«Meinst du, als Mann würdest du hier drin gleich behandelt werden?» – «Nein»
Die zwei Stadtzürcher neo-Nationalrätinnen Bettina Balmer von der FDP und Anna Rosenwasser von der SP im Gespräch über Gleichstellung, den Schutzstatus S und die ungeschriebenen Regeln im Bundeshaus.
Die beiden Politikerinnen vertreten seit einem Jahr die Zürcher Stimmbevölkerung in Bern, aber unterschiedlicher könnten sie auf den ersten Blick kaum sein. Bettina Balmer, FDP-Politikerin vom Zürichberg, arbeitet als Chirurgin im Kinderspital und politisierte acht Jahre lang im Kantonsrat. Anna Rosenwasser, Journalistin, Schriftstellerin, Berufs-Feministin wurde als Queer-Aktivistin von den sozialen Medien für die SP ins Bundeshaus gewählt.
Wir treffen die beiden neuen Stadtzürcher Nationalrätinnen im Bundeshaus. Es ist Wintersession, durch die Gänge laufen Menschen mit dem Telefon am Ohr. Die drei Eidgenossen in der Eingangshalle werden von einem überdimensionierten Christbaum verdeckt.
Nina Graf: Frau Rosenwasser, Sie haben sich nach Ihrer Wahl in den Nationalrat 2023 einen Tag Bedenkzeit genommen. Diesen haben Sie, Frau Balmer, nicht gebraucht. Haben Sie es je bereut, Ja gesagt zu haben?
Bettina Balmer: Nein. Ich habe nach wie vor das Gefühl, dass ich an dem Ort bin, an dem ich sein sollte, und die Arbeit im Nationalrat macht mir wirklich sehr Spass.
Anna Rosenwasser: Ich muss dazu auch sagen, dass meine Zweifel stark medial gestaltet waren. Ich habe am Montagmorgen nach einer statistisch komplett unwahrscheinlichen Wahl, wo ich noch immer durch den Wind war, einem Journalisten gesagt, dass ich gerade nicht sagen kann, ob ich die Wahl annehme. Man hätte mich an diesem Morgen fragen können, welches Sandwich ich will und ich hätte mich nicht entscheiden können. Von dem her habe ich nie richtig gezweifelt, sondern mir die Zeit genommen, um deutlich Ja zu sagen – andere überlegen sich das jahrelang.
«Ich würde fast sagen – und das ist mir als linke Person sonst eher fremd –, dass es eine Form von Patriotismus ist, die ich verspüre.»
Anna Rosenwasser (SP)
Und wie fühlen sie sich ein Jahr später mit der Entscheidung?
Rosenwasser: Ich empfinde es als wahnsinnig grosse Ehre. Ich politisiere mit dem Wissen, dass die Bevölkerung im Kanton Zürich mich mit 92'000 Stimmen gewählt hat und diese Wähler:innen mich als ihre Vertretung ansehen. Ich würde fast sagen – und das ist mir als linke Person sonst eher fremd –, dass es sogar eine Form von Patriotismus ist, die ich dabei verspüre.
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit im Nationalrat von Ihrer bisherigen politischen Arbeit im Kantonsrat oder als Aktivistin?
Balmer: Ich arbeite ja auch noch 25 bis 30 Stunden pro Woche am Kinderspital Zürich und war mir bewusst, dass man als Nationalrätin noch ein bisschen mehr arbeitet, als im Kantonsrat. Aber der Aufwand hier ist wirklich gross. So bekommt man beispielsweise unzählige E-Mails, was pro Tag locker zwei bis drei Stunden in Anspruch nimmt.
Rosenwasser: Für mich ist eine zentrale Erkenntnis dieses Jahres: Man muss immer nachfragen. Zu Beginn habe ich mich gefühlt, als hätte ich ein mehrwöchiges Einführungsseminar verpasst, das alle anderen bekommen haben.
Balmer: Gut beschrieben! Mir ging es auch so.
Rosenwasser: «Geht es dir auch so?» Balmer: «Das beschäftigt mich sehr. Ich denke mir, dass ich bei einer Abstimmung eine Meinung vertrete, ohne das ganze Fachwissen zu einer Sache mitzubringen.»
