Kafi Freitag: Sie will kein Leben ohne ADHS

Hat heute nicht jede:r ein bisschen ADHS? Ein Thema, das in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und dennoch stark stigmatisiert ist. Die Coachin Kafi Freitag lebt nicht nur selbst mit ADHS, sondern begleitet auch zahlreiche Menschen auf ihrem Weg mit dieser Spektrumsstörung.

Kafi Freitag
Die 49-Jährige gibt neben Coachings auch Keynotes, Workshops und Seminare für Unternehmen. (Bild: Anna Pfister)

Kafi Freitag ist Coachin und selbst von ADHS betroffen. Zurzeit sei die 49-Jährige zu diesem Thema besonders gefragt, erzählt sie – ADHS ist in aller Munde und könnte präsenter nicht sein. «Dass ADHS gerade einen Hype erlebt, ist geil», sagt Freitag mit einem breiten Lächeln. Diese Welle sei notwendig, um das Thema zu enttabuisieren. Freitag unterstützt ihre Klient:innen dabei, Strategien zu entwickeln, wie sie mit ihrem ADHS umgehen können, Ritalin richtig zu dosieren oder überhaupt erst zu erkennen, dass sie betroffen sind. «Ich schätze, 30 Prozent der Bevölkerung haben ADHS», bemerkt Freitag, die Augenbrauen hochgezogen.

Freitag wuchs in einem «Kaff» in Solothurn auf und zog mit 20 Jahren nach Zürich. Das Landleben sei ihr zu eng gewesen. Hier fühle sie sich zu Hause. Weitere 20 Jahre später, mit 40, erhielt Freitag ihre ADHS Diagnose – sehr spät, wie sie sagt, und verschränkt dabei die Arme. Schon immer habe sie gewusst, dass sie anders ticke. Bereits im Kindergarten habe sie nicht richtig hineingepasst. «Kein einfaches Gefühl, aber irgendwann habe ich mich entschieden, nicht mehr dazugehören zu wollen», erzählt Freitag. Diese Einstellung verdanke sie ihrem starken Charakter.

VNPLWnlbGGAkqrf
Zum Projekt

Gemeinsam mit unseren Partnermedien Hauptstadt und Bajour widmen wir uns diese Woche dem Thema ADHS, da die Diagnosen bei Kindern und Erwachsenen zunehmen. Es wird zwar mehr und transparenter darüber gesprochen als früher, dennoch bleibt Neurodiversität für viele ein Tabuthema. Drei Persönlichkeiten haben mit uns über ihre Diagnose gesprochen und darüber, wie diese ihr Leben verändert hat. Was bedeutet ADHS im Beruf und was im Privaten? Kafi Freitag, Daniel Graf, Patrick Karpiczenko, von allen Karpi genannt, geben Auskunft. Hast du auch Fragen an Sie? Dann maile uns gerne:

Melde dich hier

ADHS, IQ und Ressourcen

Für Betroffene seien drei Faktoren entscheidend, erklärt sie, während sie mit einem pinken Stift drei Linien auf ein leeres Blatt Papier zeichnet: die Ausprägung des ADHS-Spektrums, die kognitiven Fähigkeiten und die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Je nachdem würden diese Faktoren die Symptome kompensieren können. Vor allem bei Frauen sei es keine Seltenheit, dass das ADHS nicht oder erst spät erkannt werde.

Oft würden diese, die Energie in Strategien stecken, um gegen aussen nicht aufzufallen. «Ich habe 40 Jahre gelebt, ohne von meinem ADHS zu wissen. Aufgrund von Strategien, die ich entwickelt habe, hat es irgendwie funktioniert», sagt Freitag. Dass viele Menschen aufgrund des ADHS leiden oder den Platz in der Gesellschaft nicht finden, sei schade, sagt sie und legt den Stift sanft zur Seite.

Büro_KafiFreitag
Wie stark ADHS Betroffene die Symptome spüren, komme laut Kafi Freitag stark auf den IQ und die Ressourcen an. (Bild: Anna Pfister)

Ritalin als Krücke 

«Ritalin und alle anderen ADHS Medikamente, sind eine enorme Hilfe», betont Freitag. Sie möchte das Tabu, um die medikamentöse Behandlung von ADHS brechen. Oft habe sie mit Eltern zu tun, die ein negatives Bild von Ritalin haben. In ihren Coachings leiste sie daher viel Aufklärungsarbeit. «Kein Elternteil würde einem Kind mit Sehschwäche die Brille verweigern.» Medikation bei ADHS sei wie eine Krücke. Eltern, die ihrem Kind mit starkem ADHS kein Ritalin geben, erschweren dem Kind vieles, ist die Coachin überzeugt.

Selbst nimmt Freitag Ritalin in Mikrodosierungen ein und weiss genau, wann sie es braucht und wann nicht. Beim Erledigen von Bürokram etwa käme sie ohne Ritalin nicht voran. Es dauere jedoch, bis man die richtige Dosierung für sich gefunden habe, fügt sie hinzu, während ihr Blick durch ihr Büro schweift.

Büro_KafiFreitag
Neben Pflanzen, Bildern und Dekomaterial hat Freitag ein Trampolin im Büro. (Bild: Anna Pfister)

Der Raum im Kreis 2 ist voller Pflanzen, Bilder und Stehlampen, die eine ruhige Atmosphäre schaffen. Hier finden Freitags Coaching-Gespräche statt. Ein gelber und ein grüner Sessel stehen in der Ecke. «Der grüne ist meiner», sagt Freitag und zeigt mit dem Finger darauf. In den Coaching-Gesprächen tauche sie sofort tief ein, Smalltalk gebe es bei ihr nicht. «Ich bin überhaupt nicht gut im Smalltalk», lacht Freitag. Viele ihrer Klient:innen würden sie bereits aus dem Podcast «Kafi am Freitag», kennen, sodass oft schon eine Vertrauensbasis bestehe. «Die Klient:innen haben das Gefühl, mich bereits persönlich zu kennen», erzählt sie.

