Aufstocken statt abreissen: Gruppe will Seebahn-Kolonien retten
Seit zwei Jahrzehnten planen Genossenschaften an der Seebahnstrasse im Kreis 4 einen Ersatzneubau. Jetzt erhält das Projekt neuen Gegenwind: Nicht nur Bewohner:innen, auch Personen aus der Architektur und Politik kritisieren die Abrisspläne.
Wäre alles nach Plan gelaufen, wären die beiden Siedlungen an der Seebahnstrasse bereits dem Erdboden gleichgemacht worden. Seit 2005 planen die Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) und die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) hier den gigantischen Ersatzneubau «Seebahn-Höfe».
Erst vergangenen Herbst genehmigte der Stadtrat den Gestaltungsplan, der den Kolonien «Kanzlei» der ABZ und «Seebahn» der BEP ein neues Gesicht geben will. Ein wichtiger Schritt im fast zwanzigjährigen Planungsprozess. Frühester Baubeginn: 2026.
Doch nun will ihnen eine Gruppe von Kritiker:innen den Genossenschaften einen Strich durch die Rechnung machen: Sie fordern eine Neubeurteilung des Projekts. Die Pläne seien nicht mehr zeitgemäss, abreissen aus ökologischen und sozialen Gründen nicht mehr angebracht.
Stattdessen sollen die fast hundertjährigen Siedlungen saniert und aufgestockt werden. Mit einem Positionspapier und einer Petition im neuen Jahr wollen sie die Genossenschaften zum Umdenken bewegen – und politischen Druck ausüben.
Neubeurteilung des Status Quo
«Wir müssen von der Idee wegkommen, dass gute Entwürfe nur im Neubau möglich sind», sagt Sebastian Bietenhader. Es ist ein kalter Dezembermorgen, im Grau des Himmels wirkt die BEP-Siedlung trostlos. Daran können auch die farbigen Graffitis an den Hausmauern nichts ändern.
«Solche Ersatzneubauprojekte sind klimaschädlich und können ein Quartier nachhaltig verändern.»
Thomas Meyer, Mitinitiant der IG «Seebahnhöfe retten»
Der Architekt hat trotzdem warme Worte für das Gebäude übrig: Er schwärmt von der Einzigartigkeit der Dachterrasse, welche die Treppenhäuser miteinander verbindet, dem begrünten Innenhof mit den alten Bäumen und deutet schliesslich in Richtung der benachbarten ABZ-Siedlung. «Ende der 1920er-Jahre waren dies genossenschaftliche Vorzeigebauten. Das kann man über die gegenwärtigen Ersatzneubauprojekte der Genossenschaften schlicht nicht sagen.»
Deshalb hat er sich der Interessengemeinschaft (IG) «Seebahnhöfe retten» angeschlossen. Rund 15 Personen sind derzeit Teil der IG, bestehend aus Architekturschaffenden, Jungpolitiker und Bewohner:innen der Seebahn-Kolonien. Dabei kommt es auch zu Überschneidungen.
So ist der Mitinitiant der IG, Thomas Meyer, nicht nur Architekt, er wohnt auch in der ABZ-Siedlung. Er habe schon früh versucht, mit den Genossenschaften in den Austausch zu kommen, weil er sich eine Neubeurteilung des Status Quo wünscht. «Das Projekt wurde zu einer Zeit ausgearbeitet, als das Bewusstsein über die ökologischen Auswirkungen eines Abrisses noch nicht geschärft war», sagt Meyer.
Mittlerweile sei aber der Branche klar geworden, dass bei einem Ersatzneubau extrem viel CO2 freigesetzt werde. Deshalb ist er sich sicher: «Würden die Genossenschaften heute mit der Planung eines solchen Projekts beginnen, wäre ein Abriss keine Option.» Weil er bei den Verantwortlichen jedoch auf taube Ohren gestossen sei, versucht Meyer seit letztem Herbst, Menschen zu vernetzen, die dem Neubau ebenfalls kritisch gegenüberstehen.
