«Wer ein Haus für über 11 Millionen kauft, kann die jetzigen Mieten nicht halten»
Im Kreis 3 steht ein Haus mit zehn Wohnungen für über 11 Millionen zum Verkauf. Für Immobilienexpertin Karin Weissenberger ist der Fall klar: Kostengünstige Mieten sind bei solchen Preisen nicht möglich. Ein Gespräch über faires Vermieten und Eigentum.
Lara Blatter: Wir stehen hier an der Zurlindenstrasse vor einem Haus, das momentan zum Verkauf steht. Mindestverkaufspreis 11,1 Millionen Franken. «Bei dieser Immobilie kann aufgrund vieler langjähriger Mietverhältnisse von einem sehr hohen Mietzinssteigerungspotenzial ausgegangen werden», steht in der Verkaufsdokumentation von Engel und Völkers. Das schreit nach Kündigung und Aufwertung. Warum ist sich die Immobilienbranche ihrer sozialen Verantwortung nicht bewusst?
Karin Weissenberger: Ich glaube, sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Die Formulierung deutet an, dass eine massive Veränderung für die Bewohner:innen kommen könnte. Aus Sicht der Verkäufer:innen ist es legitim: Sie wollen verkaufen, der Markt hat hohe Bodenpreise, warum sollten sie unter dem Preis verkaufen?
Ja, warum sollten sie?
Hier kommt die Gier des Menschen ins Spiel und die soziale Verantwortung wird eventuell beiseite geschoben. Die Firma, die mit dem Verkauf beauftragt wurde, hat eine gewisse Mitschuld, aber schlussendlich führt sie nur aus, was der:die Kund:in will. Um ein abschliessendes Urteil zu fällen, weiss ich zu wenig über die Verkäuferschaft und den Zustand der Liegenschaft. Wollen sie das Maximum, weil es der Markt gerade hergibt, oder brauchen sie Geld, um in Anderes zu investieren?
Die jährlichen Netto-Mieteinnahmen für die zehn Wohnungen betragen jetzt rund 221‘000 Franken. Wird die Liegenschaft für 11,1 Millionen oder mehr verkauft, werden die Mieten auch bei einem kostendeckenden, nicht missbräuchlichen Mietzins steigen. Heisst also: Alle Mieter:innen raus, sanieren und für mindestens das Doppelte vermieten?
Ja, bei so einem Verkaufspreis ist die Gefahr gross, dass die Mieten stark angepasst und die jetzigen Mieter:innen verdrängt werden. Ich kenne die Bausubstanz nicht, aber dieser Preis liegt vermutlich hart an der Grenze zum Missbräuchlichen. Man kann es aber auch relativieren, denn Eigentumswohnungen in Zürich kosten leider inzwischen auch zwischen ein und zwei Millionen, je nach Grösse und Standard.
Welcher Preis wäre angemessen?
Rechnen wir umgekehrt. Kapitalisiere ich die jetzigen Mieteinnahmen mit einer Bruttorendite von circa 5 Prozent, dann wären wir bei rund 5 Millionen. Das wäre aber sicher nicht ein angemessener Verkaufspreis, da kommen noch weitere Kosten dazu. Bestimmt muss man einiges machen und auch der freie Markt darf etwas mitspielen. Aber zwischen 5 und 11 Millionen liegen Welten.
Der freie Markt soll spielen, appellieren Sie also an die Verantwortung der Immobilienbesitzer:innen?
Ja, in solchen Fällen wäre es wünschenswert, wenn sich die Verkäuferschaft aktiv gegen solche hohe Verkaufspreise entscheidet. Wer ein solches Haus für über 11 Millionen kauft, kann die jetzigen Mieten nicht halten – ausser er:sie legt selbst drauf und kauft aus Wohlwollen. Man sagt immer, «der Markt bezahlt das eben und die Bodenpreise sind nun einmal hoch» – aber wer sagt, dass man sich darauf einlassen muss? Der Bodenpreis darf auch tiefer angesetzt werden. Wohnen ist ein Grundrecht, es soll für alle möglich sein. Die Eigentümerschaft darf und soll jedoch auch verdienen. Die Höhe ist entscheidend.
«Enteignungs-Fantasien lassen sich mit dem Schweizer Eigentumsverständnis kaum vereinbaren.»
Karin Weissenberger
Machen solche Häuserverkäufe die Stadt kaputt?
Ja. Alle wünschen sich die Durchmischung, dafür muss man aber auch etwas tun, denn durch solche Verkäufe geht sie verloren. Vor 25 Jahren war dieses Quartier mit der Weststrasse nicht wahnsinnig beliebt. Es ist schön, wie sich dieser Teil von Wiedikon entwickelt hat und darum ist es umso wichtiger, dass das Quartier nicht ausverkauft wird, sodass nur noch Menschen mit hohem Einkommen hier wohnen können.
