«Schau mal, Flugzeug!»
Als Politiker wird Islam Alijaj oft gefeiert. Erlebnisse im Alltag holen ihn zurück in die Realität – und diese ist für Menschen mit Behinderungen noch immer dieselbe.
Wann wurden Sie, verehrte:r Leser:in, das letzte Mal so richtig auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt?
Bei mir war das im Juni dieses Jahres am Wiener Flughafen.
Aber der Reihe nach.
Ich war auf Einladung der österreichischen Sozialdemokraten als Redner auf dem SPÖ-Campaign-Camp zu Gast, einer Veranstaltung, bei der sich Parteichef Andreas Babler mit seinen Genoss:innen auf den kommenden Nationalratswahlkampf einstimmen wollten.
Wobei die Bezeichnung Redner nicht ganz passend ist, ich sollte wohl eher vermitteln: «Seht her, ihr gebeutelten Sozialdemokrat:innen Österreichs. Wenn selbst ein schwerbehinderter Migrant mit eingebautem Terrorverdacht im Vornamen einen Wahlerfolg erringen konnte, dann packt ihr das im Herbst auch!»
Und was soll ich sagen: Es war grossartig, oder um im Bild zu bleiben, es war einfach bombe. Tausend begeisterte Genoss:innen im Audimax der alten Wirtschaftsuniversität, donnernder Zwischenapplaus, Tränen in Reihe eins, Standing Ovation!
Als ich nach meinem Auftritt von der Bühne rollte, ach quatsch, schwebte, war ich völlig elektrisiert. Es war eine geradezu emanzipatorische Erfahrung, einen Raum trotz meiner Sprechbehinderung einnehmen zu können und ein Publikum nicht zu beelenden, sondern zu begeistern. Das muss mir erstmal einer nachmachen!
«Im Zweifel endet die Komfortzone an der Landesgrenze.»
Islam Alijaj
Tags darauf ging es dann bestens gelaunt zurück nach Zürich. Am Wiener Flughafen wollte ich meinen Rollstuhl am Schalter anmelden, während sich mein Bruder gerade um unser Gepäck kümmerte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, gab mir der Mitarbeiter am Schalter zu verstehen, dass der Elektrorollstuhl aufgrund der Akkus nicht in den Frachtraum dürfte.
Ich versuchte also ihm trotz Sprechbehinderung zu erklären, dass dies kein Problem sei und man die Akkus herausnehmen könne. Er zögerte einen Moment und schaute mich bemitleidend an. Dann deutete er mit seiner Hand in Richtung eines Airbus, der draussen auf dem Rollfeld an uns vorbeizog und sagte in einem Tonfall, bei dem sich wahrscheinlich selbst meine siebenjährige Tochter nicht ausreichend ernst genommen gefühlt hätte: «Schau mal, Flugzeug!»
Da sass ich nun. Eben noch gefeierter Polit-Exot. Und jetzt wieder ein ganz normaler Behinderter, der eben auch so behandelt wird, wie Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft oft behandelt werden.
Ich habe diese Anekdote für meinen Start als Kolumnist gewählt, weil sie vor allem zwei Dinge zeigt.
Erstens: Wir stehen noch ganz am Anfang. Ich will nicht lügen, «Guten Morgen Herr Nationalrat», jeder ist plötzlich nett zu dir, hier noch ein Event, da noch ein Auftritt – ich habe in meinem Leben schon schlimmere Phasen erlebt. Aber für die Sache gewonnen, ist damit noch nichts – und im Zweifel endet die Komfortzone an der Landesgrenze.
Zweitens: Inklusion ist nur in zweiter Linie eine Frage von Barrierefreiheit, von Quoten, oder der Finanzierung von Assistenzleistungen. Aber am Anfang steht für mich immer das Bild, das wir als Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen haben.
Das Bild vom armen, hilflosen Geschöpf, das betreut werden muss, und das sich über «Flugzeug» freut. Nur wenn es uns gelingt, dieses Bild zu ändern, wird der Traum von einer inklusiven Gesellschaft, in der jeder ungeachtet seiner Startbedingung etwas aus seinem Leben machen kann, irgendwann Wirklichkeit werden.
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