Ni Una Menos: Seit fünf Jahren kämpfen sie gegen Femizide
Sie taufen den Helvetiaplatz um, trauern in den Quartieren um getötete Frauen, benennen Frauenmorde und prangern das System an, das diese ermöglicht. Seit fünf Jahren ist das Kollektiv Ni Una Menos in Zürich aktiv, denn die Zahl der Opfer ist unverändert hoch.
Auf dem Brunnenrand liegen Schilder: Wädenswil, 15. Januar, 56 Jahre. Männedorf, 21. Mai, 35 Jahre. Zürich, 24. August, 38 Jahre. Wir sind auf dem Vorplatz eines Wohnquartiers in Altstetten bei einer Tramhaltestelle, deren Namen niemand kennt. Es windet und später wird sich das grösste Gewitter des Sommers über Zürich entladen.
Etwa hundert Personen, die meisten sind Anwohner:innen aus dem Quartier, haben sich an diesem Sonntag im September hier versammelt. Ihre Kinder umkreisen auf Kickboards den Brunnen. Alle schauen zur Aktivistin im weissen T-Shirt und dem «Streik»-Käppli. «Wir sind hier, weil wir nicht vergessen wollen, was hier vor drei Jahren geschehen ist», spricht sie ins Mikrophon. «Morde an Frauen sind keine Einzelfälle, sondern haben System in der Gesellschaft, in der wir leben. Ni Una Menos!»
Ni Una Menos – Nicht eine Frau weniger. Weltweit kämpfen Aktivist:innen mit dieser Forderung gegen Feminizide, die Ermordung von Frauen durch Männer.
Die Ni Una Menos Bewegung hat ihren Ursprung in Lateinamerika und an diesem Tag wird ihr Ruf in Altstetten laut. Die Anwesenden gedenken Fulya, die 2021 in diesem Quartier vor der eigenen Haustüre von ihrem Mann ermordet wurde. Der Fall hat die Schweiz bewegt, diverse Medien berichteten darüber.
Den heutigen Tag organisierte das Zürcher Kollektiv Ni Una Menos in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und einer Anwohnerin aus dem Quartier. Filiz, die Nachbarin, sagt, sie habe Fulya nicht persönlich gekannt. Doch die Tat lasse sie nicht los. Auch drei Jahre später frage sie sich, wie es dazu kommen konnte – und ob die Tragödie hätte verhindert werden können. Ihre Fragen bleiben: «Wieso mues e Mueter sterbe? Wieso mues ä Frau sterbe?»
Sie haben den Helvetiaplatz umgetauft
Szenenwechsel, ein paar Wochen später. In einem Gemeinschaftsraum in Zürich, in dem sich verschiedene linke, aktivistische Gruppierungen treffen, kommt jede zweite Woche die Kerngruppe von Ni Una Menos zusammen. Einmal pro Monat ist der Austausch offen für Interessierte.
An den Wänden hängen Poster, es riecht nach Farbe und nach Leim. Immer wieder öffnet sich die Tür, und ein neues Gesicht gesellt sich zur Runde. Verschiedene Generationen sitzen am Tisch, die meisten aber sind jung, zwischen 20 und 30 Jahre alt und mustern den Besuch der Presse mit Skepsis.
Noch immer gibt es Medien, die von einem «Beziehungsdrama» schreiben, wenn ein Mann seine Ex-Freundin ermordet, einem «Familienstreit», wenn der Vater die Mutter erschlägt. 2019, im Zuge des grossen Frauenstreiks, erfuhr das Thema Feminizide medial Aufmerksamkeit. Doch dann kam Corona, andere Themen rückten in den Vordergrund und der Fokus auf Femizide nahm wieder ab. So zumindest die Einschätzung der Aktivist:innen an diesem Abend.
Das Kollektiv Ni Una Menos Zürich ist seit fünf Jahren aktiv. Damals, 2019, sind sie mit einem Knall auf der Bildfläche erschienen. Während des feministischen Streiks stieg eine von ihnen auf eine Leiter und klebte ein selbstgemachtes Schild über das Helvetiaplatz-Schild. Seitdem wird in linken Kreisen vom Ni-Una-Menos-Platz gesprochen.
Zu Beginn hielt das Kollektiv nach jedem Feminizid am darauffolgenden Donnerstag auf dem Helvetia-, oder eben: Ni-Una-Menos-Platz, eine Protestkundgebung für die Ermordeten. Mit Kerzen und einem Transparent mit den Angaben zum Opfer, wie jenem auf dem Brunnenrand in Altstetten.
In den letzten fünf Jahren haben sich aber ein paar Dinge verändert.
Bewegung am Laufen halten
Zu Beginn zählten rund 50 Personen zum erweiterten Kreis des Kollektivs, doch mit der Pandemie erfolgte der Einbruch und nur noch eine Handvoll Personen engagierten sich aktiv. Heute ist das Kollektiv wieder gewachsen, zwischen 30 und 40 Personen kommen an ihre Veranstaltungen, berichtet Aktivistin Hannah*.
Viele der Anwesenden sind über Grossanlässe, wie dem feministischen Streik, auf Ni Una Menos aufmerksam geworden. Viele haben einen Hintergrund in anderen aktivistischen Bewegungen. Manche waren selbst von sexualisierter Gewalt betroffen.