Was aber je länger, je mehr geschieht.
Der Ruf nach Regulierung wird immer lauter und auch Enteignungs-Fantasien, wie sie die Linke pflegen, lassen sich mit dem Schweizer Eigentumsverständnis jedoch kaum vereinbaren. Der freie Markt wird hier hochgehalten.
Wie könnte man den Markt regulieren?
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die Stadt könnte einen maximalen Bodenpreis je nach Quartier festlegen oder die Mieten proaktiver kontrollieren, denn der Wohnungsmarkt wäre durch das Mietrecht eigentlich reguliert – per Bundesgerichtsentscheid gilt die Rendite mit maximal zwei Prozent über dem Referenzzinssatz als nicht missbräuchlich. Nur kontrolliert das niemand, Mieter:innen müssen sich von sich aus wehren. Es ist ein schwieriger Schritt, neu einzuziehen und dann innert 30 Tagen gegen die Eigentümerschaft zu klagen. Auch könnte man beispielsweise Leerkündigungen erschweren. Oft ist es nicht unbedingt nötig, dass aufgrund einer Totalsanierung gekündigt werden muss.
Was halten Sie von der kantonalen Volksinitiative, die ein Vorkaufsrecht für Zürcher Gemeinden fordert?
Solche Gedanken machen durchaus Sinn. Auch ein Vorkaufsrecht für Genossenschaften würde ich begrüssen. Aber ein Vorkaufsrecht bedeutet nur, dass der höchste gebotene Preis den Vorkaufsberechtigten mitgeteilt wird und diese dann die Möglichkeit haben, zu diesem Preis zu kaufen. Ein Vorkaufsrecht deckelt jedoch weder die Preise noch durchbricht es die Preisspirale.
«Werft private und institutionelle Vermieter:innen nicht in einen Topf, sie sind nicht per se böse!»
Karin Weissenberger
Ist die bundesgerichtliche Nettorendite von 2 Prozent über dem Referenzzins ein Thema unter Eigentümer:innen?
Ja, sehr. Wir von Casafair propagieren, diese Rendite bei der Mietzinskalkulation auch einzusetzen. Wir haben viele Eigentümer:innen, die das Gefühl haben, sie dürfen keine Rendite machen. Sie trauen sich nicht, eine angemessene Verzinsung zu verlangen, weil sie das Gefühl haben, das sei nicht in Ordnung. Das ist aber ein Trugschluss! Sie brauchen das Geld, unter anderem auch für Rückstellungen. Können sie nichts auf die Seite legen und stehen auf einmal grössere Renovationen an, gibt es Probleme. Das dient auch den Mieter:innen nicht. Eigentümer:innen, die finanzielle Schwierigkeiten bekommen, verkaufen dann – heisst, die Mieten gehen rauf. Hier braucht es viel Aufklärung. Eine angemessene Verzinsung kommt langfristig den Mieter:innen zugute. Und ich spreche nicht von Wucher, sondern von Werterhaltung und Reinvestitionen. Die kostendeckende Miete sollte flächendeckend durchgesetzt und im Mietrecht verankert werden, das wäre bahnbrechend.
Nicht alle Eigentümer:innen und Investor:innen fänden das wohl bahnbrechend.
Diese 2 Prozent über dem Referenzzins sind eine gute Verzinsung. Denn wo bekommt man heute bei Investitionen noch eine solche Verzinsung? Banken geben 0 Prozent, wenn nicht gar Minuszinsen. Die Kostenmiete ist transparent, eine faire Verzinsung und führt zu fairen Mietpreisen. Es werden Kauf- oder Baupreis berücksichtigt, Fremdkapital, Eigenkapital und Ausgaben. Alles Daten, die nach einem Kauf bekannt sind, beziehungsweise gut eingesetzt werden können. Fair heisst aber nicht gleich günstig: Baust du neu oder kaufst ein Haus für 11 Millionen, kann auch der kostendeckende Mietzins hoch sein.
Auf dem Zürcher Immobilienmarkt sind der Staat und die Genossenschaften die Guten und die Privaten die Bösen. Casafair will als Verband faires Wohneigentum fördern, wo stehen Sie in diesem Spannungsfeld?
Mittendrin. Werft private und institutionelle Vermieter:innen nicht in einen Topf, sie sind nicht per se böse! Viele Private sind unauffällig und vermieten Liegenschaften fair. Wären sie böse, dann würden sie ihre Häuser auf den Markt werfen, um den grösstmöglichen Profit herauszuholen. Und meiner Meinung nach ist es nicht die Hauptaufgabe des Staates, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Er kann den Markt höchstens teilweise regulieren.
