Mandy Abou Shoak: «Männer empfinden den Machtverlust als Bedrohung»
Seit Anfang Jahr sind in der Schweiz elf Frauen ermordet worden – zwei davon im Kanton Zürich. Dabei wäre dieser im Rahmen der Istanbul-Konvention verpflichtet, Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Wo es noch hapert, erklärt die Menschenrechtsexpertin Mandy Abou Shoak im Interview.
Die Zahl der Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt nimmt zu – trotz bestehender Massnahmen. Allein in den ersten dreizehn Wochen dieses Jahres wurden elf Frauen ermordet, zwei davon im Kanton Zürich. Damit stieg die Häufigkeit der Femizide von einem alle zwei Wochen auf einen pro Woche. In allen Fällen war der Täter eine enge, männliche Bezugsperson wie der Lebensgefährte, Ex-Partner oder Bruder.
Um diese Zahl zu minimieren, hat der Bundesrat 2018 die Istanbul-Konvention unterschrieben und sich damit verpflichtet, häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen. Ein nationaler Aktionsplan, der 2022 veröffentlicht wurde, soll konkrete Massnahmen liefern.
Der Schwerpunkt des Aktionsplans liegt vor allem auf der Information und Sensibilisierung der Bevölkerung, der Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen und Freiwilligen, und der Prävention und Bekämpfung von sexualisierter Gewalt.
Ein Grossteil der Umsetzung ist Sache der Kantone. Mandy Abou Shoak ist Menschenrechtsaktivistin und Sozialarbeiterin der Non-Profit-Organisation Brava. Sie kritisiert, dass drei Jahre nach der Lancierung des Aktionsplans zu wenig passiert sei.
Sophie Wagner: Brava fordert in einer aktuellen Petition 350 Millionen Franken für die Sicherheit von Frauen. Wofür wird das Geld benötigt?
Mandy Abou Shoak: Im Vergleich zu den vier Milliarden Franken, die das Schweizer Militär bis 2029 erhält, sind 350 Millionen eine verhältnismässig kleine Summe. Wir fordern, dass für jeden Franken, der ins Militär fliesst, 5 Rappen in die Massnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt investiert werden. Für eine Verbesserung des Gewaltschutzes, für eine konsequente Strafverfolgung und Präventionsarbeit.
In der Schweiz trat die Istanbul-Konvention 2018 in Kraft, 2022 wurden im Rahmen des Nationalen Aktionsplans von Bund, Kantonen und Gemeinden konkrete Massnahmen festgelegt. Nun haben Sie von Brava eine Petition lanciert. Ist das überhaupt noch nötig?
Solange die Kantonspolizei Zürich täglich 21-mal wegen häuslicher Gewalt ausrückt, steht die Notwendigkeit ausser Frage. Es gibt viermal weniger Schutzunterkünfte, als gebraucht werden. In einem Land, wie der Schweiz darf das einfach nicht sein. Das ist beschämend.
Als Teil der Istanbul-Konvention soll ebenfalls eine landesweite dreistellige Notrufnummer eingeführt werden. Am 1. November dieses Jahres verfügbar sein. Warum dauert der Prozess so lange?
Die Einführung einer solchen Infrastruktur ist komplex: Es braucht eine technische Notrufzentrale, geschultes Personal, Übersetzungsdienste sowie eine gesicherte Finanzierung. Bislang gibt es in Zürich beispielsweise ein ehrenamtlich geführtes Nottelefon, das Telefon gegen Gewalt, welches Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen in Not von Freitagabend bis Montagmorgen Unterstützung bietet.
Die geplante Notrufnummer wird ab November rund um die Uhr von Mitarbeitenden der Opferhilfestelle des Kantons Zürich betrieben – ein längst überfälliger Schritt.
«Dies führt dazu, dass viele Männer sich berechtigt fühlen, Frauen und ihre Körper zu kontrollieren.»
Mandy Abou Shoak, SP-Kantonsrätin und Bildungsverantwortliche der NGO «Brava»
Wie steht der Kanton Zürich aktuell im Vergleich zu den anderen Kantonen in der Umsetzung da?
