Künstler Milo Rau im Interview: «Behinderte sind der Fetisch der postmodernen Kunst»
«Die 120 Tage von Sodom», so heisst das neue Stück von Milo Rau, in dem Schauspieler*innen des Behindertentheaters Hora Vergewaltigungen, Kreuzigungen und andere Heftigkeiten spielen. Wie meistens, wenn der Künstler etwas auf die Bühne bringt, geht es auch hier um Tabus, Extreme, Gewalt und die Grenzen der Kunst. Wir haben ihn zum Interview getroffen.
Das Hemd ist zerknittert und die obersten Knöpfe sind offen. Milo Rau gibt auf dem Weg aus dem Proberaum im Schiffbau noch letzte Anweisungen. Obwohl eigentlich bereits Apéro-Zeit wäre, muss der Künstler nach dem Interview wieder an die Arbeit: Lichtprobe bis spät in die Nacht. Den Bar-Menschen begrüsst Milo Rau mit einem «Schon wieder ich» und bestellt einen Kaffee...
Sie schreiben Bücher, Kolumnen, diskutieren im Literaturclub auf SRF und inszenieren verschiedenste Stücke auf der Bühne. Zu was haben Sie eigentlich nichts zu sagen? Milo Rau: Der Themenfokus meiner Stücke, Filme und Bücher ist immer ziemlich ähnlich: es geht meistens um soziale und rhetorische Gewalt, die Weltwirtschaft und die Grenzen der Kunst. Diese Themen versuche ich auf die unterschiedlichsten Arten und über verschiedenste Kanäle zu bearbeiten, das erweckt den Eindruck eines grossen Radius. Aber in Wahrheit habe ich zu sehr vielen Dingen überhaupt nichts zu sagen.
Zum Beispiel? Da gibt es Zahlloses... Für ein Porträt über mich hat letzthin eine Journalistin versucht, mir und meiner Familie irgendwelche Informationen über mein Privatleben abzuluchsen. Aber dazu will ich einfach nichts sagen, es ist nicht mein Thema. Und das gilt für Dutzende andere Dinge auch.
Sie wollen widersprüchlich sein, um konsequent zu sein. Worin liegt Ihr Widerspruch? Ich suche die Widersprüche in meinen Themen. Beim neuen Stück «Die 120 Tage von Sodom», das ich mit dem Theater HORA im Schiffbau inszeniere, geht es um den Widerspruch in Bezug auf behinderte Menschen: Einerseits sind sie der Fetisch der postmodernen Kunst, andererseits werden neun von zehn abgetrieben. Der Fortschritt der Pränataldiagnostik sorgt dafür, dass die HORAs, obwohl es dafür keinen offiziellen Plan gibt, die letzten ihrer Art sind – wir töten und bejubeln sie gleichzeitig. Mein Theater interessiert sich für tragische Konflikte, die dialektisch und widersprüchlich sind – wo einfache Schuldzuschreibungen nicht funktionieren.
Sie suchen die Widersprüche also in Ihren Themen, nicht in Ihnen selbst. Mein persönlich Widerspruch liegt, wenn man so will, zwischen einer sehr intellektuellen und sehr sinnlichen Herangehensweise, die man wohl in all meinen Stücken sieht – die sind ja meistens sehr emotional, sehr poetisch, zugleich aber auch sehr politisch, sehr straight. Anderes Beispiel: Ich fahre in Kriegsgebiete, stürze mich ständig in neue Abenteuer mit meinem Team. Gleichzeitig liebe ich das Theater, die Musik, die Literatur. Dieser Widerspruch wird in der Kunst fruchtbar, weil dort beide Ebenen gleichzeitig existieren, sich ergänzen.
Sie schauen genau hin, während andere die Augen verschliessen. Wie erklären Sie sich den Verlust der Wut, Empörung und Entsetzen vor den Zuständen unserer Welt? Ein Journalist behauptete in einem Interview mit mir, er könne nicht wissen, ob der Klimawandel existiere. Das stimmt nicht: Er kann es wissen, die Informationen sind jedem zugänglich. Aber so funktioniert jede grosse humane Katastrophe: Millionen Menschen wissen davon, reden darüber und doch heisst es im Nachhinein, sie hätten von nichts eine Ahnung gehabt. In der Antike sprachen sie von der Demokratie, der Heiligkeit des Lebens, gleichzeitig waren sie Sklavenhalter, unterdrückten Frauen, siedelten ganze Völker um. Bei uns ist es genau gleich: Der Klimakollaps kommt, mit dem Kapitalismus geht es nicht mehr weiter und wir beuten die Dritte Welt aus - aber all das verdrängen wir.
