Martin Viehweger: «Um in Flirtlaune zu kommen, nehmen fast alle Drogen»

Als Arzt und Aktivist für sexuelle Gesundheit pendelt Martin Viehweger zwischen Zürich und Berlin. Neu hosted er die Veranstaltungsreihe «Let’s talk about Sex and Drugs» in Zürich. Ein Gespräch über Sex und Drogen – und wie sich die beiden Tabus verbinden lassen.

Martin Viehweger klärt als Aktivist für sexuelle Gesundheit und Arzt für Infektiologie über Drogen und Sex auf. (Bild: Lara Blatter)

Lara Blatter: Als Arzt und Aktivist für sexuelle Gesundheit pendelst du zwischen Zürich und Berlin. Sind wir Zürcher:innen verklemmter, wenn es darum geht, über Sex und Drogen zu sprechen?

Martin Viehweger: Vielleicht. Es kommt darauf an, um welche Substanz es sich handelt. Über Cannabis kann man in der Schweiz beispielsweise aufgrund der progressiven Drogenpolitik viel offener sprechen als in Deutschland. Wenn es um Substanzen wie Opium oder Ketamin geht, sind Menschen hingegen eher restriktiv. Allgemein sprechen Menschen über intime und schambehaftete Themen wie Substanzen, Sex, Kinks und Perversion offener in grossen und globalisierten Städten wie Berlin. Da prallen Welten aufeinander, neue Umgänge mit sensiblen Themen etablieren sich und eine bislang verklemmte Gesprächskultur entwickelt sich weiter.

Welchen Stellenwert hat der Rausch in unserer Gesellschaft?

Die Bedeutung von Rausch ist riesig und wird unterschätzt. Beim Schokolade essen, dem Griff in die Chipstüte oder allein bei Nutzung von sozialen Medien – das schüttet alles Dopamin und Serotonin aus und kann abhängig machen.

Als Arzt betreibst du in Berlin eine queere Praxis und in Zürich hast du den Trans-Medizin-Bereich im queeren Gesundheitszentrum Checkpoint Zürich mitaufgebaut. Als Aktivist* für sexuelle Gesundheit klärst über Drogen, sexuell übertragbare Krankheiten und Sex auf. Was hat dich als Mediziner* zum Aktivisten* gemacht?

Unser heutiges Gesundheitswesen ist null auf queere Personen ausgerichtet, dieser Fakt hat mich als Arzt politisiert. Ein Beispiel: In meiner Praxis begleiten wir etwa 570 Menschen bei ihrer hormonellen Transition. Das macht ein Drittel unserer Patient:innen aus. Als Transition wird der Prozess bezeichnet, in dem eine trans Person soziale und/oder körperliche Änderungen vornimmt, um das eigene Geschlecht auszudrücken. Die Diagnose «trans» sollen in diesem Prozess wir Ärzt:innen stellen, aber wie sollen wir diese Diagnose stellen? Trans-Sein wird gar nicht unterrichtet an Universitäten. Zudem konnte ich die Doppelmoral in der Medizin nur schwer aushalten.

Hast du ein Beispiel dafür?

Oft werden sehr starke Medikamente verschrieben, weil die Menschen bequeme und einfache Lösungen haben wollen. Ärzt:innen müssten aber viel mehr aufklären und Alternativen anbieten, statt einfach Rezepte herauszugeben. Das ist aber zeitintensiv und sie verdienen in der Schweiz an der Verschreibung von Medikamenten Geld und in Deutschland werden Gesprächszeiten nicht honoriert.

Als politischer Arzt willst du nun zusammen mit dem Drogeninformationszentrum (DIZ) die Veranstaltungsreihe «Let’s talk about Sex and Drugs» erneut in Zürich etablieren. Um was geht es da?

Menschen sollen offen über Drogen und Sex reden können. Sei es an Partys, Zuhause, im Alltag – es werden unterschiedliche Substanzen konsumiert, dazu gibt es unterschiedliche Haltungen und Erfahrungen. Das soll man verbalisieren können, ohne verurteilt zu werden. Denn überall da, wo weniger Scham und Angst herrscht, hat es Platz für Information und so können wir langfristig auch die individuellen und gesellschaftlichen Schäden des Konsums reduzieren.

Also eine Talkreihe über die beiden Tabus Sex und Drogen.

Genau. Hinzu kommt, dass wir vor allem auch die queere Szene, also eine stark stigmatisierte Community, ansprechen wollen. Denn da gibt es beispielsweise das grosse Tabu Chemsex.

Was ist Chemsex?

