Degrowth: Die Nadel im Luftballon des Kapitalismus
«Höher, schneller, weiter» – was, wenn genau das nicht mehr das Ziel unserer Gesellschaft wäre? Die Degrowth-Bewegung fordert einen radikalen Wandel. Den Kapitalismus schrumpfen, geht das überhaupt?
«Mehr ist mehr» – das war lange die Devise. Doch angesichts wachsender gesellschaftlicher Krisen und Umweltkatastrophen mehren sich die kritischen Stimmen. Müssen wir unser Wirtschaftssystem, unseren Konsum und unseren Umgang mit der Natur neu denken? Ja, sagen Degrowth-Verfechter:innen. Eine Koryphäe auf dem Gebiet ist Ökonomin Prof. Dr. Irmi Seidl.
ZUM VORMERKEN: An der Pitch-Night am Donnerstag, 27.02.2025, hält Prof. Dr. Irmi Seidl ein Inputreferat.
Zwischen Vorlesungen und einem Freiwilligeneinsatz findet sie Zeit für ein Telefongespräch: «Ich bin nicht grundsätzlich gegen Wachstum», sagt sie. In Bereichen wie der ökologischen Landwirtschaft oder erneuerbaren Energien sei Wachstum durchaus wünschenswert, «in anderen Bereichen braucht es ein Schrumpfen».
Die klassische ökonomische Erklärung und die Mehrheitsmeinung unter Ökonom:innen lautet: Wirtschaftswachstum schafft Wohlstand. Eine These, die Wachstumskritiker:innen wie Seidl so nicht stehen lassen.
Seidl kritisiert die Fixierung auf Wachstum, die ihrer Meinung nach zu absurden Auswüchsen führe. Als Beispiel nennt sie die deutsche «Abwrackprämie» von 2009, die während der Finanzkrise den Kauf von Neuwagen förderte – ein Paradebeispiel für politischen Unsinn sei das.
Seidl kritisiert nicht nur die wachstumsorientierte Politik, sie widerspricht auch der Vorstellung, die Schweiz sei vor allem ein kapitalistisch geprägtes Land: «In der Schweiz florieren die Genossenschaften wie kaum woanders.»
Versicherungen, Genossenschaftswohnungen oder die Migros seien Beispiele dafür. Solche Strukturen gelte es zu stärken, nicht zu schwächen. Sie fordert mehr Stiftungen, soziale Unternehmen und lokale Währungen – und weniger börsennotierte Grosskonzerne.
Wachstum = Wohlstand?
Doch woher soll der Wohlstand kommen, wenn wir weniger erwirtschaften? Schliesslich hat das kapitalistische Wachstum auch viel Gutes gebracht: den Lebensstandard erhöht, mehr Menschen in den Mittelstand gebracht, die medizinische Versorgung verbessert, die Nahrungsmittelversorgung erhöht.
Doch was Innovationen angeht, entgegnet Seidl: Vieles davon verdanke man staatlich finanzierter Forschung, nicht dem Kapitalismus. Und: Die Umweltkatastrophe und die wachsende Ungleichheit seien direkte Folgen des «Wachstumswahns». Der Wohlstand aber schrumpfe dabei.
«Ständiges Wachstum steigert für viele den Stress, vergrössert die Umweltzerstörung sowie die Kluft zwischen Arm und Reich», sagt die Ökonomin.
Ein Alltag in einer wachstumsunabhängigen Ökonomie sieht für Seidl folgendermassen aus: «Langlebige und hochwertige Produkte priorisieren, mehr pflegen und reparieren statt wegwerfen. Weniger arbeiten, mehr Freiwilligenarbeit, mehr Zeit für sich und das Umfeld. Keine Subventionen vergeben, die Konsum ankurbeln. Nur noch selten nach Übersee jetten und stattdessen Ferien in Europa machen. Und eine gerechtere Verteilung von Ressourcen, Einkommen und Vermögen anstreben.»
