«In keinem Jahr meines Lebens waren Freud und Leid so nahe beieinander»
Das Leben von Mandy Abou Shoak ist durchgetaktet: Ein Lehrauftrag an der Zürcher Hochschule der Künste, ihr Amt als Kantonsrätin und ein Podium am Aargauer Kunsthaus. Inmitten des alltäglichen Geschehens, gilt es das vergangene Jahr zu verarbeiten.
Es ist Montagmittag. Eine Glocke läutet. Ich sehe auf und realisiere, Sylvie Matter, die Kantonsratspräsidentin hat gerade die Glocke geläutet und damit die Ratssitzung für geschlossen erklärt. Ich atme einmal tief durch und versuche in meinen Gedanken Klarheit zu finden.
Genau, ich wollte noch die Mails an Fadrina Arpagaus, ehemalige Dramaturgin im Schauspielhaus Zürich, weiterleiten, um die Inhalte danach noch kurz zu besprechen. Gemeinsam mit ihr bin ich diese Woche an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Wir haben einen Lehrauftrag, in dem wir gemeinsam mit Masterstudierenden, aus den Bereich Schauspiel, Dramaturgie und Regie, eine Praxis in Bezug auf diskriminierungssensibles Proben und Produzieren ergründen und einüben.
Ich schaue wieder auf meinem Laptop und tippe in die Tasten. In diesem Moment leuchtet eine Meldung am rechten Rand meines Bildschirms auf. Sie kommt vom Kunsthaus Aargau. Die Neugier ist zu gross, um die Mail zu ignorieren.
Noch bevor ich die Nachricht an Fadrina fertig formuliert habe, öffne ich die Mail vom Kunsthaus: Es braucht noch ein Foto von mir für das Podium, das ich im Rahmen der Finissage der Ausstellung «Stranger in the Villiage» moderiere. Ich denke mir: Gemacht ist gemacht. Also suche ich schnell ein Porträtbild aus den Untiefen meiner Ordner und antworte in einigen wenigen Zeilen. Nun muss ich Fadrina antworten. Nur noch ein kurzer Blick auf mein Handy. Eine Sprachnachricht von Fadrina auf dem Handy. Ich schaue mich kurz um, um zu checken, ob ich die Nachricht hier abhören kann. Fast alle 180 Kantonsrät:innen sind gegangen. Aber nicht ganz alle.
Entscheidungen, die Leben prägen
Mein Parteikollege Davide Loss ist auch noch da. Ich höre die Nachricht ab und entscheide, nicht mit einer Mail zu antworten, stattdessen auf dem Weg zum nächsten Termin eine Sprachnachricht zu machen. Ich schaue zu Davide. Er sitzt ganz rechts im Rat, etwa drei Reihen weiter vorne, in etwa 20 Meter Luftdistanz. Ich rufe zu ihm: «Kommst du auch was essen?» Nein, er müsse bald los, er habe noch einen Termin. Ich denke kurz nach und frage ihn, ob er nicht an die Fraktionssitzung komme.
Die Fraktionssitzung ist jene Sitzung, in der sich alle Ratsmitglieder, die in der gleichen Partei sind, treffen. Dabei wird diskutiert und entschieden, wie wir uns als Partei zu welchen Themen positionieren und damit schliesslich auch, wie wir innerhalb des Rates abstimmen und die Leben der 1,5 Millionen Menschen im Kanton Zürich mitprägen. Davide verneint. Er müsse am Nachmittag an eine Gerichtsverhandlung. Er ist Anwalt. Ich nicke ihm zu, wir gehen ein anderes Mal gemeinsam essen.
Also spaziere ich ohne ihn vom Bullingerplatz, wo der Kantonsrat immer am Montagmorgen tagt, Richtung Bezirksgericht zu unserem Parteisekretariat und hole mir auf dem Weg Gyros. Essend und spazierend, beginne ich damit, das Jahr Revue passieren zu lassen.
