Showverantwortlicher: «Der ESC ist die Champions League und keine Lehrwerkstatt»

Der Wahlzürcher Yves Schifferle verantwortet die Entwicklung und Umsetzung des diesjährigen Eurovision Song Contest in Basel. Im Interview erklärt er, warum Basel Zürich ausstach und dass hinter der bunten Fassade des ESC eine tiefere Botschaft steckt.

Eröffnungszeremonie ESC Basel 2025
Bei der Eröffnungsfeier am vergangenen Sonntag präsentierten sich die 37 teilnehmenden Delegationen einzeln auf dem türkisfarbenen Teppich vor dem Basler Rathaus. (Bild: David Rutschmann/Bajour)

Yves Schifferle plant, entscheidet, verhandelt, koordiniert – und setzt in einem Jahr um, was normalerweise dreimal so lange braucht.

Als Head of Show beim Schweizer Radio und Fernsehen verantwortet er die Konzeption und Umsetzung aller Shows des Eurovision Song Contests (ESC) in Basel. Schifferle kennt den Wettbewerb aus vielen Blickwinkeln: als Fan, als langjähriger Delegationsleiter und seit 2021 als kreativer Kopf hinter den Kulissen.

Kaum hatte Nemo im vergangenen Jahr den ESC-Sieg in die Schweiz geholt, begann für Schifferle und sein Team die Arbeit: Drei Live-Shows, ein Konzept, das Europa mitreisst, und ein Motto, das den Geist des Wettbewerbs verkörpern soll: «Welcome Home».

Damit verweist der diesjährige ESC auf seine Geschichte – eine Schweizer Erfindung, die 1956 in Lugano begann. Mit dem Ziel, die europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg durch Musik und Fernsehen wieder näher zusammenzubringen und den Zusammenhalt zu stärken. Damals gewann die Schlagersängerin Lys Assia. Im Jahr 1988 belegte Céline Dion den ersten Platz, letztes Jahr war es Nemo.

«Für mich ist alles, was nichts mit Musik zu tun hat, ein Missbrauch der Plattform. Der ESC trägt die starke Botschaft schon in sich – er braucht keine politische Symbolik.»

Yves Schifferle, ESC-Showverantwortlicher

Obschon der ESC Neutralität anstrebt, prägen politische Spannungen den Wettbewerb. Die Eröffnungszeremonie in Basel am Sonntag wurde von Protesten mit Palästinaflaggen, Zwischenrufen und Polizeieinsätzen begleitet.

Über 70 ehemalige Teilnehmer:innen, darunter auch Nemo, forderten vergangene Woche öffentlich den Ausschluss Israels und werfen dem Land vor, die Werte des ESC zu verletzen. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) bleibt jedoch bei ihrer Entscheidung: Israel darf teilnehmen.

Im Interview erklärt der Showverantwortliche Yves Schifferle: «Für mich ist alles, was nichts mit Musik zu tun hat, ein Missbrauch der Plattform.» Der ESC, sagt er, transportiere seine Botschaft selbst – politische Symbolik brauche es nicht.

Jenny Bargetzi: Sind Sie als Wahlzürcher traurig, dass der ESC in Basel stattfindet?

Yves Schifferle: Ich lebe seit knapp 30 Jahren in Zürich und fühle mich der Stadt sehr verbunden. Aber Basel hat mich mit Herz und Seele überzeugt – das meine ich ganz ehrlich. Es geht nicht nur um harte Faktoren wie Budget oder Tourismus, die eine Gastgeber-Stadt mitbringen muss. Was oft übersehen wird, ist der qualitative Aspekt: die Leidenschaft, die Energie, das Engagement vor Ort.

Was reizt Sie am ESC?

Der ESC gibt mir ein Gefühl von Zugehörigkeit, Freundschaft, Leidenschaft. Die Show vereint Menschen, Kulturen und Identitäten. Hinter der lauten, bunten Fassade steht eine tiefere Botschaft: Europa kommt auf dieser Bühne friedlich zusammen, durch die Musik, die verbindet. Egal, was in der Welt passiert. Das ist eine kraftvolle Geste. Und dass ich heute als Head of Show Teil davon sein darf, ist für mich ein Geschenk.