Zürich gilt in vielen Bereichen als Vorbild für andere Kantone. Der Kanton hat unterschiedliche Massnahmen ergriffen; vor allem jene in der Täter:innenarbeit ist wichtig. So hat die SP-Justizdirektorin Jacqueline Fehr Lernprogramme für Täter:innen von sexualisierter und häuslicher Gewalt eingeführt, die eine beeindruckende Wirkung haben: Das Rückfallrisiko sinkt um bis zu 80 Prozent.
Wie funktionieren diese Lernprogramme?
Eine verurteilte Person wird von der Staatsanwaltschaft einem spezifischen Programm zugewiesen. Dabei sind diese auf unterschiedliche Delikte zugeschnitten, darunter häusliche Gewalt, Sexualdelikte, alkohol- oder drogenbedingte Straftaten und andere.
Es handelt sich dabei um alltagsnahe Verhaltenstrainings. Durch Wissensvermittlung, Diskussionen und Übungen lernen Teilnehmende, ihr Verhalten besser zu verstehen. Ziel ist es, Kompetenzen wie Selbstkontrolle und Stressbewältigung zu trainieren.
Vergangenes Wochenende wurden in Emmenbrücke in Luzern eine Frau und ein Kind zum Opfer eines tödlichen Gewaltdelikts – der elfte Femizid diesem Jahr. Warum nehmen die Femizide trotz Präventions- und Schutzmassnahmen weiter zu?
Geschlechterungerechtigkeit und Gewalt gegen Frauen sind tief in unserer Gesellschaft verankert. Das führt dazu, dass männliche Dominanz und Besitzansprüche nicht nur toleriert, sondern vermehrt begünstigt und belohnt werden, wie wir es im Falle Donald Trump, Elon Musk oder Andrew Tate sehen. Dies führt dazu, dass viele Männer sich berechtigt fühlen, Frauen und ihre Körper zu kontrollieren.
Gleichzeitig beobachten wir, dass Frauen zunehmend emanzipierter sind und es ihnen leichter fällt, sich aus Beziehungen zu lösen. Dies, obwohl Frauen in Trennungssituationen besonders gefährdet sind. Viele Männer empfinden den Machtverlust, den sie durch Fortschritte in der Gleichstellung erfahren, als Bedrohung.
Es gibt eine hohe Dunkelziffer an Gewaltdelikten gegen Frauen. Warum werden so viele Taten nicht angezeigt?
Die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ist aktuell noch gering. Eine unserer Broschüren zeigen, dass nur vier von 100 Frauen ihre Vergewaltiger verurteilt sehen. Das hat damit zu tun, dass man Opfern sexualisierter Gewalt erst dann zu einer Anzeige rät, wenn die Beweislast gross genug ist, also wenn zum Beispiel direkt nach der Gewalterfahrung eine Spurensicherung vorgenommen wurde. Deshalb verzichten viele Betroffene darauf, Anzeige zu erstatten.
Und was ist mit Betroffenen, die sich für eine Anzeige entscheiden?
Wenn sie sich doch dafür entscheiden, ist das Verfahren sehr belastend. Derzeit müssen Opfer ihre Geschichte mehrfach erzählen – zuerst bei der Polizei, dann bei der Staatsanwaltschaft und schliesslich vor Gericht. Das kann retraumatisierend sein.
Anzeigen sind also wichtig, um die Dunkelziffer zu minimieren, aber ebenso heikel, da wir noch kein System haben, das für die Betroffenen weniger belastend ist.
Wie könnte das Verfahren für Betroffene erleichtert werden?
Eine Lösung, die derzeit diskutiert wird, sind Videoaufzeichnungen von der Tatschilderung. Dies würde verhindern, dass Betroffene ihr Erlebnis erneut erzählen müssen. Weiter wurden sowohl auf nationaler als auch auf kantonaler Ebene Vorstösse zur Einrichtung von Krisenzentren überwiesen.
