Mitten in der Wohnungskrise und doch unsichtbar: Sans-Papiers in Zürich - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch

Mitten in der Wohnungskrise und doch unsichtbar: Sans-Papiers in Zürich

Die Wohnungskrise prägt das Leben der etwa 10’000 Sans-Papiers in Zürich besonders stark. Dennoch bleiben sie als Betroffene weitgehend unsichtbar. Über die Wohnerfahrungen einer Sans-Papier und die erschwerten rechtlichen Bedingungen in der Schweiz.

Die Anonymität beim Wohnen fängt schon beim Briefkasten an. Namen von Sans-Papiers stehen dort nicht. (Foto: zvg)

Edita* lebt mit ihren Kindern in einer Mietwohnung in Zürich. In zirka einem Jahr soll das Haus, in dem sie lebt, abgerissen werden. Die Mieter:innen versuchen schon länger, sich gegen den Abriss zu wehren. Dafür finden regelmässig Treffen aller interessierten Parteien statt. Edita kann sich an diesem Widerstand jedoch nicht beteiligen. Edita ist Sans-Papiers. Sie befindet sich ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz.

Da Edita keinen geregelten Aufenthaltsstatus hat, darf sie in der Schweiz keine Wohnung mieten. Dank diversen Netzwerken, die Sans-Papiers in Zürich unterstützen, hat sie aber mittlerweile ein neues Zuhause gefunden.

Dennoch ist ihr Wohnalltag stark eingeschränkt. So kann Edita beispielsweise nicht wie ihre Nachbar:innen den eigenen Namen am Briefkasten anbringen, da sie aufgrund ihres Aufenthaltsstatus offiziell keine Adresse hat. Ohne Adresse kann sie weder Briefe erhalten noch ein Bankkonto anlegen. Jede Darlegung ihrer Identität birgt das Risiko, bei den Behörden aufzufliegen und ausgewiesen zu werden. Dies liegt an der restriktiven Schweizer Gesetzgebung des Ausländer- und Integrationsgesetzes.

Recht auf Wohnen eingeschränkt

Der UNO-Pakt I, Artikel 11, sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 25, sichern allen Menschen das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zu. Dies beinhaltet das Recht auf angemessene Unterbringung (Platz, Privatsphäre und Sicherheit). Auch die Schweizer Bundesverfassung hält in Artikel 12 fest, dass Personen in Not Anspruch auf Hilfe für ein menschenwürdiges Dasein haben. Diese Bestimmungen werden im Fall von Sans-Papiers jedoch ausgeklammert: «Jede Person, die jemandem ohne legalen Aufenthalt hilft, kann sich strafbar machen. Etwas, was ziemlich grundlegend dazu gehört, ist die Überlassung von Wohnraum», sagt Gian Ege, Strafrechtsexperte.

«Ich habe Kontakt mit Nachbar:innen, aber nicht so viel. Sie wissen nicht, dass ich Sans-Papiers bin.»

Edita

Die Schweiz stellt bei Sans-Papiers das Ausländer- und Integrationsgesetz in der Praxis hierarchisch über die genannten Gesetze und internationalen Verträge. Während Artikel 115 den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz strafbar macht, verbietet Artikel 116 jegliche Hilfestellungen, die den Aufenthalt von Sans-Papiers in der Schweiz erleichtern. Das Leben und Wohnen wird somit kriminalisiert, ebenso jegliche solidarische Hilfestellungen.

Ihr Aufenthaltsstatus unterbindet Sans-Papiers auch den Zugang zu Rechten, die ihnen formell zustehen würden. Edita dürfte, wie die restlichen Mieter:innen, gegen den Gebäudeabriss Beschwerde einlegen. Die Praxis zeichnet jedoch ein anderes Bild: Würde Edita ihr Recht auf eine mögliche Mieterstreckung einfordern, brächte sie sich erheblich in Gefahr, aus der Schweiz ausgewiesen zu werden. 

