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Restriktive Migrationspolitik: Wo Kunst noch Grenzen hat
Die Schweizer Kunst- und Kulturszene soll divers und vielfältig sein. Gleichzeitig ist der Weg zu einem Visum für Personen aus Afrika, Asien oder Osteuropa beschwerlich.
«Ich habe keinen Bock mehr auf diese Scheisse.» Emma Mbeke Nziokas Gesicht erscheint wieder auf dem Display. Die Verbindung stockt, ab und zu dringen nur Bruchstücke eines Satzes durch die Lautsprecher. Disconnected – abgetrennt.
«Gefangen in einer kleinen Box.» So fühlt sich die Künstlerin oft. Nicht, weil sich niemand für ihr Schaffen interessieren würde. Im Gegenteil, in Europa wird sie für ihre Filme gefeiert und als Coco Em für DJ-Auftritte regelmässig gebucht. Doch der Prozess, als kenianische Künstlerin ein Visum für einen Aufenthalt auf dem nördlichen Kontinent zu beantragen, sei enorm schwierig.
«Europa tut sich gut darin, Menschen aus dem afrikanischen Raum die Einreise schwer zu machen», so Mbeke Nzioka. Dabei wäre der Austausch nicht nur für die Kunstschaffenden selbst wünschenswert. Programme von Konzertlokalen, Clubs und Festivals sollen kulturell vielseitig sein. Doch die Angst der Behörden vor illegaler Einwanderung scheint grösser als das Interesse an der Kunst hinter den europäischen Landesgrenzen.
Einheitliche Vorgaben fehlen
Das wird Emma Mbeke Nzioka immer wieder schmerzlich bewusst. Die Musikerin musste schon mehrfach Auftritte absagen, weil sie kein Visum für den Schengen-Raum bekommen hat. Und das, obwohl sie als Headliner galt. Die Gründe dafür kennt sie bis heute nicht.
Dass es sich dabei keinesfalls um eine Ausnahme handelt, zeigt eine Untersuchung des Juristen Mario Abbühl aus dem Jahr 2019. Im Auftrag der Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt befragte er verschiedene Veranstalter:innen aus der Schweizer Kunst- und Kulturbranche dazu, was für Erfahrungen sie mit der Visapraxis gemacht haben.
Dabei gaben diese an, dass Dossiers von gebuchten Künstler:innen oftmals als unvollständig zurückgewiesen wurden, obwohl die erforderlichen Dokumente beigelegt worden sind. Was genau fehlte, dazu hätten sich die zuständigen Behörden nicht geäussert.
Wollen Menschen aus Staaten ausserhalb des Schengen-Raums, sogenannten Drittstaaten, in die Schweiz reisen, müssen sie bei der Schweizer Vertretung in ihrem Heimatland ein Visum beantragen. Dort wird die Identität, der Grund für eine mögliche Einreise und der Willen für eine Rückreise geprüft. Dadurch soll verhindert werden, dass Personen in der Schweiz bleiben und illegal migrieren.
Dabei sind sie auf die Unterstützung hiesiger Veranstalter:innen angewiesen. In der Regel schreiben Schweizer Veranstalter:innen deshalb eine offizielle Einladung – quasi als Beweis, dass die Gesuchsteller:innen wirklich nur des Auftritts wegen kommen. Auch Informationen zum Hin- und Rückflug sowie die Bestätigung der Hotelbuchung fordern die Behörden.
Doch was genau man einreichen muss, können weder die Veranstalter:innen noch die Antragssteller:innen wissen. Einheitliche Regelungen gibt es nicht. Jedes Land, jedes Konsulat trifft eigene Entscheidungen. Diese Unsicherheit führt dazu, dass Gesuche noch vor der eigentlichen Prüfung aufgrund angeblich fehlender Dokumente abgelehnt werden.
Frust ist vorprogrammiert
Für Sandro Bernasconi ist klar: «Die Visa-Prozesse sind so kompliziert, dass Menschen aus Drittstaaten gar nicht mehr nach Europa reisen wollen.» In seiner Rolle als ehemaliger Leiter des Musikprogramms der Kaserne Basel und Festival-Kurator war er immer wieder damit konfrontiert, dass gebuchte Künstler:innen nach monatelanger Wartezeiten auf ein Visum doch nicht einreisen durften.
«Kleinere Festivals oder Kulturbetriebe haben oft nicht die Ressourcen, aufwändige Visagesuche zu stellen.»