Die Stadt Zürich hat aber mit dem Drittelsziel einen klaren Auftrag. Bis 2050 soll der Anteil von gemeinnützigen Wohnungen auf ein Drittel erhöht werden.
Absolut, Zürich als Gemeinde oder auch andere Städte haben sich selbst solche Ziele gesetzt. Aber auch die Stadt kann nicht unter dem Wert vermieten oder gar draufzahlen. Die Stadt hat Verpflichtungen und muss diese erfüllen. Zudem sind Mieterträge auch für Zürich wichtig, damit man wieder reinvestieren oder andere Liegenschaften kaufen kann.
Wenn die Stadt das Drittelsziel erreicht hat, kommt schon wieder alles gut mit den Mieten – warum ist diese Haltung utopisch?
Haben wir eines Tages das Drittelsziel erreicht – was bis 2050 unmöglich scheint –, gibt es ja immer noch die anderen zwei Drittel, die vogelfrei sind. Darum braucht es auch auf dem freien Markt gewisse Regulierungen und Ziele. Spekulation muss unterbunden werden.
Seit 2010 haben sich die Bodenpreise in der Stadt Zürich mehr als vervierfacht. Heute kostet ein Quadratmeter gut 8000 Franken. Wie konnte es passieren, dass innert zehn Jahren die Preise derart explodiert sind?
Mehr Menschen sind nach Zürich gekommen, die Stadt ist begehrt und attraktiv – was passiert? Noch mehr Menschen kommen und es braucht Wohnraum. Der Wohnungsmarkt funktioniert wie andere Produkte: Steigt die Nachfrage, nicht aber das Angebot, so steigen die Preise. Zudem wird heute nicht gebaut wie vor 50 Jahren, wir haben keinen Platz und auch keine Baupreise wie damals. Hier im Quartier hat man verpasst, einzugreifen – gerade wenn es um grössere Areale oder Projekte geht. Aber es gibt noch wenige Orte, an denen man eingreifen kann, bevor verkauft und teuer verbaut wird.
Auf dem Neugass-Areal, das der SBB gehört, wollte man eingreifen. Im September 2022 nahm die Stadtzürcher Stimmbevölkerung die Neugasse-Initiative knapp an. Die Forderung: Die Stadt soll das Areal kaufen und darauf gemeinnützige Wohnungen bauen. Nur wollen die SBB das nicht, jetzt steht das Areal still.
Ja, das ist die Gefahr, wenn man in den Markt eingreift. Die SBB haben viele Liegenschaften, die Stadt sollte mit ihr verhandeln. Auf ewig wird das Neugass-Areal nicht stillstehen.
Nochmals zurück zur Zurlindenstrasse. Würden Sie einer Kund:in raten, eine Liegenschaft wie diese zu kaufen?
Nein, ich würde vom Kauf abraten, der Preis scheint mir überrissen – auch wenn die Verkäufer:innen ihn am Ende bekommen werden. Hast du genügend Geld und bist nicht auf eine Top-Verzinsung angewiesen, dann ja, kauft solche Häuser, damit sie vom Markt sind. Aber das wäre dann reiner Goodwill, denn so vernichtest du dein Geld. Dann suchst du lieber weiter nach einer anderen Liegenschaft, die günstiger ist.
Aber wo gibt es das im Raum Zürich?
Fast nirgends. Wir brauchen mehr Verkäufer:innen, die den Grundgedanken teilen, dass sich die Immobilienbranche auch ändern kann. Eigentümer:innen, die nicht das Maximum rausholen wollen, rate ich, mit den Mieter:innen zu sprechen – oft sind diese an einem Kauf interessiert.
Wer kauft schlussendlich solche Häuser für über 11 Millionen?
Selten Private, meistens Versicherungen oder Pensionskassen. Und sie werden sanieren müssen, um den Unterhalt zu gewährleisten und damit sie entsprechende Mietzinsen verlangen dürfen, nur so wird es sich für sie finanziell lohnen.
Wie reagieren die Mieter:innen der Zurlindenstrasse? Zum Beitrag.
Zur Person |
Karin Weissenberger ist ehemalige Co-Präsidentin von Casafair Zürich, dem Verband für umweltbewusste und faire Wohneigentümer:innen. Aktuell ist sie im Vorstand und leitet das Beratungsteam des Verbands. Die selbstständige Immobilienfachfrau verwaltet diverse Liegenschaften im Raum Zürich und ist zudem Schlichterin am Mietgericht und SP-Mitglied. |