Es umfasst ein soziokulturelles Phänomen. Mehrheitlich unter Männern*, die beim Sex mit anderen Männern* Substanzen konsumieren. Der Begriff wird seit circa 2009 vermehrt im deutschsprachigen Raum gebraucht und hängt auch mit dem Aufkommen von Datingapps zusammen. Man organisiert sich meist online auf sexpositiven Datingplattformen wie Grindr oder Feeld und trifft sich dann in privaten Räumen. Der Ursprung kommt aus der MSM*-Szene, also Männer*, die Sex mit Männern* haben.

«Man konsumiert Substanzen, wird horny, geht an private Treffen und hat Sex. »

Martin Viehweger über das Phänomen Chemsex

Weshalb hat das Phänomen seinen Ursprung bei Männern?

Es geht um den Abbau von Hemmungen, um Leistungsdruck und um eine Steigerung des eigenen Sexualempfindens. Chemsex ist auch Resultat eines veränderten Umgangs mit Technologie. Dank Apps und Foren sind Sex und auch Substanzen erleichtert verfügbar. Aber Chemsex-Praktiken sind nicht allein auf Geschlecht oder Identität zurückzuführen, sondern finden unabhängig davon statt. Auch cis Frauen, trans oder non-binäre Menschen betreiben sexualisierten Substanzkonsum, darunter organisierte, sexuelle Kulturen ähnlich wie bei Chemsex.

Von was für Substanzen sprechen wir?

GHB, GBL, Mephedron, Methamphetamin, Ketamin, Poppers, teils auch Kokain. Diese Substanzen sind besonders gut, um Hemmungen abzubauen und die Lust zu steigern. Die sexuelle Kultur beim Chemsex verlangt dies. Man konsumiert Substanzen, wird horny, geht an private Treffen, Chills und hat Sex. Dadurch werden sehr schnell sogenannte Pseudointimitäten hergestellt, heisst; nüchtern verspürt man nicht per se die gleiche Anziehungskraft zu den Personen. Das ist an sich nicht problematisch, aber es kommt zu besonders vulnerablen Situationen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir darüber sprechen.

Mit welchen Vorurteilen ist das Thema Sex und Drogen behaftet?

Dass Menschen, die Substanzen konsumieren und an Sexpartys gehen, selbst schuld daran seien, wenn sie Probleme bekommen – weil sie Drogen nehmen. Ganz schwierig wird es, wenn sie sexuelle Übergriffe erleben und es dann heisst, man habe das halt provoziert, weil man high war. Oder auch, wer sich Substanzen spritzt, sei gestört.

Der Konsum von Drogen kann aber sehr problematisch sein.

Ich will, dass die Leute wertfrei aufeinander zugehen und akzeptieren, dass es verschiedene Arten gibt, zu konsumieren. Illegale Substanzen sind nicht böser als Alkohol oder Nikotin. Aber der Gebrauch kann schneller als gedacht zum Missbrauch werden. Darum sind Informationen und Drug-Checkings so wichtig. Es gibt drei Dinge rund um den eigenen Konsum, die es zu berücksichtigen gilt, bei der Einschätzung, ob ein Gebrauch oder Missbrauch vorliegt: Erstens sollte man sich immer bewusst sein, wo man selbst steht. Mit was für einer Haltung punkto Substanzen wurde man erzogen? Zweitens, wie ist das gesellschaftliche Gefüge, kann ich an Informationen rankommen, mich mit meinem Umfeld austauschen? Und drittens, wie dynamisch sind meine Prozesse: Gebrauche ich häufiger? Hat sich meine Konsumform verändert? Falle ich häufiger aus?

«Let's talk about Sex and Drugs» ist ein offenes Mikrofon für sensible Themen wie Sex, Scham, Substanzen – nächster Termin: 23. Oktober im Gleis. (Bild: Lara Blatter)

Ist man angeheitert, kann sich die eigene Wahrnehmung verändern, Menschen bereuen Dinge, die sie getan haben. Der Klassiker: «Ich habe mit XY rumgeknutscht, ich war halt betrunken.» Ist Konsens gerade beim Chemsex noch viel wichtiger?

Ja. Ein sehr schwieriges Thema. Gehst du an eine private Sexparty, dann kommen und gehen die Menschen. Unter Einfluss von Substanzen verlierst du das Gefühl für Zeit und Raum, was du ja auch willst, aber du verlierst auch leicht den Überblick über deine Sexualpartner:innen. Vielleicht kannst du dich gar nicht mehr artikulieren, weil du high bist. Ist das noch Konsens, wenn du zu Praktiken unter Substanzeinfluss einwilligst? Eine grosse Frage. Am Tag danach kommen dann vielleicht negative Gefühle, man nimmt die Schuld alleine auf sich und schämt sich. Genau auch über solche Gefühle wollen wir sprechen bei «Let’s Talk about Sex and Drugs».

