Podium zur Autobahn-Einhausung in Schwamendingen: «36 bis 45 Prozent der Wegzüge sind forciert»
Eine Woche lang arbeitete das Tsüri-Team von Schwamendingen aus und lud am Donnerstag zu einem Podium über das Millionenprojekt «Autobahn-Einhausung» ein.
Mit der Einhausung der Autobahn wird 2024 ein Generationenprojekt fertiggestellt, welches Schwamendingen nachhaltig verändern wird. Die Gartenstadt wird dadurch grüner und attraktiver. Rund um die Baustelle werden viele bezahlbare Genossenschaftswohnungen abgerissen: «Diese Leute kommen höchstwahrscheinlich nicht wieder zurück, weil die Mieten in Neubauten auch in Genossenschaften immer höher sind als vorher», sagt der ehemalige Stadtrat Richard Wolff in diesem Artikel über die Gewinner:innen und Verlier:innen der Einhausung. Welche Folgen haben diese Entwicklungen für den Stadtkreis, der einst als Problemquartier gehandelt wurde?
Um dieser Frage nachzugehen, organisierte Tsüri.ch eine Podiumsdiskussion zum Thema. Die Veranstaltung startete im Besucherzentrum der Einhausung der A1 in Schwamendingen. Das provisorische Gebäude an der Schwamendingenstrasse klärt mit multimedialen Installationen über das Bauprojekt auf. In einem ersten Teil erklären Audioaufnahmen den langjährigen Entstehungsprozess des Projekts. Animationen erläutern in einem weiteren Teil die involvierten Parteien. Abgeschlossen wird der Rundgang von Videoaufnahmen, die den Bauvorgang dokumentieren. Mit dem Ende des Kurzfilms hebt sich die Leinwand und die Besucher:innen blicken auf die imposante Baustelle.
Schwamendingen: Verdrängung durch Aufwertung?
Die Podiumsdiskussion wurde nach dem Rundgang eröffnet. In der Runde sassen Walter Oertle von der Baugenossenschaft Pro12 Zürich, Snezana Blickenstorfer, GLP-Gemeinderätin und Vertreterin der Genossenschaft Sunnige Hof, Philipp Klaus, Stadtforscher INURA und Professor an der ETH im Departement Bau, Umwelt und Geomatik sowie Ruth Erdt, Bewohnerin von Schwamendingen und Künstlerin, die im Auftrag der Stadt die Veränderungen des Quartiers seit mehreren Jahren fotografisch festhält. Tsüri.Chefredaktor Simon Jacoby moderierte die Veranstaltung
Zuerst äusserten sich die Podiumsgäste zur Stimmung der Quartierbewohner:innen bezüglich der Einhausung. Erdt berichtete, wie einerseits eine grosse Vorfreude in Schwamendingen zu spüren sei. Durch die Einhausung verschwinden die Lärmemissionen der Autobahn und mit dem Park entsteht ein Naherholungsraum. Andererseits freut sich grundsätzlich niemand über eine Baustelle. Diese stelle durch ihre Dimensionen eine grosse logistische Herausforderung dar: Es sei dadurch schwieriger, sich im Quartier von A nach B zu bewegen. Weiter sieht Erdt im Zuge der Aufwertung eine mögliche Identitätskrise für die Bewohner:innen. Diese seien stolz darauf, im Stadtquartier, das den Ruf eines Problemviertels hat, aufgewachsen zu sein.
Die aber wohl grösste Sorge der Quartierbewohner:innen ist die Vertreibung, die mit der Aufwertung einhergeht. Die Wohnungsnot ist in der ganzen Stadt spürbar. Auch in Schwamendingen wird aktuell viel abgerissen und neu gebaut oder saniert. Klaus zitiert dabei aus einer Studie der ETH Zürich aus diesem Frühjahr: «Das durchschnittliche Haushaltseinkommen von neuen Mieter:innen nach einer Sanierung beträgt laut dieser 3600 Franken mehr im Monat als das der Vormieter:innen. 36 bis 45 Prozent der Wegzüge aus Schwamendingen zwischen 2015 und 2019 sind forcierte Wegzüge aufgrund von Renovationen und Neubauten.» Es finde folglich ein Austausch der Quartierbewohner:innen statt, erläutert der Stadtforscher weiter. Von der Überbauung würden dementsprechend hauptsächlich Quartierbewohner:innen und Neuzuzüger:innen mit einem höheren Einkommen profitieren.
Das durchschnittliche Haushaltseinkommen von neuen Mieter:innen nach einer Sanierung beträgt laut einer aktuellen Studie 3600 Franken mehr im Monat als das der Vormieter:innen.
Philipp Klaus, Stadtforscher
Die Rolle der Genossenschaften
In Schwamendingen sind 33 Prozent der Wohnungen genossenschaftlich. Zählt man weitere gemeinnützige Wohnungen, zum Beispiel von Stiftungen dazu, kommt man auf 46 Prozent. Dieser Anteil ist im Vergleich zum Rest der Stadt sehr hoch. Die GLP-Politikerin Snezana Blickenstorfer erläutert, dass die Genossenschaften versprechen, dass niemand aus dem Quartier wegziehen müsse. Es komme zwar zu forcierten Wegzügen, weil sich eine Partei die Miete nach der Renovation oder im Neubau nicht mehr leisten könne, diesen würden die zusammenarbeitenden Genossenschaften jedoch günstigere Alternativen in naheliegenden Genossenschaftssiedlungen anbieten. Somit finde eine Fluktuation innerhalb der Genossenschaften statt, was den meisten Beteiligten ermögliche, in der gewünschten Umgebung zu bleiben. Oertle bestätigt diesen Mechanismus: «Genossenschaften verfolgen einen Langzeitplan, mit welchem unterschiedliche Vermögensverhältnisse gemeistert werden.» Die Entwicklung, dass Genossenschaftssiedlungen renoviert und neu gebaut werden, geschehe auch unabhängig von der Einhausung.
Doch was ist mit Wohnverhältnissen, die nicht gemeinnützig sind?
Philipp Klaus spricht Möglichkeiten der Verdichtung oder eines Mehrwertausgleichs an. Bei einem Mehrwertausgleich werden raumplanerische Massnahmen in einer Gemeinde von Grundstückseigentümer:innen mitfinanziert. Wichtig sei ausserdem, dass Immobilien an gemeinnützige Modelle verkauft werden, durch Sensibilisierung von Immobilienbesitzer:innen oder gar durch ein Vorkaufsrecht der Stadt Zürich. Snezana Blickenstorfer weist in diesem Zuge auf die kommenden städtischen Abstimmungen am 18. Juli zum Wohnraumfonds hin.
Im Sommer 2024 sollen alle Fahrbahnen wieder dem Verkehr übergeben werden, im Frühjahr 2025 ist die Eröffnung des Überlandparks geplant. Es wird sich zeigen, in welche Richtung sich das Quartier danach entwickelt.