(Post-)Moderne Siedlungen im Seefeld: Architektenträume im Villenviertel
In einer der exklusivsten Gegenden des Kreis 8 und wohl der ganzen Stadt stehen zwei Mehrfamilienhaus-Siedlungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die eine ist ein eng verwinkeltes Zeugnis architektonischer Eigenwilligkeit, die andere wirbt mit lichtdurchflutetem «Residenz-Charakter».
Auf dem letzten Drittel ihres Weges nach Zollikon durchquert die Zollikerstrasse eine Gegend, die exklusiver kaum sein könnte: Zwischen meterhohen Bäumen in parkähnlichen Gärten tauchen Namen wie Gazprom, Rothschild und Bührle auf den Klingelschildern auf. Dazwischen, von der Strasse her kaum einsehbar, steht eine ganz spezielle Mehrfamilienhaus-Siedlung: Drei dunkel gestrichene Gebäude mit pastellfarbenen Fensterläden, durch Übergänge miteinander verbunden und in sich so verwinkelt und detailverliebt, dass der Blick vor lauter Eindrücken nirgendwo zur Ruhe kommt.
«Manieristisch», nannte Architekturjournalistin Jenny Keller diesen Stil in einem Nachruf auf den 2018 verstorbenen Architekten der Siedlung, René Haubensak, und schlägt man diesen Begriff nach, landet man bei einem Stil der Spätrenaissance, der sich vor allem durch eines auszeichnet: Starke Eigenwilligkeit. Im Gespräch bezeichnet Keller die Gebäude als seltenes Beispiel des regionalen, postmodernen Bauens: «Haubensak grenzte sich ab vom in der Schweiz gelehrten und praktizierten Stil der Moderne mit seinen geraden Linien und rechten Winkeln. Ihm war der Zwischenraum wichtig, denn der Zwischenraum ist der Ort, an dem es menschlich wird.»
Keller lernte Haubensak in seinen letzten Lebensjahren kennen. Einen bleibenden Eindruck habe bei ihr ein Stadtplan der mittelalterlichen Stadt Siena hinterlassen, den der Architekt bei sich zuhause aufgehängt hatte: Darauf seien nicht die Gebäude, sondern die Gassen, Strassen und Plätze schwarz hervorgehoben gewesen: Die Zwischenräume des Menschlichen also. Haubensak hatte in mehreren seiner Projekte diese Zwischenräume besonders gewürdigt: Bei der Fussgänger:innenverbindung zwischen Bahnhof Stadelhofen und Rämistrasse etwa, die er im Rahmen seiner Sanierung des Sozialarchivs mitgestaltete. Oder bei der Umgestaltung des Klingenhofs im Kreis 5 zu einer Abenteuerruine, die später zum Schauplatz eines Dokumentarfilms werden sollte.
Gegen Widerstände durchgesetzt
Zum Auftrag, die Zollikerstrasse 191 bis 197 zu bauen, sei der Autodidakt durch viel Eigeninitiative und Hartnäckigkeit gekommen, erzählt Jenny Keller. So habe er der wohlhabenden Besitzerin, für die er Umbauarbeiten an ihrer Villa oberhalb des Geländes geplant hatte, die ursprünglichen Überbauungspläne für das Grundstück ausgeredet. Danach habe er zehn Jahre lang an eigenen Entwürfen gearbeitet und sich dabei gegen Widerstände sowohl in Architekturkreisen als auch in der Nachbarschaft durchgesetzt.
«Man hat das hier anfangs nicht gern gesehen», erzählt Elisabeth Messerli, die seit der Fertigstellung Mitte der 80er-Jahre in der Siedlung wohnt: «Schliesslich baute er in einer von einem namhafen Gartenarchitekten gestalteten Parkanlage.» So hätte sich unter anderem die Familie Bührle, die schräg gegenüber wohnte, gegen das Fällen von Bäumen und die anschliessenden Bauarbeiten gewehrt.
