«Alle hier in Palästina und Israel haben Traumata – das könnte verbinden»

Als Konfliktforscher ist der Zürcher Moritz Haegi seit bald einem Jahr im Westjordanland unterwegs. Als Rapper MzumO verarbeitet er seine Eindrücke und schlägt Brücken zwischen Zürich, Palästina und Israel. Ein Gespräch über Krieg, Rap und Forschung.

Moritz Haegi MzumO Konfliktforscher und Rapper
Der Zürcher Moritz Haegi forscht für die Uni Basel im besetzten Westjordanland. (Bild: Marlène Schürch)

Lara Blatter: «Schnee fällt in Zürich und Bomben in Gaza» rappen Sie in Ihrem Song «Al Aqsa». Gleichzeitig sind Sie für die Universität Basel im Westjordanland am forschen. Warum verbinden Sie Forschung und Musik?

Moritz Haegi: Die Forschung bezahlt mich, die Musik nicht. Nein Spass. Ich brenne für beide Bereiche. Mein Ziel sowohl in der Musik als auch in der Forschung ist es, meine Erfahrungen zu teilen und über die Situation im Nahen Osten aufzuklären. 

Sie rappen auf Ihrer aktuellen EP über Siedlergewalt, Uni-Besetzungen und über weisse Privilegien. Was kann Musik, was Forschung nicht kann?

In der Forschung kann ich in die Tiefe gehen und Fakten schaffen, in der Musik kann ich Gefühle vermitteln und gleichzeitig meine Emotionen verarbeiten. Ich will nicht nur schöne Melodien machen, ich will sagen, was mir am Herzen liegt. Darum rappe ich. Musik ist für mich Therapie. 

Der Krieg im Nahen Osten macht sowohl Ihre Musik als auch Ihre Forschung politischer denn je.  

Rap ist im Kern meistens politisch und meine Forschung ist aufgrund von ihrem Thema – der Westbank – automatisch politisch. Es ist nicht möglich, zu Palästina und Israel zu forschen, ohne politisch zu sein, oder zumindest so wahrgenommen zu werden. Das war auch schon vor dem 7. Oktober so. 

Seit Anfang Jahr sind Sie als Konfliktforscher in den umkämpften Hügeln im Westjordanland unterwegs und machen darüber Ihre Doktorarbeit. Was untersuchen Sie genau?

Seit 1967 wird das Westjordanland von Israel völkerrechtswidrig besetzt. Ich untersuche, wie sich diese Besatzung auf den Alltag der Menschen hier auswirkt und wie unterschiedlich sie sich äussert, je nachdem, wie ein palästinensischer Ort beschaffen ist. 

Was sind Ihre ersten Erkenntnisse? 

In Städten und Orten mit einer hohen Bevölkerungsdichte, wie hier in al-Eizariya, wo ich aktuell wohne, gibt es kaum israelische Siedlungen und so kommt es auch zu weniger direkter Gewalt und Enteignungen. Die Menschen können sich aber nur sehr eingeschränkt bewegen. In palästinensischen Städten wird also viel mehr betrieben, was man in der Forschung «klassischen Kolonialismus» nennt. Heisst, man baut eine Hierarchie zwischen den Kolonisierten und den Kolonisator:innen auf, mit dem klaren Ziel, diese möglichst lange am Leben zu halten. 

Und in ländlichen Gebieten?

Zum Beispiel in Masafer Yatta, wo ich zuvor war, gibt es viel mehr Siedlergewalt und ganze Dorfgemeinschaften werden vertrieben. Hier ist das Ziel eben nicht, diese Hierarchie am Leben zu halten, sondern sie zu überwinden, damit die Siedler:innen dort «normal» und «ungestört» leben können. Heisst, die einheimische Bevölkerung wird komplett vertrieben oder man arbeitet zumindest auf das hin. Wie sich diese beiden unterschiedlichen Methoden manifestieren und auf den Alltag auswirken, das untersuche ich anhand von drei zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Masafer Yatta, dem Aida-Flüchtlingslager in Bethlehem und al-Eizariya.

Im Diskurs um Israel und Palästina gerieten auch schon diverse Universitäten unter Beschuss – sei es wegen Student:innen-Besetzungen oder Forschung, die sie betreiben. Sie sprechen ebenfalls von Kolonialismus, auch dieser Begriff ist rund um Palästina und Israel umstritten. Stand Ihre Forschung schon mal in Gefahr?