Er will dem Problem mehr Gehör verschaffen: «Solche Ersatzneubauprojekte sind klimaschädlich und können ein Quartier nachhaltig verändern, weil eine ganze Bewohnerschaft ausgetauscht wird.»
Masterarbeit dient als alternativer Plan
Unterstützung erhält Meyer von den Jungpolitikern und Grünen-Gemeinderäte Yves Henz und Martin Busekros, deren Rolle von zentraler Bedeutung ist. Anfang 2025 wird das Zürcher Parlament über den Gestaltungsplan der «Seebahn-Höfe» entscheiden. Denn noch ist der Abriss nicht in trockenen Tüchern. Sollte der Plan scheitern, müssten die Genossenschaften zurück auf Feld eins.
Ihm sei bewusst, dass sie in diesem Fall die «Spielverderber:innen» seien, sagt Busekros. «Aber das, was an der Seebahnstrasse passiert, geschieht überall in der Stadt. Dass es Genossenschaften und die Stadt Zürich kein bisschen besser machen, schockiert mich.» Er will ein Zeichen setzen. Sein Plan ist es, den Gemeinderat davon zu überzeugen, den Gestaltungsplan abzulehnen, damit die Genossenschaften ein neues Projekt ausarbeiten müssen. «Nicht die Siedlungen sind aus der Zeit gefallen, sondern das Vorhaben, sie abzureissen», sagt Busekros.
Dieser Aussage pflichten auch die Architekten Thomas Meyer und Sebastian Bietenhader bei. Ihnen schwebt bereits eine Alternative vor: Die Wohnkolonien sollen saniert und aufgestockt werden – mit einem möglichst kostengünstigen Ausbaustandard, wie Bietenhader sagt. Technisch ist es ihm zufolge möglich, die alten Leitungen im Mauerwerk zu ersetzen und die Wohnungen rollstuhlgerecht umzubauen, sodass man die bestehenden Bauten erhalten könnte.
Bezüglich Aufstockung beziehen sie sich auf eine Masterarbeit eines Abgängers der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) aus dem Jahr 2018. Darin zeigt der Architekturstudent auf, wie die Anzahl der Wohnungen in den umgebauten Kolonien von heute 269 auf 366 erhöht werden könnte – statt wie mit dem Ersatzneubau nur auf 349.
Zudem könne im Falle einer Sanierung die Wohnfläche effizienter genutzt werden, als wenn neu gebaut würde: Gemäss Berechnungen der IG wird der Flächenverbrauch pro Person nach einer Sanierung bei 27 Quadratmeter stagnieren, während er beim Neubau auf 33 Quadratmeter ansteigen wird. Entsprechend könnten ähnlich viele Menschen in den sanierten Siedlungen unterkommen, wie von den Genossenschaften aktuell geplant. Dies komme nicht nur dem Verdichtungsziel der Stadt, sondern auch dem Klima zugute, so das Argument.
Genossenschaften halten an Abriss fest
Man könne die kritische Haltung verstehen, schreibt der Mediensprecher Mike Weibel im Namen der Genossenschaften auf Anfrage, zumal sich der Diskurs in den letzten Jahren verschoben habe. Weibel weist aber auch darauf hin, dass sowohl die ABZ als auch die BEP «seit langem und immer fundiert» geprüft hätten, ob ein Ersatzneubau sinnvoll sei, da sie die Projekte von den Genossenschafter:innen zur Abstimmung vorlegen müssen.
«Es hätte niemand etwas davon, wenn die Häuser teuer saniert werden müssen.»
Mike Weibel, Mediensprecher des Projekts «Seebahn-Höfe»
Dem Sprecher zufolge wäre eine Sanierung im Bestand zwar der einfachere Weg gewesen, das Ergebnis würde jedoch trotz hoher Investitionskosten nicht befriedigend ausfallen. So müssten die Siedlungen laut Weibel nach denkmalschützerischen Vorgaben saniert werden, weshalb weder eine Anpassung der Grundrisse noch eine Aufstockung möglich wäre. «Mit diesem Weg hätten wir eine grosse Chance vertan.»