Die sind schon toll, diese Behinderten, so echt, so authentisch. Und auf der anderen Seite sieht man die totale Durchsetzung der Pränataldiagnostik, die Realität der Vernichtung dieser Menschen.
Milo Rau
Verurteilen Sie jene mit ausgeprägter Verdrängungsleistung? Es spielt keine Rolle, ob wir an den Klimawandel glauben oder nicht, er findet sowieso statt. Ich verurteile niemanden, der das leugnet, aber es interessiert mich nicht. Die Probleme kommen so oder so auf uns zu, da ist es nicht von Bedeutung, dass einige davor die Augen verschliessen. Die Meinung dieser Leute ist objektiv egal.
Befassen Sie sich mit dem Extremen und den Tabus genau aus dem Grund, dass Sie nicht verdrängen, sondern verarbeiten wollen? Ich kann entweder bestehende Diskurse verdoppeln und verzieren – oder sie einer neuen Dialektik, einem unerwarteten Kraftfeld aussetzen. Als Künstler und Intellektueller wäre es für mich komplett uninteressant, zum Beispiel bloss schönes Musiktheater zu machen, obwohl ich Musik liebe und Bühneneffekte geil finde - aber es reicht nicht. Die tragische Kunst muss Widersprüche zusammenführen. Man schaut die eine Seite an und denkt sich: Die sind schon toll, diese Behinderten, so echt, so authentisch. Und auf der anderen Seite sieht man die totale Durchsetzung der Pränataldiagnostik, die Realität der Vernichtung dieser Menschen. Da wundere ich mich über das menschliche Gehirn: Vor 20 Jahren war es komplett indiskutabel, nur schon über die Selektion von Behinderten zu sprechen. Heute ist sie Alltag.
Mit dem Hate Radio, dem Kindermörderstück Five Easy Pieces und auch jetzt mit «Die 120 Tage von Sodom» versuchen Sie Tabus zu brechen. Warum können Sie nicht wie die anderen Shakespeare und Brecht inszenieren? Wie gesagt, das wäre mir zu langweilig. Das klassische Theaterverständnis, in dem der Regisseur der Textverzierer ist, ist für mich eher ein Nachteil meines Jobs – ich komme ja, wenn ein Stück entwickelt ist, auch nicht drumherum, es technisch durchzustellen, zu feilen, gewisse Abläufe immer wieder zu wiederholen. Einfach einen Shakespeare oder Tschechow herzunehmen, das schneidet das Mühsame und Panische der künstlerischen Arbeit ab. Man kann ja im Stadttheater mit sehr überschaubarem geistigem Aufwand gut verdienen. Von daher kann ich es schon verstehen. Aber dann ist man halt eine Art Kunsthandwerker.
Aber kein Künstler mehr? Nein, überhaupt nicht. Eher Arrangeur. Wobei ein wahres Klassikertheater, würde man wirklich zu den Quellen zurück gehen, sehr interessant sein könnte. Ich muss aber fairerweise auch sagen, dass das Publikum der grossen Häuser das nicht will, dass es auch real nicht mehr machbar ist im aktuellen Produktionstempo. Weder das wirklich Neue noch das wirklich Alte ist machbar, sondern nur das Alte, das irgendwie neu aussieht. Denn eine echte Auseinandersetzung gibt es mit der aktuellen Klassiker-Schnellverwertung nicht, und das wird weder den Stücken noch den Schauspielern gerecht. Bei mir geht eine Stückentwicklung (die oft von Klassikern ausgeht, in der „Europa Trilogie“ waren das Shakespeare, Tschechow und Euripides) zwar immer etwas länger, es ist anstrengender und ich weiss nie, was am Schluss rauskommt - dafür komme ich aber auch meistens an Punkte, die den ganzen Aufwand dann auch wieder wert waren.
Wenn ich in meinen Stücken Fehler entdecke, wenn etwas schiefläuft, macht mich das völlig fertig.
Milo Rau
Wie gehen Sie mit Kritikern um? Fühlen Sie sich von ihnen beleidigt? Ja, natürlich. Gerade aktuell wieder: Wenn ich mir die Kommentarspalten durchlese unter den Vorbesprechungen zu «Sodom» auf watson, dann bin ich schon ein bisschen zerknirscht über die Boshaftigkeit der Menschen – aber das ist ja nichts Neues. Aber auch wenn etwas ein Erfolg ist: Man kann nie alle überzeugen, es gibt immer Kritiker, die dir eins auswischen wollen. Denn es ist sehr schwierig, etwas Konsistentes herzustellen – und sehr einfach, Inkonsistenz festzustellen.