Nein. Aber ich überlege mir natürlich ständig, was für kritische Fragen auf mich zukommen könnten. Ein grosser Teil der Wissenschaft zu Israel und Palästina, ist sich aber einig, dass es zumindest Elemente von Siedlerkolonialismus in der Geschichte der zionistischen Besiedlung Palästinas gibt.

In den aktuellen Diskussionen gibt es viele Reizwörter: Siedlerkolonialismus, Genozid und Apartheid. Wie gehen Sie als Forscher damit um?

Als Wissenschaftler ist es mir wichtig, dass wir die Diskussion am Laufen halten und einander zuhören. Vor allem im deutschsprachigen Raum hat man Angst, den Genozid seitens Israels in Gaza zu benennen. Im wissenschaftlichen Kontext und in den englischsprachigen Medien wird die Debatte offener geführt. Aber man benutzt diese Worte ja nicht leichtfertig, sondern aus guten Gründen.

Können Sie ein Beispiel machen?

Die Siedler:innen als Beispiel: Menschen ziehen mit Unterstützung des israelischen Staates in ein völkerrechtswidrig besetztes Gebiet, in dem zwei verschiedene Rechtssystem für Siedler:innen und Palästinenser:innen gelten. Viele der dafür gebauten Siedlungen stehen auf enteignetem palästinensischen Land und es kommt immer mehr zur Vertreibung ganzer Dörfer in ländlichen Teilen der Westbank. Diese Vorgänge haben eine siedlerkoloniale Komponente. Das muss man benennen können, vor allem in der Wissenschaft. Sonst verpassen wir uns einen Maulkorb.

Verfolgt Ihre Forschung aktivistische Ziele?

Forschung ist kein Aktivismus. Doch gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat Forschung immer eine soziopolitische Komponente. Jene Wissenschaftler:innen, die behaupten, sie seien gänzlich frei von ideologischen Berührungspunkten, machen mir am meisten Angst – denn meistens blenden sie ihre ideologische Einbettung bewusst oder unbewusst aus. 

Was sind Ihre Ziele als Konfliktforscher?

Ich kenne sowohl die israelische als auch die palästinensische Seite und das will ich vermitteln. Aus diesem Grund habe ich auch hebräisch und arabisch gelernt. Das Leben zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer ist nicht Schwarz-Weiss. Ich bin weder pro Palästina noch pro Israel – ich bin schlicht für gleiche Menschenrechte für alle. Dass ich mit dieser Haltung zunehmend in eine Ecke gestellt werde, sagt, finde ich, schon einiges über die Situation hier aus. 

«Frieden ist möglich. Aber hierfür braucht es einen politischen Willen und Geld.»

Moritz Haegi

Wie sind Sie wissenschaftlich genau in diesen Konflikt hineingeraten?

Als ich vor einigen Jahren für die Schweizer Botschaft in Tel Aviv arbeitete, fing mein Bild von den Zuständen hier an zu bröckeln. Ich merkte: In Palästina und Israel haben nicht alle dieselben Rechte. Diese Ungleichbehandlung ist strukturell und kennt viele Grauschattierungen. Und hier kommt die Forschung ins Spiel. Sie kann in die Tiefe gehen und Unrecht benennen. Mein Zielpublikum sind Menschen aus der Schweiz, insbesondere der Deutschschweiz. Auch auf Instagram poste ich darum über meine Arbeit meist explizit auf Schweizerdeutsch. Ich will den Menschen in der Schweiz jene Realität aufzeigen, die in Schweizer Medien zu kurz kommt. 

Löst man als Konfliktforscher Konflikte oder geht es mehr ums Verstehen?

Ohne zu verstehen, können wir keine Lösungen finden. Als Konfliktforscher geht es mir darum, dass man Missstände – in meiner Forschung also den Siedlerkolonialismus im Westjordanland – anerkennt und versteht. Dieses Wissen und diese Anerkennung führen dann hoffentlich eines Tages zu möglichen Lösungen. Geschehenes können wir nicht rückgängig machen, wir müssen nach vorne schauen und uns fragen: Wie können die Menschen in Israel und Palästina nebeneinander und gleichberechtigt leben?