Die drei grossen Bäume, die für Haubensaks Gebäude weichen mussten, machte dieser im Gegenzug zu deren Namensgebern: Bis heute wohnt man in der Siedlung in der «Buche», der «Linde» oder der «Zeder». Die Wohnungen selbst ziehen sich über mehrere Etagen, überkreuzen sich dabei und verbinden teilweise sogar die Häuser untereinander. Wie sich die ursprünglichen Wohnungen durch die Gebäude erstreckten, lasse sich nur von aussen nachvollziehen, erklärt Messerli bei einem Rundgang über das Aussengelände: Die Farbe der Fensterläden zeige an, zu welcher der ursprünglichen achtundzwanzig Wohnungen das dahinterliegende Fenster gehöre. Erdacht habe das Farbkonzept Haubensaks Frau, die Künstlerin Libby Raynham.
Sympathien mit der Jugendbewegung
«Jede Wohnung hat einen eigenen Garten oder eine Dachterrasse», erläutert Keller: «Das war Haubensak wichtig.» Zudem habe er darauf geachtet, dass man die Wohnungen zwischen den Etagen leicht auftrennen könne, wenn sich Wohnbedürfnisse änderten: «Das ist ja etwas, das mit rund 50 Prozent Scheidungsrate und teurem Wohnraum für Familien den gesellschaftlichen Alltag in Architekturform ausdrückt», so die Architekturjournalistin. Zur Frage, warum jede der Wohnungen ursprünglich zwei Eingänge habe, äusserte sich Architekt Haubensak, der Sympathien für die Jugendbewegung der 80er Jahre hatte, gegenüber der NZZ einmal so: «Wenn die Polizei klingelt, kannst du oben oder unten abhauen.»
Das Paar Haubensak und Raynham habe selbst in der Siedlung gewohnt, erzählt Messerli: «Es waren nicht unbedingt Sozialwohnungen, aber die Mieten waren verhältnismässig günstig. Es sollte eine durchmischte und lebendige Siedlung sein, auch wenn letztlich vor allem Freund:innen und Bekannte der Eigentümerin hier wohnten.»
Debatte um die Totalsanierung
Für die Erben der Eigentümerin waren die damit erzielten Mieteinnahmen jedoch scheinbar zu niedrig: 2015 veranlassten sie eine Totalsanierung der Siedlung. Der damals 84-jährige Haubensak wehrte sich hartnäckig dagegen, sammelte Stimmen aus der Bewohnerschaft, von Handwerksbetrieben und Umweltverbänden und fachte eine öffentliche Debatte an. In der Publikation «Der Haus-Arzt kommt auf Besuch» legte er dar, dass der Garten in seiner naturnahen Gestaltung ökologisch wertvoll sei und in dieser Form belassen werden sollte, dass die verwendeten Materialien nachhaltig und langlebig seien und deshalb keineswegs ersetzt werden müssten und dass schlussendlich eine sanfte Sanierung der Liegenschaft kostengünstiger und sinnhafter sei als das Vorhaben von Eigentümer:innen und Verwaltung.
Haubensak erreichte damit, dass das Ensemble in das städtische Inventar der schützenswerten Bauten aufgenommen wurde, die Totalsanierung inklusive Leerkündigung konnte er aber nicht verhindern. Man habe damals die Installationen runderneuert, erzählt Messerli, ausserdem einen Teil der ursprünglichen Grundrisse verändert, um etwas kompaktere Wohnungen zu schaffen. Am meisten kritisiert sie, dass der wildromantische Garten im vorderen Teil der Häuser einer pflegeleichten Wiese gewichen ist. Auch sie bezweifelt, dass eine Totalsanierung vonnöten gewesen sei: «Es ging wohl darum, mehr Mieteinnahmen zu generieren, aber auch darum, die Siedlung zu verjüngen und wieder Familien mit Kindern Wohnraum zu bieten.» Allerdings seien die Wohnungen jetzt 50 bis 60 Prozent teurer, sagt sie. René Haubensak und Libby Raynham sind deshalb nach der Sanierung nicht wieder eingezogen.