Ege erklärt, dass sich Sans-Papiers deshalb kaum auf rechtlichem Weg wehren können. Als Jurist musste er Klient:innen in dieser Situation davon abraten, sich an eine Behörde zu wenden. «Man muss ihnen praktisch raten ‹gehen Sie nicht zur Polizei›, denn ihnen drohen immer migrationsrechtliche Konsequenzen, wie insbesondere die Ausweisung», so der Strafrechtsexperte. 

Angst als stetige Begleiterin

Edita fordert deshalb ihr Recht nicht ein. Sie erzählt uns, wie sie in Rücksprache mit einer guten Freundin und einer solidarischen Organisation zum Schluss gekommen ist: «Besser weg» und neuen Wohnraum suchen. Das Risiko der Ausweisung ist schlicht zu gross. Der Knackpunkt ist dabei nicht der mietrechtliche Einspruch an sich, sondern die Sorge vor der Einleitung eines migrationsrechtlichen (Ausschaffungs-)Verfahrens. Dieses Spannungsfeld zwischen theoretischem Rechtsschutz und der gelebten Praxis begleitet Editas Alltag.

«Dieses Risikogefühl war immer bei mir. Für mich ist es sehr schlimm. Ich habe Kontakt mit Nachbar:innen, aber nicht so viel. Sie wissen nicht, dass ich Sans-Papiers bin, denn ich habe immer Angst, dass etwas passiert», sagt Edita. Die stetigen Risiken stellen für Edita eine grosse emotionale Belastung dar. Die Angst aufzufliegen, ist allgegenwärtig und prägt beispielsweise ihre Nachbarschaftsbeziehungen.

«Sans-Papiers leisten ganz viel für unsere Gesellschaft – insbesondere im Bereich der Care-Arbeit – und das Risiko tragen sie selbst.»

Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster

Forderungen werden laut

Für Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster und Professor für Diakoniewissenschaft an der Universität Bern, ist die rechtliche Stellung von Sans-Papiers in Zürich in ihrer jetzigen Form nicht tragbar. Für ihn ist klar: «Sans-Papiers leisten ganz viel für unsere Gesellschaft – insbesondere im Bereich der Care-Arbeit – und das Risiko tragen sie selbst. Das ist das grosse Problem.» Obwohl sie hier leben und arbeiten, bewegen sie sich konstant in Illegalität und Armut und leiden deshalb häufig unter gravierenden psychischen Auswirkungen.

Diese Realität wird von staatlichen Behörden jedoch nicht anerkannt. Viele Interviewpartner:innen kritisieren diesen ausgrenzenden Status quo deshalb stark und brachten diverse Forderungen vor.

Abschaffung von Meldepflichten

Faktisch ohne Justizzugang sind Sans-Papiers einem klaren Machtgefälle ausgesetzt. Jeder Behördengang kann mit der Ausweisung aus der Schweiz enden. Eine Abschaffung der Meldepflicht zwischen den verschiedenen Behörden würde dem entgegenwirken. Angemessene Unterbringung steht – auch laut internationalen Gesetzen – jedem Menschen zu, weshalb dies in der Praxis dementsprechend umgesetzt werden soll. Bei einer Wohnungsmiete sollte der Aufenthaltsstatus keine Rolle spielen. Wird ein unrechtmässiger Aufenthalt bekannt, sollen die Personendaten den Migrationsbehörden deshalb weder gemeldet werden, noch für diese weiter verwertbar sein. 

Zudem wird der Ruf nach einer vereinfachten Regulierung laut. Insbesondere der Aufenthalt von Sans-Papiers, die seit mehreren Jahren hier leben und arbeiten, soll legalisiert werden. Genf hat mit der Operation Papyrus gezeigt, dass dies bei der geltenden Schweizer Gesetzgebung durchaus möglich ist.