Opfer sollen in den sogenannten Krisenzentren umfassende medizinische und psychologische Erstbetreuung erhalten. Leider zeigt die Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli bis anhin kein Interesse daran, diesen Auftrag vom Parlament umzusetzen.
«Viele Männer empfinden den Machtverlust, den sie durch Fortschritte in der Gleichstellung erfahren, als Bedrohung.»
Mandy Abou Shoak, SP-Kantonsrätin und Bildungsverantwortliche der NGO «Brava»
Früher führte eine forensische Spurensicherung, beispielsweise nach einer Vergewaltigung, automatisch zu einer Anzeige. Seit der Teilrevision vom Opferschutzgesetz kann eine Untersuchung unabhängig von einer Anzeige unternommen werden. Warum wurde diese Änderung vorgenommen?
Diese Regelung war problematisch, da viele Betroffene aus Angst und Scham keine Anzeige erstatten wollten. Das hatte zur Folge, dass viele Opfer gar nicht erst ins Spital gingen und somit wichtige Beweise für eine Anklageerhebung verloren gingen.
Nun ist es möglich, eine Spurensicherung durch eine sogenannte «Forensic Nurse» durchführen zu lassen. Die Beweise werden aufbewahrt, sodass eine Anzeige auch zu einem späteren Zeitpunkt noch gemacht werden kann.
Dies erleichtert es Opfern, sich Zeit für eine Entscheidung zu nehmen und erhöht die Chance, dass Täter auch später zur Verantwortung gezogen werden können
Wer sind diese «Forensic Nurses»?
«Forensic Nurses» ist ein Pilotprojekt, welches noch bis Ende 2026 getestet wird. Es handelt sich um Pflegefachpersonen, die auf die medizinische Versorgung von Opfern von Gewalt ausgebildet werden. Dabei geht es unter anderem darum, forensische Beweise zu sichern, die später in einem Strafverfahren von Bedeutung sein können.
«Aktuell erfüllt die Schweiz die Istanbul-Konvention noch nicht.»
Mandy Abou Shoak, SP-Kantonsrätin und Bildungsverantwortliche der NGO «Brava»
Lernprogramme für Täter:innen sind im Gange, die Gesetzesänderung zum Opferschutz ist passiert und es wird über Videoaufzeichnungen diskutiert, um zu verhindern, dass Opfer retraumatisiert werden. Was braucht es noch?
Vor allem in den Bereichen der Prävention und dem Opferschutz wie der Rechtsvertretung von Opfern gibt es noch viel Potenzial. Gemeinsam mit Politiker:innen aus allen Parteien habe ich diese Woche einen Vorstoss zur chemischen Unterwerfung eingereicht.
Das ist eine grässliche Form der Ausbeutung, welche uns alle durch den Fall von Gisèle Pelicot in Frankreich zutiefst schockiert hat. Es geht um Fälle, in denen Betroffene betäubt, vergewaltigt, gefilmt und die Aufnahmen verbreitet werden. Wir haben die Regierung im Kanton Zürich gefragt, ob es dazu Daten gibt und inwiefern bereits etwas dagegen unternommen wird.
Doch alle Massnahmen bringen nichts, wenn sie nicht überprüft werden.
Alle vier Jahre muss die Schweiz, also die verschiedenen Verwaltungen, einen Länderbericht über den Stand der Umsetzung der Istanbul-Konvention verfassen. Gleichzeitig dazu schreiben NGOs einen Parallelbericht, der kritisch auf die Situation in der Schweiz blickt.
Mit diesen Berichten besucht die Expert:innen-Kommission «GREVIO», Group of Experts on Action against Voilence against Women and Domestic Voilence, die Schweiz und verfasst ebenfalls einen Bericht. Daraus werden schliesslich Empfehlungen zur Verhütung und Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen abgeleitet.
Der Länderbericht wie auch der Parallelbericht werden am 1. Oktober 2025 veröffentlicht. Aktuell erfüllt die Schweiz die Istanbul-Konvention nicht.
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Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch