Auf allen vieren Richtung Dünndarm – oder in den Latte-Art-Kurs
Unsere Kolumnistin Jane Mumford hat Menschen, die Töpferkurse und Barista-Schulungen besuchen, stets belächelt. Angesichts der aktuellen Weltlage kann sie das Bedürfnis nach kollektiven Wohlfühlprogrammen jedoch immer besser verstehen.
Klar, mein Quartier war schon gentrifiziert, als ich vor zwei Jahren – zum dritten Mal – hierhin zog. Aber wie viele Töpferkurse, Katzencafés, Barista-Lehrgänge und Do-It-Yourself-Bändeli-knüpfen-für-Erwachsene-Shops sind eigentlich erlaubt innerhalb von hundert Quadratmetern?
Staunend lief ich bis vor kurzem noch an diesen Vorzeichen der Apokalypse vorbei und wunderte mich, wie viele Leute bereit waren, sich dort sichten zu lassen – denn diese Orte sind immer im Erdgeschoss.
Exhibitionistisches Wohlfühlprogramm? Ohne mich!
Wenn ich mich wohlfühlen will, verkrieche ich mich lieber diskret in mein stilles Kämmerlein und schaue meine Serien und mache mein Ego-Yoga und esse Chips. Und schaue vielleicht auf YouTube noch meine amerikanischen Lieblings-Satiresendungen, lese einen weiterführenden Artikel zu einem besonders krassen Thema, schaue anschliessend eine deutsche Satiresendung zum selben Thema.
Und merke dann, dass das Schlimme langsam ganz nahe kommt und die Schweiz für vieles als Vorbild genannt wird. Well, shit!
Da sitze ich also in meinem stillen Kämmerlein, knietief in sich überschlagenden Ereignissen. Und werde wütend und fühle mich hilflos. Ich bin doch abstimmen gegangen? Ging denn sonst niemand abstimmen? Dort drüben? Und da oben? Oder sind alle abstimmen gegangen und – Achtung, Horrorvorstellung – es waren einfach nicht genug?
Diese Woche habe ich mich nach satten zwei Tagen «Wohlfühlprogramm» nur noch mit einer einzigen Frage herumgeschlagen:
Wer kann der extremen Rechten wohl am schnellsten, am tiefsten in den Arsch kriechen?
«Ich hätte auch gerne etwas mehr Vertrauen in die Menschheit. Vielleicht muss ich auch töpfern gehen.»
Jane Mumford
Diese Frage wollte ich mir nie stellen müssen. Aber in letzter Zeit schaue ich sprachlos zu, wie Tech-Milliardäre (Elon Musk), Ex-Bundesräte (Ueli Maurer) und die Neue Zürcher Zeitung («Ich bin supersensibel – Alice Weidel im Gespräch») auf allen vieren um die Wette gen Rosette strampeln. «Wer zuerst bei der Bauchspeicheldrüse ankommt, darf eine Hitlergruss-ähnliche Geste machen!»
Wenn ich es mir genau überlege, ist es auch egal, wer der Rechten das sauberste Arschloch leckt. Viel wichtiger ist: Was erhoffen sie sich alle davon? Persönlichen Profit («DOGE»)? Ein Vorbild («Daddy’s home»)? Eine Blaupause fürs eigene Vorhaben («Hoi Alice!»)? Oder ist das eine Art geheimer Selbstvernichtungswunsch aus tief sitzenden Minderwertigkeitskomplexen?
Oh Gott. Plötzlich habe ich so viel Verständnis für alle, die in ihren selbst getöpferten Cappuccino-Mugs zum seelischen Ausgleich noch mit Milchschaum Schwäne zeichnen lernen wollen, oder damit später im musikfreien Katzencafé einen Coffee-to-go ohne Wegwerfbecher bestellen. Und dann ab ins Yin Yoga.
Nicht alleine, im stillen Kämmerlein, sondern in Gesellschaft.
Einfach um sich zu vergewissern, dass es durchaus Menschen gibt, die in ihrer Freizeit gewaltfreien Tätigkeiten nachgehen. Die nicht jede freie Minute online Hasskommentare unter «woke» Themen schreiben, sondern vielleicht sogar wissen, was der (sehr wichtige) Hintergrund dieses Wortes ist. Und sich kurz anlächeln und das Vertrauen in die Menschheit für eine Millisekunde zurückgewinnen.
Ich hätte auch gerne etwas mehr Vertrauen in die Menschheit. Vielleicht müsste ich doch auch mal töpfern gehen. Oder vielleicht müssten Wohlfühlprogramme sogar obligatorisch werden? Ja!
So wie Steuern oder Miete zahlen, nur nützlicher: Pflicht-Ausgleichskurse für die Seele! Dreiwöchiger Wiederholungskurs für die innere Gelassenheit!
Vielleicht würde bei einigen sogar dieser spezifische Stress abgebaut werden, der in Hetzreden-schwingen mündet.
Warum sich so viele gerade nach dieser Rhetorik, diesem drohenden Tonfall und einer brutaleren Zukunft sehnen, ist mir ein Rätsel. Und sicher zu komplex für diese Kolumne.
Ich hoffe, dass Politolog:innen und Extremismusforschende bald auf einen grünen Zweig kommen und es mir auf zwei bis drei verständliche Sätze herunterbrechen können. Unterdessen krieche ich immer noch lieber auf allen vieren an einen Latte-Art-Kurs als der extremen Rechten in den Arsch.
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