Offener Brief an Papa: «Sexuelle Gewalt ist nicht nur ein Thema der Feministinnen.»

Tsüri-Redaktorin Laura Kaufmann wendet sich mit einem offenen Brief an ihren Vater und bittet ihn, sexuelle Belästigung ernst zu nehmen. Ihr Vater steht stellvertretend für viele Väter.

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Lieber Papa

Wir müssen reden. Du hast mir vieles beigebracht in meinem Leben. Du hast mir mit drei Jahren beigebracht Ski zu fahren. Du hast mir beigebracht zu schwimmen. Du hast mir beigebracht Rad zu fahren. Du hast mir beigebracht zu argumentieren. Du hast mir beigebracht Diskussionen zu gewinnen. Du hast mir beigebracht ehrlich und aufrichtig zu sein. Du hast mir Durchhaltewillen beigebracht. Für all das und noch viel mehr liebe ich dich. Ohne dich (und Mama) würde ich heute nicht hier sitzen und diesen Text schreiben.

Aber jetzt bin ich erwachsen und du kannst etwas von mir lernen. Du sagst, sexuelle Belästigung sei weniger schlimm als Vergewaltigung. Mama schüttelt den Kopf. Du sagst, du könnest nicht verstehen, warum ein Mann in deinem Unternehmen gekündigt hat, «nur» weil es mehrere Fälle von sexueller Belästigung gab. Mama schüttelt den Kopf. Du sagst, das Schweizer Recht rechtfertige nun mal keine fristlose Kündigung bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Das sei nun mal so. Mama schüttelt den Kopf. Ob es dich interessiere, wie dein Unternehmen das jetzt handhabt, frage ich. Du arbeitest nicht mehr dort, deshalb interessiert es dich nicht mehr, antwortest du. Es interessiert dich nicht, weil du keine Frau bist, denke ich.

Nein, du bist keine Frau. Du musstest nie über Blondinenwitze lachen, obwohl du selber blond bist. Du sasst nie im Bus und ein Mann hat dich angestarrt, sodass du innerlich gefleht hast, dass er nicht an derselben Station wie du aussteigen würde. Du hast nie ungefragt Bilder von Penissen per Whatsapp erhalten. Dir hat nie ein fremder Mann vorgeschlagen, zusammen Sex auf der Zugtoilette zu haben. Vor dir hat nie ein Mann ungefragt onaniert. Dir hat nie ein Mann ungefragt an die Brüste gefasst und nach deinem schockierten Blick nur laut gelacht. Du sasst nie im Taxi und der Fahrer ist einfach an deinem Haus vorbeigefahren. Du lagst nie neben einem Mann und hast dich schlafend gestellt, um das Schlimmste zu verhindern. Du hast nie gehofft, dass es einfach möglichst bald vorbei ist. Hinter dir hat nie ein Mann die Türe abgeschlossen und du dachtest nur noch ans Überleben.

Papa, was muss ich dir noch erzählen, damit du mich verstehst?

Du setzt dich doch auch für Flüchtlinge ein, obwohl du keiner bist. Du setzt dich doch auch für die weniger Privilegierten ein, obwohl es dir selber gut geht. Du setzt dich doch auch für die Umwelt ein, obwohl du die Klimakatastrophe nicht mehr miterleben wirst. Du setzt dich doch auch für meine AHV ein, obwohl du bis dahin schon lange tot sein wirst. Warum misst du beim Thema Frauen mit anderen Ellen, Papa?

Ja, du bist in einer anderen Zeit aufgewachsen. Damals gab es noch kein Frauenstimmrecht, und Sexismus war gesellschaftlich akzeptiert. Damals musstet ihr euch nicht mit Frauenthemen befassen, weil es in der Chefetage kaum Frauen gab. Aber heute ist nicht damals. Zeiten ändern sich.

Papa, du warst lange Zeit in meinem Leben der Mann, den ich am meisten geliebt habe. Und noch heute bist du der Mann, von dem ich mir am meisten Lob und Anerkennung wünsche. Ich liebe dich, wie eine Tochter ihren Vater liebt. Wenn du mich auch liebst, dann bitte tu etwas.

Hör Mama zu.

Lache nicht mehr mit, wenn andere Männer sexistische Witze machen. Kümmere dich darum, wie deine Firma mit sexueller Belästigung umgeht. Schreite ein, wenn du erlebst, dass eine Frau von einem Mann belästigt wird. Sexuelle Gewalt ist nicht nur ein Thema der Feministinnen. Es ist ein Thema unserer Gesellschaft.

Ich zähle auf dich.

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