Rosenwasser: Und dann ist hier, im Bundeshaus sein zu können, zuallererst eine Klassenfrage. Allein schon, wie man sich gibt, was man trägt, zu wissen, dass man jedes Votum mit «besten Dank Frau Präsidentin, sehr geschätzte Anwesende, sehr geehrte Damen und Herren» beginnt. Und eine der wichtigsten Lektionen war, dass es nicht der Anspruch an ein:e Politiker:in ist, dass er:sie alles versteht. Ich glaube, so stellt man sich immer eine:n Politiker:in vor: eine Person, die alles weiss. Dabei orientieren wir uns innerhalb einer Fraktion an den Leuten, die das behandelte Thema als Fachbereich haben. Vor einem Jahr hätte ich mich dafür sehr geschämt. Jetzt schäme ich mich immer noch, aber nur noch halb so fest.
Rosenwasser wendet sich an Balmer.
Geht es dir auch so? Oder ist das für dich gar kein Thema, weil du schon länger als Politikerin tätig bist?
Bettina Balmer trat 2008 der FDP bei und war von 2015 bis zur Wahl in den Nationalrat im Kantonsrat.
Balmer: Das beschäftigt mich auch sehr. Ich denke mir dann, dass ich bei einer Abstimmung eine Meinung vertrete, ohne das ganze Fachwissen zu einer Sache mitzubringen.
Ein Bimmeln ertönt, ähnlich wie ein Schulgong. Es ist das Sessionsglöckchen, das die Parlamentarier:innen für die Abstimmungen zurück in den Saal ruft.
Balmer: Ich höre den Unterschied zwischen dem Ständerat- und dem Nationalratsglöcken noch immer nicht.
Rosenwasser: Ich merke es mir so: Der Ständerat klingt fröhlich und der Nationalrat viel gedämpfter.
Die beiden verabschieden sich für die Abstimmung in den Nationalratssaal im oberen Stock. 15 Minuten später sind sie wieder zurück.
In Bern vertreten Sie unterschiedliche Positionen, politisch geprägt wurden jedoch beide durch dasselbe Thema: die Gleichstellung. Wussten Sie das über Ihre Ratskollegin, Frau Rosenwasser?
Rosenwasser: Ich erinnere mich. Wir sassen einmal nebeneinander an einem Einführungsanlass und haben länger miteinander gesprochen. Es ging um Frauen auf dem Arbeitsmarkt?
Balmer: Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch weil ich da persönlich Hürden erlebte, als unsere Kinder Teenager waren und es grundsätzlich für Frauen mit Kindern auf dem Arbeitsmarkt immer noch schwierig ist.
«Ich frage mich, ob ich einen Vorschlag unterstützen soll, der nur teilweise überzeugend ist, oder ob ich auf eine Lösung hinarbeiten soll, die wirklich umfassend ist.»
Bettina Balmer (FDP)
Balmer: Aktuell läuft ja die Diskussion über das Kita-Gesetz, das eine Betreuungszulage vorsieht. Eltern, insbesondere Müttern, den Wiedereinstieg in das Berufsleben zu ermöglichen, ist für mich ein zentrales Anliegen. Ich bin mit der Initiative so wie sie aktuell aussieht jedoch nicht einverstanden, weil sie ausschließlich Kita-Leistungen fördern will und die private Kinderbetreuung aussen vor lässt. Und da frage mich, ob ich einen Vorschlag unterstützen soll, der nur teilweise überzeugend ist, oder ob ich auf eine Lösung hinarbeiten soll, die wirklich umfassend ist.
Rosenwasser: Das ist für mich ein fortlaufendes inneres Dilemma, dass mein Mandat hier auf Kompromissen beruht. Bevor ich hier war, habe ich Aktivismus gemacht und die ganze Bäckerei gefordert, nicht nur Brösmeli. Im Nationalrat geht es um Brösmeli. Ich frage mich oft: Macht die politische Kompromissfindung Sinn, weil sie eine Sache in einzelnen Aspekten weiter bringt oder ist ein Kompromiss inkonsequent, weil er oft die Schwächsten zurücklässt? Damit hadere ich sehr.
Im Bundeshaus zeigt sich trotz Fortschritten noch immer eine ungleiche Geschlechterverteilung: Im Nationalrat sind 39 Prozent, im Ständerat 35 Prozent Frauen vertreten. In der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK) sowie in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) sind Frauen deutlich unterrepräsentiert, während in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) der Frauenanteil am höchsten ist.