Wieso diskutieren Sie dann mit mir oder mit dem Publikum? Es kommt immer auch auf den Moment an. Es geht zum Beispiel nicht, nahtlos an eine Vorstellung mit dem Publikum zu debattieren – dann brauche ich Ruhe, muss zuerst mit meinen inneren Fragen fertig werden. Mit Abstand rede ich aber sehr gern über meine Arbeit, zum Beispiel im Rahmen meiner Dozenturen an Unis oder Kunsthochschulen. Ein guter Teil meiner Arbeit ist traumwandlerisch, intuitiv. Auf einer anderen Ebene aber weiss ich sehr genau, warum ich etwas mache und wo die intellektuellen Ebenen in meinen Stücken sind.
Welche Kritik nehmen Sie ernst? Gespräche bringen mich oft weiter, da entwickle ich viele Gedanken. Ich komme in eine Situation, einen Erklärungsbedarf, ich sehe mich mit einer Frage konfrontiert, und indem ich sie beantworte, finde ich erst heraus, was ich eigentlich gemeint habe. Die diskursive Spannung bringt mich weiter. Darum mag ich die hermetische Kritik nicht, die nicht aus der Debatte, sondern aus Vorurteilen besteht – wie eben all die «Skandale» vor den Premieren meiner Stücke.
Wie sieht es aus mit Selbstkritik? Die ist sehr ausgeprägt, rücksichtslos – ich bin eigentlich zerfressen von Selbstkritik, ganze Nächte denke ich darüber nach, wo ich was verbessern könnte. Wenn ich in meinen Stücken Fehler entdecke, wenn etwas schiefläuft, macht mich das völlig fertig. Das Theater ist eine sehr filigrane Angelegenheit mit grossem Fehlerpotenzial, ich habe also immer etwas zu leiden. Aber: Es ist genau diese Spannung, die mich reizt.
Anderes Thema: Muss zeitgenössische Kunst politisch sein? Obwohl viele meiner Stücke nicht politisch, sondern eher poetisch oder auch sehr privat sind, sagt man mir nach, meine Kunst sei extrem politisch – und manchmal denke ich: Aha, inwiefern denn? Andererseits kann man fragen, was denn eigentlich nicht politisch ist. Wer im Iran Tschechow aufführt, macht Politik, am Schauspielhaus Zürich aber ist ein Tschechow komplett unpolitisch. So ist es auch mit den HORAs: Im Schauspielhaus hat diese Arbeit etwas Absurdes, im Kontrast auch mit dem Ensemble des Schauspielhauses, in der Roten Fabrik wäre es schlichtweg normal. Oft ist der Kontext entscheidend.
Was ist zeitgenössische Kunst? Was muss diese können? Zeitgenössische Kunst muss das gleiche können, was die antike Kunst konnte: Die Erzählperspektive auf die Augenhöhe der Globalisierung bringen, in der wir uns bewegen. Nehmen wir den Medea-Mythos der alten Griechen: Die Route, auf der Medea mit Jason flieht, ergibt zum Beispiel überhaupt keinen Sinn. Sie springt von einem Ort zum nächsten, in einem absolut wirren Zick-Zack übers Mittelmeer, von Rumänien nach Kroatien und dann wieder zurück nach Griechenland. Für die Griechen war das aber eine logische Reise, weil sie, als Mythendichter, global dachten – das ganze Mittelmeer war «Griechenland». So geht es uns heute auch: Es ist für uns nicht komisch, dass das Hähnchen aus Bangladesch kommt, irgendwoanders auf der Welt verarbeitet und dann bei uns verkauft wird. Für diese globalen Zusammenhänge müssen wir Mythen, Geschichten, eine Kunst schaffen. Die zeitgenössische Kunst muss gleichzeitig über Afrika, Europa, die Klassiker, die Weltwirtschaft und unser ganz privates Zusammenleben sprechen können.
Wenn du nicht dort warst und es selber gesehen und erlebt hast, dann hast du tatsächlich keine Ahnung.