Sandro Bernasconi, Kulturschaffender
Es sei wichtig, das Problem zu adressieren, so Bernasconi, denn die aktuelle Visa-Vergabepraxis sei nicht nur für die Kunstschaffenden selbst, sondern auch für die Veranstalter:innen frustrierend. Zumal alleine die Beantragung des Gesuchs viel Zeit benötigen würde. «Kleinere Festivals oder Kulturbetriebe haben oft nicht die Ressourcen, aufwändige Visagesuche zu stellen und ständig bei den Konsulaten nachzuhaken.» Das ist ihm zufolge jedoch nötig, damit Gesuche überhaupt bearbeitet werden.
Dies zeigt auch Rym Zitounis* Fall: Anfang Mai reiste die Filmemacherin nach Basel, um sich mit Bernasconi und anderen Künstler:innen über die Schwierigkeiten der Reisefreizügigkeit auszutauschen. Doch die Einreise stand lange Zeit auf der Kippe, weil Zitouni auch Monate nach dem Einreichen ihrer Dokumente keine Rückmeldung erhalten hatte. Nichts Ungewöhnliches, wie sie sagt.
Als sie vor zwei Jahren für ein Filmfestival nach Deutschland reisen wollte, kam die Absage nur wenige Tage vor dem Flug. «Das war schon sehr ärgerlich. Nicht nur für mich. Auch das Festival musste kurzfristig umdisponieren», so Zitouni. Ihrer Meinung nach hat diese Planungsunsicherheit einen grossen Einfluss darauf, welche Künstler:innen eingeladen werden – und schliesslich auch auf ihre Karrieren.
Bernasconi kennt das aus eigener Erfahrung: «Stell dir vor, du buchst regelmässig Künstler:innen aus Drittstaaten und musst nach dem ganzen Aufwand mit Dokumenten jedes zweite Mal dein ganzes Programm umplanen, weil die Person im letzten Moment nicht einreisen kann. Irgendwann überlegst du dir zweimal, ob du nicht lieber eine Künstlerin aus dem Schengen-Raum auftreten lässt.»
Zweifel an «Rückreisewillen»
Wie oft Anträge für ein Schengen-Visum von Kulturschaffenden tatsächlich abgelehnt werden, kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) nicht sagen. Die Daten zum Zweck der Einreise würden nicht erhoben, teilt es auf Anfrage mit. Man weiss nur die Gesamtzahl: 2022 wurden insgesamt 485’556 Visa für den Schengen-Raum ausgestellt. 12,8 Prozent der Gesuche verweigert.
Die Gründe können vielseitig sein: ein fehlender Beweis für «ausreichende finanzielle Mittel», keine Reisekrankenversicherung, mutmasslich gefälschte Dokumente, ein fehlender Nachweis für den Zweck des Aufenthalts oder «begründete Zweifel» an einem Rückreisewillen reichen aus, um einer Person die Einreise zu verwehren.
Bereits vergangenen Herbst berichtete Tsüri.ch von einem Fall, bei dem einem Musiker aus Ghana und einem Koch aus Nigeria die Einreise in die Schweiz verweigert wurde. Weil die beiden Männer jung, ledig und kinderlos waren, stufte das SEM die Gefahr, dass sie in der Schweiz bleiben könnten, als zu hoch ein. Der Migrationsrechtsexperte Marc Spescha sprach damals von der «übersteigerten Angst» bei den Migrationsbehörden, Gesuchsteller:innen aus Afrika könnten die Besuchsmöglichkeit missbrauchen.
«Weisse Menschen in Europa feiern mit afrikanischer Musik Erfolge und gleichzeitig verunmöglichen sie es Künstler:innen aus Afrika ihre Musik live spielen zu können.»
Emma Mbeke Nzioka, Filmemacherin und DJ
Zitouni streitet diese Absichten ab: «Mein Leben ist in Tunis. Aber als Künstlerin wünsche ich mir natürlich, dass ich meine Kunst auch ausserhalb meiner Bubble präsentieren kann.» Entsprechend sei sie darauf angewiesen, dass Reisen in andere Länder möglich sind.
Ein weiterer Kritikpunkt äussert die Kenianerin Emma Mbeke Nzioka: «Weisse Menschen in Europa tanzen zu afrikanischer Musik, kopieren sie, feiern damit Erfolge und gleichzeitig verunmöglichen sie es afrikanischen Künstler:innen, eben diese Musik live spielen zu können. Das gleicht einem Diebstahl an unserer Kultur.»