Rosenwasser: Bevor ich Nationalrätin wurde, habe ich schon fast wieder vergessen, wie es ist, wenn man als junge Frau in vorderster Reihe steht. Ich habe das Gefühl nicht vermisst, wie Männer mit einem umgehen – entweder wird man komplett ignoriert oder es gibt einen schmierigen Unterton. Im Bundeshaus ist dieser Ton wieder da. Es gibt Politiker, die nicht mal mit mir im Lift sein können, ohne sexistische Sprüche zu machen. Und das Schlimme ist: Ich merke nach einem Jahr, dass sich ein Gewöhnungseffekt einstellt, weil ich mich nicht jedes Mal wehren kann.
Rosenwasser: «Hast du den Eindruck, als Mann würdest du hier drin gleich behandelt werden?» Balmer: «Nein, wahrscheinlich ist es noch immer nicht dasselbe.»
Balmer: Manchmal ist es ein Vorteil, wenn man älter wird. Vielleicht habe ich das Privileg, dass der eine oder andere im Parlament auf mich als Ärztin angewiesen ist und man mich deswegen anders wahrnimmt.
Rosenwasser: Aber hast du den Eindruck, als Mann würdest du hier drin gleich behandelt werden wie jetzt als Frau?
Balmer: Nein, wahrscheinlich ist es immer noch nicht dasselbe. Es gibt sicher Momente, in denen man merkt, dass man als Frau benachteiligt wird. Aber anstatt mich von diesen Momenten entmutigen zu lassen, versuche ich, sie als Ansporn zu sehen, etwas dagegen zu unternehmen.
Frau Balmer, Sie erleben das Bundeshaus bezüglich Gleichstellung also anders als Frau Rosenwasser.
Balmer: Ja, aber ich weiss, was sie meint. Ich erinnere mich an meine ersten Assistenzjahre. In der männerdominierten Chirurgie habe ich viele ähnliche Erfahrungen gemacht. Und die Zahlen, die sie eben nannten, finde ich eindrücklich und typisch: Frauen in Care-Berufen oder Care-Kommissionen. In der letzten Legislatur waren die Prozentzahlen besser. Es beschäftigt mich, wieso es rückwärts geht und für mich ist klar: Es braucht mehr Frauen in der nationalen Politik.
Schauen wir zurück auf Ihr erstes Jahr – was konnten Sie an politischen Forderungen umsetzen?
Rosenwasser: Ich denke, ich konnte zur Gleichstellung beitragen, indem ich über 46`000 Leute pro Tag informiere, was hier passiert und so Zugänglichkeit zu politischen Inhalten schaffe, die vorher innerhalb des Bundeshauses nicht existiert hat – weder auf offiziellen Kanälen noch von einzelnen Exponent:innen. Das ist eine Arbeit, die ich in diesem Jahr sehr intensiv vertreten habe, auf Instagram und auch in klassischen Medien. Ich bin sehr glücklich, diese Aufgabe zu haben, es fühlt sich sinnvoll an.
Eine Untersuchung, die den Einfluss der Parlamentarier:innen misst, wählte Anna Rosenwasser bei der Kategorie öffentlicher Einfluss direkt auf Platz 20. Platz 1, 2 und 3 besetzen Gerhard Pfister (Mitte), Jon Pult (SP), Cédric Wermuth (SP).
Balmer: Manches geht auf direktem Weg schneller als über Vorstösse. So habe ich mich direkt beim Bundesamt für Gesundheit dafür eingesetzt, den Impfstoff gegen das RSV-Virus, der für Neugeborene und Säuglinge gefährlich sein kann, zu priorisieren. Jetzt können viele Babys bereits diesen Winter in der Schweiz geimpft werden – das freut mich sehr.
«Man überlegt es sich genau, wann und wo man von der Parteilinie ausschert.»
Bettina Balmer (FDP)
Letzte Woche ging es in der Session um die Einschränkung des Schutzstatus S für ukrainische Geflüchtete – nicht klassischerweise Ihr Themenbereich Gesundheitspolitik. Sie haben für die Einschränkung gestimmt. Im Interview mit Tsüri.ch vor den Wahlen sagten Sie, Sie wollen jenen Asyl geben, «die es verdient haben». War dieser Entscheid jetzt Asylpolitik auf nationaler FDP-Parteilinie?