Was empfiehlst du Anfänger:innen, die neue Substanzen ausprobieren wollen?

Intimität, Rausch und Ekstase können sehr schön zusammen spielen. Aber man sollte klare Vorstellungen darüber haben, was man sich erhofft. Frage dich selbst, was du dir von deiner eigenen Sexualität wünschst und frag dich, wie dir da eine Substanz helfen kann. Vor allem nach dem Konsum sollte man die Erfahrungen und den Rausch in die Realität holen: Haben sich meine Wünsche und Vorstellungen erfüllt? Was habe ich erfahren und hat sich das gelohnt? Wie kann ich das nachhaltiger wiederholen? Set und Setting sind wichtig, also die eigene mentale Verfassung und die Umgebung. Und wenn man neue Substanzen ausprobieren will, keinen Mischkonsum! Zu Mischkonsum zählen übrigens auch Alkohol und Nikotin. Und manchmal will man ja einfach abschalten und es kräftig scheppern lassen – auch ok. Dann spielt es meistens keine Rolle, was man nimmt, dann kann es auch Alkohol sein.

«Es gibt zig Gründe, Sex und Drogen zu verbinden.»

Martin Viehweger

Woher kommt der Drang, es scheppern zu lassen?

Viele arbeiten von Montag bis Freitag, dann naht das Wochenende und wir müssen locker sein oder wollen gar feiern. Aber nicht zu sehr, man muss ja am Montag wieder arbeiten können. Gleichzeitig wollen wir vielleicht Intimität mit anderen Personen, das geschieht auch nicht einfach auf Knopfdruck. Dieser Leistungsdruck ist enorm, Substanzen können da helfen.

Konsumiert man regelmässig Substanzen, um Intimität zuzulassen, ist es nicht auch gefährlich, dass man dann nur noch high Sex haben kann?

Ja, das kann durchaus gefährlich werden. Wir sprechen dann von einem problematischen Chemsex-Gebrauch. Regelmässiger Subtanzgebrauch kann psychisch abhängig machen. Wichtig dabei ist, dass oft keine körperliche Abhängigkeit besteht, sondern das Sexualleben wird abhängig vom Gebrauch. Ohne Substanz komme ich gut klar, ich brauche sie nicht für den Alltag, aber meine Sexualität kann ich unter Umständen nicht mehr ohne Substanz ausleben. Alles, was dann sexuell co-notiert ist, kann mich zum Gebrauch triggern.

Auf der Rückseite des Flyers hat es ein Kreuzworträtsel. Die letzte Frage: Ein Grund für Sex und Drugs? Ein Wort mit fünf Buchstaben ist gesucht.

«Spass» oder «Alles»? Es gibt zig Gründe, Sex und Drogen zu verbinden. Die Entdeckung der eigenen Sexualität, Flucht aus dem Alltag, sich neu entdecken, neue Beziehungen eingehen, Intimität zulassen, Scham abzubauen, Identifikationsbedürfnis zu einer Gruppe. Um in Flirtlaune zu kommen, nehmen fast alle Drogen – dazu zählt nämlich auch das Bier oder die Zigarette auf dem Date.

Wäre es nicht erstrebenswert, wenn man all diese Dinge auch ohne Substanzen ausleben könnte – also nüchtern?

Wir können uns auch ohne Drogen neu entdecken, aber es ist nicht so bequem. Wir leben in einer kapitalistischen und durchorganisierten Welt, die auf bequeme und schnelle Lösungen setzt, da helfen Substanzen. Schlussendlich ist es wie mit den Medikamenten, es ist eine schnelle und unkomplizierte Lösung. Das heisst nicht, dass Drogen nur schlecht sind, sie öffnen auch neue Türen, verschieben Grenzen und erweitern unser Bewusstsein. Aber man muss reflektieren, diese Verantwortung haben wir gegenüber unserem Körper und Geist.

Let's talk about Sex and Drugs

An den Gesprächsabenden sollen Interessierte die Möglichkeit haben, offen über Themen wie sexuelle Gesundheit, Praktiken, Chemsex, HIV, Sex und Drogen im Allgemeinen zu sprechen. Teilnehmer:innen sollen sich zusammen mit medizinischen Expert:innen, Aktivist:innen und Performance-Künstler:innen offen über kritische Themen, die für einige Leute tabuisiert oder unangenehm sind, austauschen können.

Organisiert wird die Veranstaltungsreihe vom Drogeninformationszentrum (DIZ) in Zusammenarbeit mit Dr. Martin Viehweger.

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