Eine sanfte Sanierung mit Aufstockung, wie von der IG gewünscht, sei also aufgrund technischer Anforderungen und Normen nicht möglich. Weiter zeigten Studien, die im Auftrag der Genossenschaften gemacht worden waren, dass nicht nur die Wohnkosten teurer würden, sondern auch die CO2-Bilanz würde nur marginal besser abschneiden als beim nachhaltigen Neubau, so Weibel.
Für die Genossenschaften ist deshalb klar: Die Ideen der IG kommen für sie nicht infrage, zumal diese «nicht die gleiche Tiefe und Kenntnisse aller Rahmenbedingungen» aufweisen würden.
Dass ausgerechnet Gemeinderäte von den Grünen das Projekt und damit auch das Ziel der Stadt, bis 2050 ein Drittel gemeinnützige Wohnungen zu bauen, «sabotieren», löst bei den Verantwortlichen viel Unverständnis aus. «Es hätte niemand etwas davon, wenn die Häuser teuer saniert werden müssen und die Mieten dadurch steigen», schreibt Weibel. Schafft es der Gestaltungsplan nicht durch die Abstimmung im Gemeinderat, hätten die Genossenschaften ausserdem «sehr viel Geld umsonst ausgegeben».
Mikrokosmos im Kreis 4
Viel Geld sparen könnte hingegen Lean Schnyder, wenn sich das Projekt ein weiteres Mal verzögert. Vor eineinhalb Jahren zog die Studentin in die BEP-Siedlung. Ein Glücksfall, denn sie ist im Viertel gross geworden: «Das Bullingerquartier ist mein Zuhause, ein Teil meiner Identität.» Dass die Genossenschaft den fast hundertjährigen Bau abreissen will, widerstrebt auch ihr.
«Nur weil es ein Projekt von Genossenschaften ist, heisst das nicht, dass man weniger genau hinschauen muss.»
Lean Schnyder, Bewohnerin der BEP-Siedlung
Nicht nur, weil sie dadurch ihr Zuhause verlieren würde: «Es ist weder für das Klima, noch für das Quartier gut, einen solchen Mikrokosmos zu zerstören.» Wie und wo man wohnt, beschäftigt die 23-Jährige schon seit sie klein ist. Ihre Familie lebte in einer befristeten Wohnung, wobei der Vertrag immer wieder verlängert worden sei. Doch die Angst davor, verdrängt zu werden, begleitet Schnyder bis heute.
In ihrem Freundeskreis sei es Thema Nummer eins, auf Wohnungsbesichtigungen werde man zwangsläufig zur Konkurrenz. Deshalb habe sie nicht lange überlegen müssen, ob sie sich gegen das Neubauprojekt engagiert, als im Herbst ein Flyer der IG Seebahn-Höfe bei ihr im Briefkasten lag.
Dass vor allem die BEP-Siedlung mehr als nur einen neuen Anstrich brauche, sei ihr klar. «Aber es muss doch im Interesse aller Beteiligten sein, solche Bauten für das Stadtbild zu erhalten und sie so umzubauen, dass es nicht zu einem kompletten Austausch der Bewohner:innen kommt», so Schnyder.
Sie sieht die Stadt in der Pflicht, Verantwortung für jene Bevölkerungsgruppen zu übernehmen, die es bereits heute schwer haben, in Zürich eine Wohnung zu finden. «Nur weil es ein Projekt von Genossenschaften ist, heisst das nicht, dass man weniger genau hinschauen muss.»
Als Nächstes müssen sich die Gemeinderät:innen über das Projekt beugen – und entscheiden, ob 2026 tatsächlich die Bagger bei den Seebahn-Kolonien auffahren.
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