Laura Leupi: «Das Zuhause ist der gefährlichste Ort für viele Menschen»
Laura Leupi gewinnt mit «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» den Schweizer Literaturpreis. In Text und Performance stellt sich Leupi gegen gewaltvolle Sprache und gegen Scham als Machtinstrument. In Anlehnung an Gisèle Pelicots Satz «La honte doit changer de camp» fragt Leupi: Muss Scham wirklich die Seite wechseln?
«Z steht für Zuhause, unser eigenes oder ein anderes. Dort, wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen. Zuhause kann auch der Ort sein, wo wir uns begegnen und gemeinsam kämpfen», heisst es im «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» für das Laura Leupi mehrfach ausgezeichnet wurde.
Seit Leupi den Schweizer Literaturpreis gewonnen hat, ist «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» in vielen Buchhandlungen ausverkauft. Und über ein Jahr nach der Veröffentlichung des Buches erhält Leupi und das Thema der sexualisierten Gewalt von neuem viel Aufmerksamkeit. Schön und bitter findet das Laura Leupi. Schön, dass das Buch im schnelllebigen Literaturmarkt wieder präsent sei. Bitter, weil das Thema der sexualisierten Gewalt niemals nicht aktuell sei.
Das erzählt Laura Leupi in einem Café mitten im Zürcher Kreis 4. Erst versteht der Angestellte hinter der Kaffeemaschine Leupis Getränkewahl nicht: einen Eiskaffee bestehend nur aus Eiswürfeln und Kaffee ohne Milch oder Zucker. «Wer würde das wollen?», steht dem verwirrten Mann ins Gesicht buchstabiert.
Mit dem kalten Getränk in der Hand erzählt Leupi und strahlt dabei eine kluge Leichtigkeit aus, auch wenn es um belastende Themen geht.
«Déformation professionnelle»
Laura Leupi wächst in Zürich auf. Nach dem Germanistikstudium eignet sich Leupi einen eigenen Zugang zum professionellen Schreiben im Künstler:innen-Kollektiv «Tempofoif» an. Dort entwickelt Leupi eine künstlerische Praxis rund um Improvisation und Performance.
Schreiben ist dabei Methode, um Improvisationen zu entwerfen und Dossiers zu erstellen. Das Suchen, das Sammeln und Recherchieren, wofür Leupi später ausgezeichnet werden soll, ist in diesem Schaffen angelegt.
Erst mit der Bewerbung auf eine Künstler:innen-Residenz im Toggenburg zum Thema «Home» findet Laura Leupi die Bedingungen vor, Schreiben als eigenen künstlerischen Ausdruck zu entwickeln, stets darum bemüht, die abstrakte, akademische Sprache der Literaturwissenschaft abzulegen. Doch die Lust an Form und Theorie bleibt. Ganz bringe man die «Déformation professionnelle» halt nicht raus, sagt Leupi und lacht herzlich, wie so oft im Gespräch.
In der Residenz dreht sich alles um das Thema «Home». Also Zuhause, Heimat oder auch der gefährlichste Ort der Welt für Frauen, trans Personen, nicht-binäre Personen, (gender-)queere Personen und Kinder, sagt Leupi. «Home» wird für Leupi zur Spurensuche, das Schreiben zum Experimentierraum: «Wie verändert sich die Wahrnehmung des Zuhauses, wenn ein Mensch in diesem vermeintlich sicheren Raum sexualisierte Gewalt erfährt?»
In den darauffolgenden Wochen entsteht eine Collage aus Essays, Google-Suchanfragen, entrückten Alltagsbeschreibungen und politischen Forderungen.
2023 wird Leupi zur Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt eingeladen. Dort trägt Leupi aus all den Texten, die während der Residenz entstanden sind, eine kondensierte Textperformance des Alphabets vor.
Leupi inszeniert den Text auf der Bühne: Jede Sprechpause, jeder Blick ins Publikum sind bewusst gesetzt. Für ein Social-Media-Video des Wettbewerbs wird Leupi gefragt: «Seit wann nennen Sie sich Autor:in?» Diese Frage löst eine Identitätskrise in Leupi aus. «Nenne ich mich heute überhaupt Autor:in?», denkt sich Leupi. Der Identitätskrise zum Trotz: Laura Leupi wird mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.
Gegen das Schweigenbrechen
2024 erscheint der in der Residenz entstandene Text als Buch. Ende Mai 2025 wird «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Das Alphabet soll aufzeigen, dass sexualisierte Gewalt kein Tabuthema ist, zumindest nicht so, wie man gemeinhin annimmt. Im Gegenteil: Femizide und explizite Vergewaltigungserzählungen sind im barocken Gemälde als auch in der Tageszeitung fester Bestandteil der Alltagskultur.