Konsum und Glück
Kein Luxus mehr, kein Spass? Seidl schmunzelt. «Nicht unbedingt. Die einen wollen reisen, die anderen shoppen. Jeder entscheidet nach seinen Präferenzen. Aber wir müssen uns der Kosten bewusst sein.» Zu fragen, ob jemand acht oder 50 T-Shirts besitzen darf, lenke ab von der Frage, wie diese produziert werden und hierher kommen.
Und: Konsumieren mache ohnehin nur während dem Kauf und vielleicht kurz danach glücklich. «Das belegt die Glücksforschung.» Längst habe diese bewiesen, dass in Ländern wie der Schweiz nicht Wachstum, sondern Zeit, Beziehungen, Gesundheit und kulturelle Aktivitäten glücklich machen.
«Kapitalismus ist auf Expansion ausgerichtet: Mehr Firmen, mehr Ressourcen, mehr Profit. Das ist ein Widerspruch zur Idee von Degrowth.»
Irmi Seidl, Ökonomin
Was aber bleibt vom Kapitalismus, wenn wir das Wachstum rausnehmen? Es scheint, als verhielte sich Degrowth zum Kapitalismus wie die Nadel zum Luftballon. «Kapitalismus ist auf Expansion ausgerichtet: Mehr Firmen, mehr Ressourcen, mehr Profit. Das ist ein Widerspruch zur Idee von Degrowth», sagt Seidl, um ihn gleich selbst wieder aufzulösen: «Nur ein Teil der Wirtschaft funktioniert rein kapitalistisch. Zum Beispiel wollen nicht alle Unternehmen wachsen.» Ihr Coiffeur etwa: «Er will sein Geschäft nicht vergrössern, sonst kommt er selbst nicht mehr zum Haareschneiden.» Gut die Hälfte der Schweizer KMU dürfte so ticken, sagt Seidl.
Auch in Zürich gibt es Bestrebungen, nach einem post-wachstumsorientierten Modell zu arbeiten – und eines vorweg: Sie alle möchten ihre Ideen, Projekte und Communities wachsen sehen. Drei Beispiele zeigen, wie dieses Konzept in der Praxis funktionieren kann – mit Erfolgen, aber auch mit grossen Herausforderungen.
1. (VER)KAUFEN bei «Marta» Secondhand
«Wer in Zürich Secondhand-Kleider kauft, kommt gerne auch zu uns», sagt Daniele Albertinelli. Gemeinsam mit seiner Frau hat er das aus Finnland bekannte Konzept in die Schweiz gebracht: Kund:innen mieten ein Regal, bestücken es mit eigenen Kleidern und verkaufen sie weiter. Ab neun Franken pro Tag kann jede:r vorübergehend Unternehmer:in werden.
Das Konzept geht auf. Ein zweiter Laden in Luzern ist eröffnet, die Kundschaft kauft und verkauft fleissig. Es laufe so gut, dass die vierköpfige Familie «zwei bis drei Monate im Jahr» im Ausland verbringen kann. «Klar wollen wir wachsen, wer will schon schrumpfen?», sagt Albertinelli. Dass Brockis nur den Konsum ankurbeln – eine Kritik, die immer lauter wird – kontert er: «Was ist schlimm daran, dass Menschen das ein und dassselbe Kleidungsstück immer wieder konsumieren und so besser nutzen? Kleidung ist Ausdruck unserer Identität. Das will ich niemandem nehmen.» Natürlich müssten wir weniger und nachhaltiger produzieren, aber wir bräuchten nun mal Kleider, sagt der Unternehmer, der sich mit seiner Frau gerade mal einen ein-Meter-Ikea-Kleiderschrank teilt.
Von der Ökonomie-Professorin erhält er Rückendeckung: «Wir haben so viel Ramsch in unseren Häusern! Wenn wir das in Brockis verkaufen, ist das in erster Linie wachstumshemmend, kaum konsumfördernd», sagt Seidl.