Für eine dreistöckige 6.5-Zimmer-Wohnung in Haubensaks Siedlung zahle man jetzt über 5’000 Franken, so Elisabeth Messerli: «Aber das ist immer noch deutlich weniger als das, was man in der Nachbarsiedlung zahlt.» Die Nachbarsiedlung an der Hausnummer 203 hört auf den Namen Hamberger Park und entstand zu jener Zeit, als nebenan totalsaniert wurde. Die Ausgangskonstellation ähnelt sich: Oberhalb des Geländes steht die Villa einer wohlhabenden Familie, welche das Grundstück unterhalb, das vorher mit Wiesen und Sträuchern bewachsen war, gerne mit Mehrfamilienhäusern bebauen wollte.
Nicht den Charakter des Quartiers zerstören
Für ihn sei es eine grosse Ehre gewesen, eine der letzten grossen Grünflächen der Stadt bebauen zu dürfen, erzählt der Architekt des Hamberger Parks, Andres Carosio: «Es war aber auch eine Herausforderung. Denn es ging darum, mit dem Neubau nicht den Charakter des Quartiers zu zerstören.» Er habe sich eng mit dem Amt für Städtebau abgestimmt, um sowohl eine optimale Flächenausnutzung als auch einen geringen «Fussabdruck» der Bauten zu gewährleisten.
Die Siedlung strahlt jedoch auf den ersten Blick keinen besonders ökologischen Charme aus: Bei einem Wohnungsbesichtigungstermin, zufällig im Rahmen der Seefeld-Recherche beobachtet, stauen sich die SUVs vor dem umzäunten Parkgelände mit den drei rundum verglasten Wohngebäuden. Carosio aber betont, dass es neben der Autotiefgarage auch eine überdurchschnittlich grosse Velogarage gebe, die von der Bewohnerschaft auch rege genutzt werde.
Nachhaltigkeit und Exklusivität
Überhaupt scheint es dem Architekten wichtig, den Nachhaltigkeitsaspekt der Siedlung herauszustellen: Die Glasfassade weise zum Beispiel höchste Isolationswerte auf, ihre einzelnen Elemente seien langlebig und austauschbar. Auf den begrünten Dächern werde Regenwasser gesammelt und für die Gartenbewässerung genutzt, die Wärmepumpe mit Erdsonden werde möglichst effizient zum Heizen und Kühlen benutzt – bislang eine Seltenheit bei Wohnbauten, erklärt er. Wie die Siedlung mit ihrer Energieeffizienz im Vergleich zu anderen Überbauungen abschneidet, kann er zwar nicht beziffern. Dafür preist er die versetzte Anordnung der Gebäude an, die der Flächenneigung des Hangs folge.
Auf der Homepage der Siedlung werden dagegen andere Vorzüge beworben: Viel Licht, eine exklusive Lage und ein «Privacy und Residenz-Charakter» zum Beispiel. Es sind verschiedene Dienstleistungen buchbar, vom Hemden-Service bis zum Privat-Catering. Für Carosio trägt der Hamberger Park auch so zur Vielfalt der Stadt bei: «Es hat dort einen ganz anderen Charakter als in der Kernzone des Seefelds», erläutert er: «Man kann es vielleicht eher mit Küsnacht vergleichen als mit den städtischen Kernzonen Zürichs.» Soziale Durchmischung sei in diesen Kernzonen natürlich extrem wichtig. Aber anders als René Haubensak findet er nicht, dass das auch für diesen Teil der Zollikerstrasse gelten muss. Seine Philosophie ist einfach und wenig manieristisch: «Am Ende kommt es darauf an, dass die Leute glücklich sind.»
Dieses Projekt wird unterstützt von JournaFONDS – Bündnis für Recherche und Reportage und der Stiftung Mercator Schweiz.