«Das Schweigen wird meist mit grossen Geschichten gebrochen, schlimmen Schicksalen, intimen Details – und nicht mit dem Alltäglichen, dem, was sexualisierte Gewalt in den meisten Fällen ist», schreibt Leupi im Buch.
Sexualisierte Gewalt wird so nicht als Ausnahme, sondern als strukturelle Realität beschrieben. Gewalt ist nicht das Abseitige, sondern das Alltägliche, tief eingeschrieben in Sprache, Kultur, Berichterstattung und Alltag. Leupi legt diese Muster offen – das ist nur einer der zahlreichen radikalen Aspekte in «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt».
Im Schreiben erfindet Leupi weniger eine Sprache, um über Vergewaltigung zu sprechen. Stattdessen schält das Buch aus dem bereits Vorhandenen – aus Beobachtungen, Reflexionen, Medienberichten, aus der Berichterstattung über Femizide – heraus, wo die Gewalt in und um die Menschen ist.
Zum Beispiel: «M steht für Männerhäuser, von denen es in der Schweiz nur drei gibt, und in Deutschland sieben und die in der Schweiz Diversity Awards, aber keine öffentlichen Gelder erhalten.»
Oder die Beobachtung, dass das Wort «Miss-brauch» impliziert, dass es auf der anderen Seite den richtigen «Ge-brauch» einer Person gibt.
Leupi weigert sich, anerzogene Vorstellungen von Täterschaft, Opferschutz und Strafe unkritisch zu übernehmen. «Mein Text hat eine gewisse Radikalität, die gewisse Menschen nicht immer sehen können, weil wir so tief in unseren vorgefertigten Meinungen stecken.»
Zum Beispiel ist Leupi immer wieder überrascht, wenn der Text als flammendes Plädoyer für den Schutz von Frauen bezeichnet wird. «Nein, das greift zu kurz», sagt Leupi. Es sei ein flammendes Plädoyer, den Fokus darauf zu legen, wie festgeschriebene Rollenbilder Gewalt erzeugen können. «Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass ich trotz meiner Nonbinarität als junge Frau gelesen werde, die sich ergo nur für den Schutz von Frauen einsetzt. Auch das greift zu kurz.»
Die Scham soll nicht die Seiten wechseln
«Wir sind so festgefahren in diesem Diskurs von Frauen, Männern, Schutz, Strafen. Das beschäftigt mich», sagt Leupi. Gerade den Slogan von Gisèle Pelicot «La honte doit changer de camp – die Scham muss die Seite wechseln», sieht Leupi, bei aller Bewunderung für Pelicots Mut, auch kritisch.
«Für mich ist Beschämung eine der schlimmsten Herrschaftsmethoden, die es gibt.» Scham sei etwas, was Menschen gewalttätig machen könne, sagt Leupi. Es seien Menschen, die sich schämen für ihr Bedürfnis nach Nähe und Liebe und Zärtlichkeit und Weichheit und aus dieser Scham heraus entstehe Verzweiflung und aus dieser Verzweiflung heraus Gewalt.
«Möchten wir wirklich die Gewalt, die uns angetan wird, auf andere anwenden? Wenn ich aufhöre, mich zu schämen, sollen sich nicht stattdessen andere schämen», sagt Leupi. Stattdessen sollten Täter:innen Verantwortung übernehmen.
Gleichzeitig hätten wir überhaupt keinen Umgang mit Täter:innen in unserer Gesellschaft. «Wie gehen wir mit der Ambivalenz bei Gisèle Pelicot um, dass diese unvorstellbaren Taten vom Nachbar, Familienvater, von stinknormalen Männern ausgeübt wurde? Da stecken wir in so krassen Narrativen fest, zu denen es noch viel zu sagen gibt.»
Die Themen Gewalt, Sprache und Körper werden Leupi weiterhin beschäftigen und man kann erwarten, dass Leupi weiterhin Machtstrukturen auf eigensinnige, aber immer kluge Weise offenlegen wird.
«Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» erscheint voraussichtlich Anfang Juli auch als Paperback im Matthes & Seitz Verlag.
Im Tsüritipp vom 25. Juni findest du weitere Tipps und News zur Kultur in Zürich.
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Yann hat an der Universität Zürich einen Master in Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie abgeschlossen. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er bei 20Minuten, Tsüri.ch und der SRF Rundschau. Beim Think & Do Tank Dezentrum war Yann als wissenschaftlicher Mitarbeiter und in der Kommunikationsleitung tätig. Seit 2025 ist er Teil der Tsüri-Redaktion. Nebenher ist er als Freelancer im Dynamo Zürich und bei Dachsbau Sounds unterwegs.