Mehr als ein «Nice-to-have»
Mbeke Nzioka spricht von kultureller Aneignung. Also dem Fakt, dass sich weisse Menschen einem Kulturgut einer Minderheit bedienen und damit Erfolge feiern. Dagegen und für mehr Diversität in der Schweizer Kulturlandschaft setzt sich «artlink» aus Bern ein. Seit 1984 fördert der gemeinnützige Verein die Arbeit und Auftritte von Kulturschaffende aus Afrika, Lateinamerika, Asien und Osteuropa, damit diese in der Schweiz mehr Sichtbarkeit erhalten.
Zudem würden sowohl das Einkommen als auch die Erfahrungen, welche die Künstler:innen aus internationalen Tourneen gewinnen, zum Aufbau von lokalen Kulturzentren beitragen. Nicht zu unterschätzen sei auch der Einfluss auf die Kulturlandschaft in der Schweiz, die dadurch kulturell und ästhetisch vielfältiger werde, so Bazzi.
Kulturelle Diversität wäre eigentlich nicht nur ein «Nice-to-have»: 2008 trat die Schweiz dem UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen bei. Die Konvention verlangt unter anderem, dass etablierte Kulturmärkte, wie die Schweiz, künstlerische Initiativen in Teilen der Welt unterstützen, die selbst über keine dynamische Kulturwirtschaft verfügen.
«Künstler:innen aus Lateinamerika und Asien haben weniger Probleme, ein Visum zu erhalten als Künstler:innen aus dem afrikanischen Raum.»
Anastasia Alexandrova von «artlink»
In der Schweiz gebe es keine vergleichbaren Fördermöglichkeiten an der Schnittstelle zwischen Kunst- und Kulturschaffen und Entwicklungszusammenarbeit, erklärt Bazzi. Weder Bund, Kantone noch Gemeinde sind ihr zufolge mandatiert, Kulturschaffende aus dem globalen Süden gezielt zu unterstützen. Dieser Aufgabe versuche man gerecht zu werden.
Obwohl es den Verein schon seit 40 Jahren gibt, sei es nicht zwingend einfacher für «artlink» ein Visum für Künstler:innen aus anderen Regionen zu organisieren. Anastasia Alexandrova beschreibt den Prozess als sehr aufwändig. Die Projektleiterin ist für die Abwicklung der Visaanträge zuständig.
Ihr zufolge werden nicht alle Länder gleich behandelt: «Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Künstler:innen aus Lateinamerika und Asien weniger Probleme haben, ein Visum zu erhalten als Künstler:innen aus dem afrikanischen Raum», so Alexandrova.
Ist Schweigen Gold?
Doch weshalb erfährt das Thema so wenig Aufmerksamkeit? Die einfache Antwort: Trotz aller Kritik, sind Kulturbetriebe und Festivals in der Schweiz darauf angewiesen, gute Kontakte zu den Migrationsbehörden zu pflegen.
Entsprechend zurückhaltend geben sich Zürcher Veranstalter:innen. Auf Anfrage bestätigen zwar viele, dass ihnen das Problem bekannt sei, man Fälle kennen würde, bei denen Künstler:innen aus unerklärlichen Gründen abgewiesen worden seien. Öffentlich darüber sprechen will jedoch keine der angefragten Institutionen. «Wir werden bestimmt Probleme mit den Behörden bekommen, wenn wir mit Ihnen darüber reden», schreibt ein Veranstalter.
Emma Mbeke Nzioka hat lange genug geschwiegen. Sie will nicht weiter abgewertet und diskriminiert werden, nur weil sie in einem Land geboren wurde, das kein Abkommen mit den Schengen-Staaten hat. Deshalb hat sie eine Plattform gegründet, die afrikanischen Künstler:innen einen Überblick über die internationalen Bestimmungen gibt. «PassPass» soll ausserdem dazu beitragen, dass sich politisch etwas an der Situation ändert. «Es soll keine Rolle spielen, woher man kommt, um seine Kunst zu präsentieren», so Mbeke Nzioka. Sie will connected – verbunden bleiben mit der Welt.
*Name der Redaktion bekannt
Diese Recherche wurde durch das Stipendium des Reporter:innenforums Schweiz ermöglicht.
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