Entfachte Feuer
Was für ein Jahr. Heute vor zwölf Monaten war ich damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich meinen Wahlkampf starten soll. So viele Menschen redeten mir gut zu. Sie sagten, dass sie mich unterstützen wollen, dass sie Zeit oder Kapazitäten hätten, in mein Ziel zu investieren. Zu dieser Zeit realisierte ich, dass es unglaublich viele Menschen gab, für die meine Kandidatur Hoffnung bedeutete, für die meine Kandidatur wichtig war. Es fühlte sich an, als hätte sich ein kleines Feuer entfacht.
«Mein Leben ist komplex, aber ich liebe es.»
Mandy Abou Shoak
Kurz vor den Wahlen im Februar 2023 reiste mein Vater in den Sudan, mein Heimatland. Zuvor führten wir unzählige Gespräche und ich versuchte ihn davon zu überzeugen, bis nach den Wahlen in Zürich zu bleiben. Mein Vater ist selbst parteipolitisch engagiert. Er wusste also um die Wichtigkeit des Momentes. Dennoch: Ich verstand auch, dass er sich nach 32 Jahren in der Schweiz danach sehnte, den Fastenmonat inklusive den Festtagen im Sudan zu verbringen.
Am 12. Februar war es so weit: Ich wurde gewählt. Er war im Sudan. Kurz nach meiner Wahl in den Kantonsrat brach im Sudan Krieg aus. Mitten in der Hauptstadt, wo sich mein Vater befand. In keinem Jahr meines Lebens waren Freud und Leid so nahe beieinander. Zum einen war da diese schier unfassbare Freude über die gemeinsame Kraft, das Veränderungspotenzial und schliesslich die Wahl, zum anderen gab es das Gefühl tiefer Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Lähmung, Trauer und Wut.
Tränen der Erleichterung
Während ich mir diese Ereignisse durch den Kopf gehen lasse, spüre ich, wie mir die Tränen kommen. Sie laufen mir die Wange herunter. Ich bin erleichtert. Erleichtert darüber, dass mein Vater inzwischen wieder zurück ist und es ihm gut geht. Gleichzeitig bin ich unglaublich desillusioniert und traurig darüber, dass es so viele Menschen gibt, die sich nicht in Sicherheit befinden, die ihr Leben inmitten von bewaffneten Konflikten führen müssen. Deren Alltag es ist, um ihre Liebsten zu trauern und sich ums Überleben zu kümmern. Ich frage mich, ob es nur mein Gefühl ist, oder ob die bewaffneten Konflikte wirklich zugenommen haben.
Mittlerweile bin ich im Sekretariat angekommen. Die Co-Fraktionspräsidentin eröffnet die Fraktionssitzung. Ich öffne den Laptop und suche nach einer Liste, die mir zeigt, wo es aktuell überall bewaffneten Konflikte gibt. Als die Sitzung fertig ist, habe ich noch immer keine aktuellen Daten gefunden. Als wären selbst die NGOs und die Medienschaffenden zu müde, zu resigniert, diesbezüglich einen Überblick zu behalten. Ich packe meine Sachen und mache mich auf den Weg zu einem Podiumsgespräch im Rahmen der Aktion «16 Tage gegen Gewalt an Frauen».
Für Menschen wie mich ist es üblich, mit unterschiedlichen Dingen gleichzeitig beschäftigt zu sein. Es ist Fluch und Segen zugleich. Doch so frei ich mich in vielen Lebensbereichen fühle, wie beispielsweise in meiner selbständigen oder künstlerischen Arbeit, so beengt und gefangen fühle ich mich in anderen Bereichen. Zum Beispiel, wenn ich an meine Familienmitglieder im Sudan denke. Manchmal zerreisst es mich fast. Gleichzeitig kommt manchmal alles Schöne in einem Moment zusammen. Mein Leben ist komplex, aber ich liebe es und ich erfahre jeden Tag aufs Neue, dass mich das Leben auch liebt.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!