Milo Rau
Das ist Ihre Definition und darum gelingt es Ihnen wahrscheinlich auch. Ja, das ist meine Definition: immer alles gleichzeitig, denn alles hängt mit allem zusammen. «Die 120 Tage von Sodom» dreht sich, neben Pasolini oder der Eugenik, auch um die grossen Menschheitsfragen, um die Liebe, den Missbrauch, um den Normalisierungswahn in der Schweiz und um Fragen des Schauspiels – alles zugleich.
An wen wenden Sie sich damit? Mit diesem speziellen Stück: an die Zürcherinnen und Zürcher. Aber insgesamt? Mit all unseren 50 Stücken und Filmen? Natürlich hoffe ich, dass ich mich mit meiner Kunst an alle Weltbürger wende, alle Milieus. Wir touren auf mehreren Kontinenten, jährlich in über 30 Ländern, wir spielen über 300 Abende im Jahr, vom Kongo bis in die USA. So merke ich rasch, welche Stücke international funktionieren und welche nicht. Kunst ist ja immer auch ein Vorgang der Universalisierung. Darum funktionierte zum Beispiel «Hate Radio» nicht nur in Ruanda oder Belgien, sondern auch in Japan und Korea: Egal wo, die Menschen erkennen universelle Vorgänge wie Mitleid oder die Katharsis und können menschliche Schicksale oder auch Genozide auf ihre eigene Identität und Geschichte adaptieren.
Trotzdem: Der Bauernlehrling aus dem Zürcher Oberland kommt Ihr neues Stück nicht schauen. Das stimmt: Nur schon im Vergleich zwischen Pfauen und Schiffbau gibt es einen riesigen Unterschied im Publikum. Es ist wie bei den Bars: Der eine geht nur in diese, die andere nur in jene. Und der Lehrling aus dem Zürcher Oberland geht halt nicht in die gleiche Bar wie ich. Darum kenne ich seinen Diskurs nicht, und wenn er dann plötzlich Trump wählt, dann wundere ich mich. Jede Gesellschft ist kompliziert, besteht aus Hunderten von Parallelwelten.
Und was hat Sie in die Ihrige Parallelwelt gebracht? Das ist eine Reihe von Sachen auf verschiedenen Ebenen: Ich denke, meine Reisen, meine Lektüren, meine künstlerische Arbeit, bestimmte Begegnungen und natürlich meine Vaterschaft haben mich am meisten geprägt. Grundsätzlich also mehr oder weniger empirische Erkenntnisse.
Wie meinen Sie das? Beispiel: Die Weltbankzahlen stimmen einfach nicht. Das siehst du sofort, wenn du in den entsprechenden Ländern unterwegs bist. Es kann schon sein, dass das Bruttosozialprodukt vom Kongo steigt, aber es profitieren halt nur zehn Familien davon, während der Rest immer ärmer wird. Meistens reicht eine Reise, um einen solchen – eigentlich sehr komplexen – Zusammenhang empirisch zu durchschauen. Das ist das Interessante an der medialisierten Welt: Wenn du nicht dort warst und es selber gesehen und erlebt hast, dann hast du tatsächlich keine Ahnung.
Sie sind 39 Jahre alt, Jean Ziegler schon über 80. Um sein Nachfolger zu werden, müssen Sie noch für die SP politisieren. Wir sind befreundet, wir kämpfen für die gleichen Dinge – aber wieso sollte ich sein Nachfolger werden? Was die instituionalisierte Politik angeht: Mit einigen meiner Projekte war ich politisch aktiv, etwa mit dem «Kongo Tribunal“, dem ersten Weltwirtschaftstribunal in Afrika überhaupt. Aber grundsätzlich politisiere ich am liebsten im symbolischen Raum.
Bleiben Sie in diesem ausserinstitutionellen Rahmen? Nächsten Herbst wird sich das ändern. Mehr will ich dazu noch nicht sagen.
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An der Universität Zürich hat Simon Politikwissenschaften und Publizistik studiert. Nach einem Praktikum bei Watson machte er sich selbstständig und hat zusammen mit einer Gruppe von motivierten Journalist:innen 2015 Tsüri.ch gegründet und vorangetrieben. Seit 2023 teilt er die Geschäftsleitung mit Elio und Lara. Sein Engagement für die Branche geht über die Stadtgrenze hinaus: Er ist Gründungsmitglied und Co-Präsident des Verbands Medien mit Zukunft und macht sich dort für die Zukunft dieser Branche stark. Zudem ist er Vize-Präsident des Gönnervereins für den Presserat und Jury-Mitglied des Zürcher Journalistenpreises. 2024 wurde er zum Lokaljournalist des Jahres gewählt.