2. LEIHEN mit «Pumpipumpe»
Lisa Ochsenbein ist Designerin und Erfinderin von «Pumpipumpe», eines Geschäfts, das nachbarschaftliches Teilen fördern soll. Das Prinzip ist simpel: Wer etwas zu verleihen hat – ob Bohrmaschine, Fondueset oder Zelt – klebt einen Sticker auf seinen Briefkasten. So weiss die Nachbarschaft, was man sich ausleihen kann, anstatt es selbst neu zu kaufen.
Die Inspiration dazu kam Ochsenbein vor über zehn Jahren nach ihrer Ausbildung zur Industriedesignerin. Sie stellte fest, dass in der Produktentwicklung vor allem auf Kostenoptimierung geachtet wird, nicht aber auf eine nachhaltige Nutzung. Eine Bohrmaschine wird im Durchschnitt gerade einmal elf bis dreizehn Minuten in ihrem gesamten Leben genutzt. In städtischen Gebieten gibt es solche Geräte im Überfluss – warum sie also nicht sichtbar machen und gemeinsam nutzen?
Heute beteiligen sich bereits über 25'000 Haushalte in Europa an «Pumpipumpe». Für sieben Franken bestellen sie einen Stickerbogen, bekleben ihren Briefkasten und teilen ihre Gegenstände mit der Nachbarschaft. Wie viele andere nachhaltige Projekte stösst jedoch auch dieses an systemische Grenzen: «Es ist das eine, ein Produkt auf den Markt zu bringen und zu verkaufen. Doch es ist etwas ganz anderes, mit disruptiven Ideen gegen etablierte Vertriebsstrukturen anzukommen», erzählt Ochsenbein. Wer Sharing-Konzepte etabliert, muss bestehende Geschäftsmodelle und Systeme grundlegend neu denken – eine Herausforderung, die Ochsenbein dennoch entschlossen angeht.
3. SCHENKEN mit «Will öpper»
Carla Opetnik ist die Initiantin der «Will öpper»-Gruppen auf Facebook, die landesweit in vielen Städten zehntausende User:innen zählen. Das Konzept ist simpel: Foto hochladen, Stadtkreis angeben, verschenken – und so wechseln tagtäglich unzählige Dinge kostenlos die Besitzer:in.
Ende 2021 wagte Opetnik den nächsten Schritt und startete ein Crowdfunding für eine unabhängige Verschenk-App. 22'494 Franken kamen zusammen – 380 Prozent des anvisierten Ziels. Und doch gibt es Anfang 2025 keine App. Was ist passiert?
Opetnik zeigt sich zuversichtlich, aber auch selbstkritisch: «Der erste Fehler war, lebenslange Mitgliedschaften zu vergeben, anstatt auf wiederkehrende Beiträge zu setzen.» Rund 400 Menschen investierten je mindestens 66 Franken in die Idee und sicherten sich so eine Lifetime-Mitgliedschaft. Das Geld floss in die Entwicklung eines Prototyps und da passierte der zweite Fehler: «Wir haben auf eine Firma gesetzt, die durch unvorhersehbare Hürden nicht das Versprochene geliefert hat.» Nun arbeitet einTeam aus Freiwilligen an der Entwicklung der App. Etwas langsamer, aber mit viel Herzblut, betont Opetnik. Gerade hat das Projekt, das «World of Plenty» (WOP), also «Welt des Überflusses», heisst, eine Begleitung des «Circular Economy Incubator» gewonnen.
Opetnik verspricht kein Launch-Datum, doch sie bleibt überzeugt: «Ich habe damals einen Traum verkauft, den nicht nur ich, sondern viele Menschen am liebsten gestern schon gehabt hätten. Und «früher oder später wird die App da sein», sagt die Unternehmerin.
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