Ist das gerade jetzt in Krisenzeiten wichtiger denn je?

Absolut. Gerade in einer Zeit, in der vieles polarisiert, braucht es eine Bühne, auf der es um Kunst geht, nicht um Politik. Einen Ort, wo Menschen zusammenkommen, um das zu teilen, was verbindet: Musik. Das macht Hoffnung.

Der ESC versteht sich als unpolitische Veranstaltung, die Realität sieht oft anders aus. Nemo sagte kürzlich in einem Interview: «Ich glaube, dass man – gerade in der Zeit, in der wir leben – gar nicht unpolitisch sein kann.» Warum sind also Flaggen verboten und Buh-Rufe werden herausgefiltert? Ist das nicht Teil der Show?

Für mich ist alles, was nichts mit Musik zu tun hat, ein Missbrauch der Plattform. Der ESC trägt die starke Botschaft schon in sich – er braucht keine politische Symbolik. Wenn wir anfangen, ihn für politische Zwecke zu instrumentalisieren, verlieren wir das, was ihn einzigartig macht.

«Wir wussten aufgrund der Wettquoten im letzten Jahr, dass wir eine gute Chance hatten. Also haben wir vier Wochen vor dem ESC eine Taskforce gebildet.»

Yves Schifferle, ESC-Showverantwortlicher

Wie ist die Stimmung unter den Fans in diesem Jahr?

Ich erlebe sie als deutlich respektvoller und entspannter als im letzten Jahr. Damals war die Atmosphäre teils aggressiv, es wurde viel politisiert. Das hat der Marke und dem Erlebnis ESC geschadet. Dieses Jahr geht es wieder mehr um Musik, um Freude.

Sie meinen damit die Teilnahme Israels oder den Fall um den niederländischen Künstler Joost Klein?

Ja, beides hat die Diskussion stark beeinflusst. Ich glaube, wir alle – Medien, Fans, Künstler:innen – haben daraus gelernt. Jetzt spüre ich wieder mehr Fokus auf das Wesentliche: die Musik, die Kreativität, das Miteinander.

Nach dem ESC im letzten Jahr ist vor dem ESC in diesem Jahr. Wie viel Prozent Ihrer Arbeit sehen wir als Zuschauer:innen im Fernsehen und wie viel bleibt im Hintergrund?

Hoffentlich 100 Prozent von dem, woran wir das ganze Jahr gearbeitet haben. Unser Ziel ist immer: every penny on the screen. Die Vorbereitungen begannen schon vor unserem Sieg – wir haben geahnt, dass es klappen könnte.

Wie meinen Sie das?

Wir wussten aufgrund der Wettquoten, dass wir eine gute Chance hatten. Also haben wir vier Wochen vor dem ESC eine Taskforce gebildet. Denn: Einen ESC zu organisieren, bedeutet, drei Jahre Arbeit in zwölf Monaten zu packen.

Wie fängt man da überhaupt an?

Mit den Basics: Rechtliches, Finanzen, Personal – alles, was man später nicht im TV sieht, aber unabdingbar ist. Im September starteten wir mit dem Konzeptpapier: Wofür soll unser ESC stehen? Welche Werte, welche Tonalität? Alles baut darauf auf.

Nemo attends the press conference after Switzerland wins the 68th Eurovision Song Contest with The Code.
Nemo bei der Pressekonferenz nach dem Sieg im letzten Jahr. Yves Schifferle sitzt rechts im Bild. Das diesjährige Finale findet am 17. Mai in der St. Jakobshalle statt. (Bild: Sarah Louise Bennett)

Dazu gehört auch das Konzept für das Bühnenbild. Dieses wurde von dem deutschen Bühnendesigner Florian Wieder entworfen. Warum wurden keine lokalen Talente unterstützt?

Es war uns von Anfang an wichtig, so viel lokales Know-how wie möglich ins Projekt einzubinden. Gleichzeitig braucht eine Produktion wie der ESC extrem viel Erfahrung, vor allem im Bereich Grossshow-Design, wo es in der Schweiz bislang nur wenige Referenzen gibt. Florian Wieder hat bereits acht ESC gestaltet und bringt damit ein enormes technisches und gestalterisches Verständnis mit, das für diese Bühne entscheidend ist.