Büro_KafiFreitag
Hier finden Freitags Coachings statt. Die Klient:innen sitzen jeweils auf dem gelben Stuhl. (Bild: Anna Pfister)

Nur wer studiert wird ernst genommen

Auf die Frage, ob sie es bedauere, die ADHS-Diagnose erst im Erwachsenenalter erhalten zu haben, denkt Freitag mehrere Sekunden nach und senkt den Blick. Diese Frage sei schwer zu beantworten, meint sie. Ihr Lebensweg führte sie von einer KV-Lehre über eine Karriere als Finanzberaterin bei der UBS bis hin zur Anlageberaterin im Portfoliomanagement. Ein akademischer Weg sei für sie nicht infrage gekommen, da das klassische Lernen nicht zu ihr gepasst habe.

Wenn sie heute alte Lohnabrechnungen anschauen würde, spüre Freitag Trauer. Sie habe sich unter ihrem Wert verkauft, da ihr die Ausbildung dafür gefehlt habe. Freitag habe für die gleiche Arbeit nur halb so viel Lohn erhalten wie ihre Arbeitskolleg:innen. «Heute ist das komplett anders, ich verkaufe mich nicht und arbeite nicht mehr mit Arschlöchern zusammen.»

«Ich spüre einen Schmerz, wenn ich merke, dass ich aufgrund meiner fehlenden Titel nicht ernst genommen werde», gibt sie zu. Reaktionen wie «Jö, Coaching» habe Freitag schon öfter gehört. In unserer Gesellschaft brauche man einen akademischen Hintergrund, um in gewissen Kreisen ernst genommen zu werden.

Freitag lehnt sich nach vorne und nimmt einen Schluck Wasser. Sie liebe das Leben, das sie sich aufgebaut habe. Doch sie glaubt auch, dass manches einfacher wäre, wenn sie studiert hätte. Am Wissen liege es nicht, betont sie. Wenn sie einen sogenannten Hyperfokus auf ein Thema habe, vertiefe sie sich so sehr, dass ihr Wissen grösser sei als das von manchen Expert:innen. Bei Thema ADHS sei dies beispielsweise der Fall.

Ihr 20-jähriger Sohn hat diesen Sommer die Matura abgeschlossen. Freitag wirkt stolz, während sie über ihn spricht. Sie habe Freude an seiner Entwicklung und Persönlichkeit. Auch er habe ADHS, dank Ritalin die Schule geschafft und nun stünden ihm alle Türen offen. Das sei gut so.

Büro_KafiFreitag
Freitag liebt ihren Job. Das Coachen werde nie langweilig, da jeder Mensch eine andere Geschichte habe. (Bild: Anna Pfister)

Freitag wirkt bodenständig und unbescheiden zugleich. Sie wolle immer das Beste und verdiene es auch, sagt Freitag schmunzelnd. Es komme vor, dass Menschen sie als egoistisch einstufen, doch sie wisse einfach, was sie wolle und was nicht. «Das Leben ist extrem schön, und ich mache radikal, was mir Freude macht.» Menschen hätten oft das Gefühl, das Leben sei eine Hauptprobe, meint Freitag und schüttelt den Kopf. Dem sei aber nicht so. «Wir haben genau ein Leben, und das ist jetzt.»

«Das Leben ist extrem schön, und ich mache radikal, was mir Freude macht.»

Kafi Freitag
Kafi Freitag
Freitag bezeichnet sich selbst als unbescheiden, das sei ihre Lieblingscharaktereigenschaft. (Bild: Anna Pfister)

Ein Leben, das man mit oder ohne ADHS in vollen Zügen ausnutzen sollte. Denjenigen, denen es besonders schwerfällt, will Freitag mit ihrer Arbeit helfen – durch Coachings oder durch offenes darüber reden.

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Natürlich jederzeit kündbar.

Jetzt unterstützen!

Das könnte dich auch interessieren

Hamas-Dreieck
Sticker-Ticker

Das Hamas-Dreieck

Mit Stickern lassen sich Botschaften – mal lustig, mal frech, mal politisch – überall hin pappen. Manchmal versteckt sich dahinter aber eine ganz andere Bedeutung. Im Sticker-Ticker schauen wir genauer hin. Heute: das Hamas-Dreieck.

Von Lotta Maier*
Podcast Slides - Titelslide
Podcast Stadtgespräch: #9

Oben ohne im City-Hallenbad

In Zürich dürfen Frauen erste seit einem Jahr oben ohne ins Hallenbad – dank der GLP-Kantonsrätin Sandra Bienek. Ein Gespräch über Körper, Sommer und Feminismus.

Von Samantha Zaugg, Simon Jacoby
überfremdungsinitiative svp
Expertin im Interview

«Muslim:innen werden kollektiv verdächtigt, Täter:innen zu sein»

Antimuslimischer Rassismus hat in der Schweiz stark zugenommen. Nur werde darüber kaum berichtet, kritisiert Asmaa Dehbi von der Universität Fribourg.

Von Isabel Brun
Suchst du eine Wohnung in Zürich? Wir haben für dich die preiswertesten ausgesucht.

Bezahlbare Wohnungen in Zürich

Gerade mal 0,07 Prozent der Wohnungen in der Stadt Zürich standen letztes Jahr leer. Tausende Menschen auf Wohnungssuche spüren die prekäre Lage jeden Tag. Wir veröffentlichen hier täglich Wohnungen in Zürich, die vernünftige Mietpreise haben.

Von Anna Shao

Kommentare