Vorboten des Umbaus und der Verdrängung. (Foto: Madleina Dreier)

Es wird eng für Sans-Papiers

Die Wohnungskrise betrifft uns alle. Luxuswohnungen ersetzen vermehrt günstigen Wohnraum. Es wird enger und teurer in Zürich. Sans-Papiers sind von dieser Wohnungsnot asymmetrisch stark betroffen, da sie häufig in älteren, nicht in Stand gehaltenen Liegenschaften wohnen. Die Wohnungskrise ist für sie alle deshalb deutlich spürbar. Eine solidarische Organisation bestätigt im Interview, dass Sans-Papiers zu denen gehören, die momentan am stärksten verdrängt werden und nur schwer neuen Wohnraum finden. Sie müssen meist auf temporäre Wohnlösungen setzen. Editas Erfahrung spiegelt die Situation von tausenden Sans-Papiers in Zürich. 

Unter diesen Bedingungen werden Sans-Papiers, die sonst schon in der Unsichtbarkeit leben müssen, nochmals stärker marginalisiert. Aufgrund ihres Status können sie kaum Widerstand leisten – weder bei einem Abriss und temporären Wohnbedingungen, wie in Editas Fall, noch bei zu hohen Mietpreisen. Dies liegt an der restriktiven Schweizer Gesetzgebung, die zentrale Grund- und Menschenrechte missachtet und so Sans-Papiers systematisch diskriminiert. 

Niemand sollte sich in einem solchen rechtlichen Schwebezustand wiederfinden müssen. Damit Sans-Papiers ein geregeltes Leben führen können, muss sich der Umgang mit dem Gesetz ändern. Darüber sind sich die interviewten solidarischen Organisationen und Privatpersonen einig. Es ist Zeit, einen sicheren Zugang zum Rechtssystem zu schaffen, Hilfeleistungen zu entkriminalisieren und Sans-Papiers als Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen. Eine Entkriminalisierung würde die Vulnerabilität von Sans-Papiers auf dem Wohnungsmarkt vermindern und sie sichtbarer machen.

Eine Vorstoss in diese Richtung stellt die Züri City Card dar, die im Mai 2022 in der Stadtzürcher Volksabstimmung von einer knappen Mehrheit befürwortet wurde und nun in der Ausarbeitungsphase ist. Die Züri City Card wäre ein offizieller Stadtausweis für alle Stadtzürcher:innen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Damit könnten sich auch Sans-Papiers ausweisen, um erleichterten Zugang zu Wohnraum, wie Notunterkünften und Mietwohnungen, zu erhalten. Auch die Einforderung von Rechten, wie das Einspruchsrecht gegen einen Gebäudeabriss, wäre erleichtert, da die Züri City Card ihre Identität als Stadtzüricher:innen festlegt und den Aufenthaltsstatus so ausklammert.

Für Sans-Papiers könnte dies ein kleiner, aber bedeutsamer Schritt aus der ihnen aufgezwungenen Anonymität und Prekarität sein, der eine risikofreiere Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglicht. Wichtig dabei wäre jedoch, dass auch andere Zürcher:innen diesen Ausweis nutzen würden, sodass es sich nicht bloss um einen Sans-Papiers-Ausweis handelt, den Edita gebraucht.  

* Namen aus Schutzgründen geändert

Ein kollaboratives Forschungsprojekt 

Im Rahmen eines Forschungsprojekts am Geographischen Institut der Universität Zürich haben Studierende und Autor:innen dieses Textes in Kollaboration mit der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) und Sans-Papiers die Wohnbedingungen von Sans-Papiers in Zürich untersucht. Dafür wurden mit solidarischen Privatpersonen, Organisationen, Sans-Papiers und Rechtsexpert:innen Interviews durchgeführt: Wie prägt die rechtliche Lage den Wohnalltag von Sans-Papiers? Und wie erleben Sans-Papiers die Wohnungskrise in Zürich? Forschung zu diesen Fragen hat verdeutlicht, dass die Wohnungsthematik gravierende Rechtswidersprüche birgt: Sans-Papiers sind mit diskriminierenden Gesetzen konfrontiert und werden in ihrer Wohnpraxis in ihren Rechten beschnitten. Die andauernde Wohnungskrise verstärkt diese Marginalisierung. 

Mehr Informationen zum kollaborativen Forschungsprojekt findest du hier.

Das könnte dich auch interessieren