Was wäre das zum Beispiel?

Es kommt darauf an, wie man mit den Bedingungen in einer Halle umgeht. Wo kommt man rein, wo kommt man raus, wie gross ist die Tür, wie lange dauert es, eine Bühnenwand zu drehen, wie ist die Wärmezirkulation, wie kann man Strom verlegen – man braucht so viel technisches Know-how für die Show, damit man ein Set bauen kann, das funktioniert und nicht nur toll aussieht.

Und dieses Know-how kann man nicht schnell und einfach aufbauen. Entweder man hat schon mal eine komplexe Showbühne gebaut und musste sich mit all diesen Fragen auseinandersetzen, oder man schafft es nicht in so kurzer Zeit.

Der ESC ist die Champions League und keine Lehrwerkstatt. Nicht jeder Spieler schafft es in die Champions League. Das hat mit Erfahrung und Talent zu tun. Es braucht absolute Profis, um eine Show zu produzieren, nicht nur für die Zuschauer:innen in der Schweiz, sondern auch für das internationale Publikum.

Wie sind Sie beim Auswahlverfahren des Set-Designers vorgegangen?

Alle Aufträge wurden ausgeschrieben, auch das Set-Design. Dafür haben sechs Firmen aus dem In- und Ausland gepitcht. Am Ende hat sich ein Gremium nach einem klar strukturierten Verfahren für Florian Wieder entschieden. Es gab in diesem gesamten Projekt also keine Direktvergaben.

Nach dem historischen Sieg von Nemo 2024 sind die Erwartungen riesig – ganz Europa blickt auf Basel. Da ist der Druck natürlich gross. Wie kommen Sie und Ihr Team damit zurecht?

Ich bin überraschend ruhig. Ich dachte, ich würde panisch, aber das Gegenteil ist der Fall. Unser Team funktioniert hervorragend. Wir arbeiten kollaborativ, mit Respekt und Vertrauen. Wir haben uns am Anfang des Projektes vorgenommen, mutige Entscheidungen zu treffen. Diesem Motto sind wir treu geblieben – das macht stark.

In diesem Jahr singen 19 von 37 Teilnehmer:innen ganz oder teilweise in ihrer Landessprache – so viele wie noch nie seit 2008. Warum ist das so?

Das ist eine schöne Entwicklung, die sich langsam eingeschlichen hat. Sie macht die Beiträge authentischer. Selbst die Schwed:innen singen erstmals seit 27 Jahren ein Lied in ihrer Landessprache. Und ich glaube, sie werden damit Erfolg haben.

Haben Sie einen Favoriten; die Schwed:innen?

Ihr Auftritt ist sensationell, aber ich verrate natürlich nicht, wer mein:e Favorit:in ist. Dieses Jahr ist alles offen. Die Wetten sagen das eine, aber Überraschungen gab es immer.

Was für Überraschungen?

Schon zwei Jahre in Folge haben die Party-Favoriten «Cha Cha Cha» aus Finnland und «Rim Tim Tagi Dim» aus Kroatien den Sieg verpasst, obwohl sie grosse Fan-Favoriten waren. Die Frage ist nun, ob sich die humoristische Nummer in diesem Jahr durchsetzen kann oder ob sich wieder ein künstlerisches Lied durchsetzen wird. Daraus kann man vielleicht ein bisschen ablesen, wie es der Gesellschaft geht und was sie braucht.

Worauf freuen Sie sich am meisten in den kommenden Tagen?

Darauf, den Moment zu geniessen. Das war nicht immer leicht. Zwischen Dezember und März war es besonders anspruchsvoll in meiner Rolle. Alles musste gleichzeitig passieren. Jetzt geht es ums Feintuning, Medienarbeit, letzte Details. Und um die Freude an der Show.

Die letzte Frage, die wohl viele interessieren dürfte: Kommt Céline Dion?

Wir setzen alles daran, aber wir werden wahrscheinlich erst am Samstagabend wissen, ob es klappt.

Der Text erschien am 14. Mai im Tsüritipp mit weiteren News und Veranstaltungen zur Kultur in Zürich.

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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in Politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.

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