Moritz Haegi MzumO Konfliktforscher und Rapper
Moritz Haegi fasziniert die «Sumud», die tägliche Standhaftigkeit, mit welcher seine palästinensischen Freund:innen durchs Leben gehen. (Bild: Marlène Schürch)

«From the river to the sea, we all need therapy» hat die israelische Comedian Noam Shuster-Eliassi letzten Winter auf Instagram geschrieben. «Zwüsched em River und Sea, 14 Millione mit PTSD», rappen Sie im Song «Jawayya». Die Wunden sind tief und alt – ist Frieden überhaupt möglich?

Noam Shuster-Eliassi hat recht. Alle Menschen hier in Palästina und Israel haben Traumata von Krieg und Vertreibung – das wiederum könnte verbinden. Der Schmerz ist universell, er tut weh. Und ja, Frieden ist möglich. Es gibt immer wieder Beispiele aus der Geschichte, die zeigen, dass es geht: Ruanda, Nordirland oder auch die Deutsch-Französische Aussöhnung nach den Weltkriegen, welche nicht zuletzt die Basis für die Europäische Union bildete. Aber hierfür braucht es einen politischen Willen und Geld. Frieden kostet viel Geld.

Als Konfliktforscher haben Sie sich mit Israel und Palästina einen alten und oft als unlösbar dargestellten Konflikt ausgesucht. Was gibt Ihnen Hoffnung?

Der Konflikt ist nicht unlösbar, doch der politische Wille fehlt. Vielleicht muss es zuerst noch schlimmer werden, bevor es besser wird. Und langfristig kann ein ungerechtes System nicht überleben. Aber das sind schmerzhafte und abstrakte Hoffnungen. Ein bisschen Hoffnung geben mir einzelne Initiativen, die Palästinenser:innen und Israelis zusammenbringen. Und die «Sumud», die tägliche Standhaftigkeit, mit welcher meine palästinensischen Freund:innen hier trotz der Besatzung durchs Leben gehen. Aber das sind kleine Tropfen auf einem immer heisser werdenden Stein.

Ihre aktuelle EP heisst ebenfalls «Sumud» – was heisst das?

«Sumud» heisst auf arabisch «Standhaftigkeit» und beschreibt ein zentrales Konzept des gewaltfreien Widerstandes in Palästina. Es geht darum, trotz der Besatzung standhaft zu bleiben und ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben zu führen. 

Wie äussert sich diese «Sumud» im Alltag?

In Masafer Yatta habe ich viele Hauszerstörungen miterlebt. Aber egal wie oft ein Haus von den Bulldozern der Besatzung kaputt gemacht wurde, die Menschen bauen es wieder auf. «To exist is to resist» – alleine das Leben ist bereits ein Akt des Widerstands. Dieses Motto ist tief in der palästinischen Gesellschaft verankert. Das fasziniert mich. Und diese «Sumud» kann israelische Soldat:innen auch ganz schön nerven: Wenn Palästinenser:innen an Checkpoints festgehalten werden, lachen sie auch mal, erzählen sich Geschichten und spielen Karten. Sie können nicht beeinflussen, wie sie sich bewegen können, aber sie haben es in der Hand, wie sie ihr Leben innerhalb dieser starren Grenzen auskosten.

Seit über einem Jahr herrscht Krieg im Nahen Osten und tausende von Menschen sind getötet worden. Gleichzeitig tun sich auch hier in Zürich Gräben auf, die Fronten sind verhärtet – auch in linken Räumen. Gerade wenn es zu Diskussionen über Palästina-Demonstrationen, Uni-Besetzungen oder Antisemitismus kommt. Haben Sie einen Rat?

Ja, das ist traurig. Antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus haben zugenommen. Minderheiten werden aktuell gegeneinander ausgespielt, was nur rechten Kräften in die Hände spielt. Zudem nehme ich wahr, dass der Antisemitismusvorwurf in den Medien und der Öffentlichkeit zunehmend instrumentalisiert wird, um Kritik an Israel und Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu unterbinden. Das finde ich bedenklich, denn genau diese Debatten könnten uns voranbringen. Ich bin aktuell nicht in Zürich unterwegs, aber was ich mitbekomme: Einige jüdische Menschen fühlen sich nicht wohl in linken Spaces und muslimische und arabisch gelesene Menschen fühlen sich ebenfalls in ganz vielen Orten nicht willkommen und stehen unter Generalverdacht. Hier hilft nur eine intersektionale Denkweise und dass wir aufhören, Diskriminierungsformen gegeneinander auszuspielen.

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