Balmer: Ja, dieses Votum entsprach der Asylpolitik der Partei und es war keine einfache Entscheidung. Aber man überlegt es sich genau, wann und wo man von der Parteilinie ausschert. Eine Woche zuvor ging es darum, ob wir 80 Millionen mehr für die humanitäre Hilfe ausgeben wollen. Da bin ich ausgeschert und schlussendlich waren es 95 Ja zu 94 Nein-Stimmen und mein Ja war das Zünglein an der Waage. Dieses Abstimmungsverhalten hat mir einigen Ärger eingebracht – aber es war mir auch als Ärztin sehr wichtig, die humanitären Werte hochzuhalten. Ich ziehe bei diesen Themen eben auch Überlegungen ein, wie wir nicht zu viele Schulden machen und dann nur noch Schuldzinsen zahlen statt mit Steuergeldern in Sinnvolles zu investieren.
Rosenwasser: Ich fand diese Abstimmung wahnsinnig beelendend. Während ich Bundesrat Jans höre zu betonen, dass es keine ukrainischen Geflüchteten gibt, die diesen Status nicht verdient hätten, während ich sehe, wie wir als Rat darüber uns anmassen, darüber zu entscheiden, zu entscheiden, wer ein Leben in Frieden verdient hat und wer nicht. Bislang habe ich mir als Aktivistin das Privileg rausgenommen, mich nicht in Migrationsdebatten einzumischen. Jetzt als Nationalrätin muss ich mich aber damit auseinandersetzen und erlebe die Absurdität dieser Debatten.
«Es wäre nicht gut gewesen, wenn ich in diesem Jahr viel gesprochen hätte.»
Anna Rosenwasser (SP)
Frau Rosenwasser, die NZZ beschrieb Sie als zurückhaltende Nationalrätin. Sie selbst sagten, Sie hätten noch nie so viel geschwiegen wie hier. Planen Sie das in den nächsten drei Jahren zu ändern?
Rosenwasser: Ich muss lachen über den Begriff «zurückhaltend» – das wäre wohl das letzte Wort, das jemand aus meinem Umfeld für mich wählen würde. Aber ja, in Kommissions- und Fraktionssitzungen melde ich mich sehr wenig, weil ich finde, es ist wichtig zu wissen, wann man Raum einnehmen und wann zuhören und lernen soll. Es wäre nicht gut gewesen, wenn ich in diesem Jahr viel gesprochen hätte; das wäre überstürzt gewesen.
Ihre Wähler:innen haben mit der Aktivistin Anna Rosenwasser aber vielleicht eher eine laute Nationalrätin erwartet.
Rosenwasser: Indem ich weniger Raum einnehme, bringe ich Empathie und Verletzlichkeit in den Diskurs um das, was eine Politikerin sein kann. Ich denke, meine Wähler:innen haben mich auch dafür gewählt, damit ich diese Werte nach Bern bringe.
Schauen wir auf die nächsten drei Jahre. Was haben Sie sich für den Rest der Legislatur vorgenommen?
Rosenwasser: Ich will eine unterstützende Stimme in verschiedenen Gleichstellungsthemen sein. Neben den klassischen feministischen Themen auch in Bereichen, in denen ich bisher nicht aktiv war, wie zum Beispiel der Behindertenpolitik. Und dann sehe ich es auch als meine Aufgabe, dass ich mich mit meinem Hintergrund als Queer-Aktivistin dafür einsetze, dass die Belange und Anliegen der Community in die allgemeine politische Debatte einfliessen und gehört werden. Was hier im Bundeshaus als Mitte gilt, ist ganz woanders, als in der Welt, wo ich vorher politisch aktiv war.
Balmer: Ein grosses Thema bei mir sind unter anderem Präventionsarbeit im Gesundheitsbereich und Fragen zur sexuellen Gesundheit. Zudem hoffe ich, dass es nach drei Jahren noch nicht fertig ist.
Sie beide vertreten Zürich von sehr unterschiedlichen Positionen aus. Warum braucht Zürich die jeweils andere im Nationalrat?
Balmer: Anna bringt viel Lebensmut und frische Gedanken in den Rat, das ist grossartig.
Rosenwasser: Ich nehme dich als Person wahr, die sehr genau überlegt und den Anspruch hat, eine Sachlage genau zu verstehen, bevor du darüber entscheidest. Und das ist etwas, das ich mir bei allen Ratsmitgliedern wünsche.