Klar, wäre es schön, sie wären mehr Leute im Kollektiv, meint Gründungsmitglied Alegra: «Das ist eine Herausforderung, die alle kennen: Wie hält man eine politische Bewegung am Laufen? Wie bringen wir Feminizide ins kollektive Bewusstsein?» Bei Ni Una Menos leisteten sie Basisarbeit. «Das erfordert viel Zeit und man muss es aushalten wollen und können, sich immer wieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen», erzählt Alegra.
18 Femizide, 7 in Zürich
Gleich geblieben über die Jahre ist die Statistik: Alle zwei Wochen wird in der Schweiz eine Frau von einem Mann ermordet.
Jede Woche überlebt eine Frau einen Mordversuch. 2023 rückte die Polizei im Kanton Zürich im Schnitt 20-mal pro Tag wegen häuslicher Gewalt oder familiärer Streitereien aus.
Das Projekt Stop-Femizid listet für das Jahr 2024 18 Femizide auf, sieben davon im Kanton Zürich.
Das Schweizer Strafgesetz kennt den Begriff «Femizid» aber nicht. In einem Interview mit der NZZ sagt Strafrechtsprofessorin Nora Markwalder, Femizid sei als juristischer Begriff noch unbrauchbar, da er, so wie er heute verwendet wird, zu schwammig sei.
«Warum können Staat und Polizei es nicht als das benennen, was es ist; ein Feminizid? Wie viele Einzelfälle braucht es noch, bis wir die Strukturen erkennen?»
Hannah – Ni Una Menos
Kritik an Methodik
Weil die offizielle Statistik von Bund und Polizei Femizide/Feminzide nicht als solche erfasst, greifen die Aktivist:innen für ihre Arbeit auf Medienberichterstattungen und Vernetzungen feministischer Organisationen zurück – und benennen auch Morde als Feminizide, wenn die Tathintergründe nicht vollständig geklärt sind.
Für dieses – in den Augen der Kritiker:innen – vorschnelle Urteil werden sie auch immer wieder kritisiert. Doch dagegen wehren sich die Mitglieder von Ni Una Menos. Genau dieser Fokus auf die Texthintergründe sei es, der die Morde schlussendlich verharmlose.
«Jeder dieser Morde geschieht im Patriarchat. In einem System, in dem Männer glauben, sie hätten das Recht, über den Körper von Frauen zu verfügen», sagt Marina*. Man drücke sich als Gesellschaft vor der Verantwortung, wenn man die Tat mit einer psychischen Vorerkrankung des Täters oder Beziehungsproblemen begründe. So werde jeder Mordfall zur Einzeltat. Hannah ergänzt: «Warum können Staat und Polizei es nicht als das benennen, was es ist; ein Feminizid? Wie viele Einzelfälle braucht es noch, bis wir die Strukturen erkennen?»
Wut und Trauer auf die Strasse tragen
Alegra kennt die Ni Una Menos Bewegung aus den lateinamerikanischen Ländern. Die Schweiz funktioniere diesbezüglich anders: «Wir haben uns gefragt: Warum funktioniert das in anderen Ländern, aber nicht hier? Wieso organisieren wir nicht unsere Wut und tragen sie kollektiv auf die Strasse, wenn ein Feminizid passiert?» Also hat das Kollektiv in den letzten Jahren die Form ihrer aktivistischen Arbeit angepasst.
Anstelle der spontanen Protestkundgebungen organisiert das Kollektiv nun an jedem letzten Samstag eine Kundgebung, wo sie den Ermordeten gedenken. Und sie vernetzten sich vermehrt mit anderen Aktivist:innen und bringen ihre Forderung an aktivistischen Anlässen wie dem feministischen Streiktag ein.
Eine Frage der Kapazität, aber auch eine politische Überlegung: Der Protest soll so gestaltet sein, dass möglichst viele daran teilhaben können. Einigen gehe das Thema zu nahe. Andere wollten oder könnten sich nicht öffentlich organisieren.
So entstand die Idee des Schreis. Am diesjährigen 14. Juni begann die offizielle Demonstration mit einem gemeinsamen Schrei gegen Femizide.
Im Gespräch fällt immer wieder der Begriff «kollektive Trauer», wenn sie ihre Arbeit beschreiben. Hierzulande seien solche Themen Privatsache oder Familienangelegenheit, «ich kenne das von meiner eigenen Familie, über gewisse Dinge spricht man nicht», meint Hannah. «Dieses Gedankengut müssen wir durchbrechen. Trauer geht in Wut und Wut in Widerstand über. Wir müssen uns eingestehen: Wir sind hässig. Und deswegen organisieren wir uns.»
So wie damals in Altstetten. Die Aktivistin, die dort gesprochen hat, sitzt heute auch am Tisch: «Schlussendlich geht es ja darum - dass wir den Überlebenden und Hinterbliebenen zeigen: Sie sind nicht alleine und wir haben sie nicht vergessen, weil: Nehmt ihr uns eine, antworten wir alle! Ni una menos!»
*Die Gesprächspartnerinnen möchten nur anonymisiert auftreten, aus Angst vor Repressionen. Die Namen sind der Redaktion bekannt.
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