im Juli betont, «sie haben immer auch eine soziale Komponente.» Es sei deshalb wichtig, der Stadtbevölkerung Gemeinschaftsgärten zur Verfügung zu stellen, erklärt wenige Minuten später auch Christine Bräm von Grün Stadt Zürich. Und ausserdem schmecke das selber angepflanzte Rüebli am besten. Das scheinen immer mehr Menschen erfahren zu wollen: Gemäss Bräm zeigen die Zahlen, dass die Nachfrage nach urbanen Gemeinschaftsgärten längst das Angebot übersteigt.

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    Die Direktorin Christine Bräm über die Wichtigkeit von Gemeinschaftsgärten in der Stadt.

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    Nach den Vorträgen wurde durch den Garten geschlendert.

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    Auch Schüler:innen sollen vom Angebot profitieren können, wie die Naturpädagogin Verena Schatanek erklärt.

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    Um Netto-Null bis 2040 zu erreichen, bedarf es auch eine gute Ernährungsstrategie, weiss die Leiterin nachhaltige Ernährung Stadt Zürich, Yvonne Lötscher.

Diese Entwicklung nimmt auch der Saatgut-Experte Robert Zollinger wahr. Dadurch sei es einfacher geworden, mit Entscheidungsträger:innen Projekte wie den Samen- und Lerngarten zu planen und durchzuführen: «Früher musste die Bevölkerung um freie Flächen in der Stadt noch mehr kämpfen, heute kommt einiges an Wohlwollen seitens der Gemeinden oder Kantone entgegen.» Auch, weil sie realisiert hätten, wie wichtig ein solcher Wissensaustausch für das Leben in Städten ist. «Die meisten wissen nicht, wie die Samen eines Kopfsalates aussehen», so Zollinger, «oder wie lange es dauert, bis eine Bohne blüht.» Das soll man im Grünhölzli lernen können – und die Biodiversität in der Schweiz um ein paar neue, lokal angepasste Sorten stärken.

2024-02-27 Isabel Brun Redaktorin Tsüri

Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.  

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