«Jüdinnen und Juden werden aus linken Räumen herausgedrängt»

Am 8. Mai findet in Zürich die Veranstaltung zum Buch «Gojnormativität, warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen» statt. Ein Interview mit Co-Autorin Vivien Laumann und Mit-Organisatorin Kezia Seidenberg über das Jüdisch-Sein und linken Antisemitismus.

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Mit ihrem Buch «Gojnormativität» kommen Judith Coffey (links) und Vivien Laumann am 8. Mai nach Zürich. (Bild: Nane Diehl)

Das Wort «Goj» bezeichnet auf Hebräisch und Jiddisch einen nicht-jüdischen Menschen. Im Jahr 2021 haben die beiden in Berlin lebenden Autorinnen Judith Coffey und Vivien Laumann ein Buch mit dem Titel «Gojnormativität, warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen» veröffentlicht. Darin kritisierten sie insbesondere die undifferenzierte oder ganz fehlende Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus in linken Kreisen.

Am 8. Mai stellen sie ihr Buch nun auf Einladung des Kollektivs «Feministisch*Komplex» und des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog im Zollhaus vor.

Dominik Fischer: Was war der Auslöser für Sie und Ihre Co-Autorin Judith Coffey, dieses Buch zu schreiben?

Vivien Laumann: Wir haben ungefähr 2020 mit dem Schreiben begonnen, Judith Coffey und ich kannten uns schon länger. Anlass für das Buch war, dass wir schon lange unzufrieden waren damit, wie in Deutschland über Antisemitismus gesprochen wird. 

Können Sie das ausführen?

Oft wird Antisemitismus sehr abstrakt verhandelt und mit Bezug auf die Shoah und den Nationalsozialismus in der Vergangenheit verortet. So wird er selten als aktuelles Phänomen begriffen, von dem heute lebende Juden:Jüdinnen ganz akut betroffen sind.

Deren Erfahrungen werden viel zu selten berücksichtigt. Der andere ganz konkrete Grund war, dass wir kritisieren, wie in den linken und queer-feministischen Kreisen, in denen wir uns auch selbst verorten, Antisemitismus behandelt oder eben oft nicht behandelt wird. 

Wie sieht dieser Antisemitismus in linken Kreisen aus? 

Juden:Jüdinnen werden oft gar nicht als Teil dieser Kreise betrachtet. In Berlin zeigte sich das zum Beispiel an der Auseinandersetzung rund um die alternativen Christopher Street Days in Berlin. Dort waren vor einigen Jahren antisemitische Gruppen präsent.

Innerhalb der Bewegung gab es keine Positionierung dazu. Aber auch sonst gibt es oft es kein Mitdenken von Juden:Jüdinnen in queer-feministischen Zusammenhängen. Dadurch brechen die Räume für sie weg oder werden immer enger.

Nun hat das Kollektiv «Feministisch*Komplex» sie beide zu einem Gesprächsabend eingeladen – und bezieht damit jüdische Perspektiven mit ein.

Genau, darum haben wir uns über die Anfrage auch sehr gefreut. Es gab ja bereits zwei Anlässe, einen davon habe ich aus Berlin online verfolgt. Es ist super, dass dieses Kollektiv sich gegründet hat und zum Thema Antisemitismus arbeitet.

Wir freuen uns, in diesem Zusammenhang unser Buch nochmals vorzustellen und diskutieren zu können. Natürlich gibt es auch in Berlin ähnliche Kollektive, welche die Leerstelle Antisemitismus behandeln, aber es sind wenige. 

Wie waren die Rückmeldungen nach der Publikation von «Gojnormativität»? Hat sich diese in den letzten eineinhalb Jahren seit dem 07. Oktober nochmals verändert?  

Als das Buch erschienen ist, war die Rezeption insgesamt sehr positiv. Viele Juden:Jüdinnen haben sich dem Text wiedergefunden und konnten sich an unseren Analysen zum Thema Intersektionalität und dem Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus orientieren. Viele haben das Buch als «empowernd» empfunden.

Dann hat die Aufmerksamkeit abgenommen, das Werk ist schliesslich schon dreieinhalb Jahre alt. Seit dem 7. Oktober haben sich die Dynamiken, die wir damals schon beschrieben haben, dann weiter verschärft. 

Sie haben sich durch die Ereignisse und die Diskurse seit dem 7. Oktober in Ihrer Analyse also bestätigt gefühlt? 

Eigentlich beschreiben wir alles, was seitdem passiert ist, im Buch. Nur ist es total zugespitzt und hat sich potenziert. Natürlich konnten wir nicht antizipieren, was passieren würde. Aber die Dynamiken der Entsolidarisierung und das Herausdrängen von jüdischen Menschen aus linken Räumen sehen wir seit dem 7. Oktober sehr stark. 

«Ausserhalb von Israel sind alle Länder gojnormativ.»

Viven Laumann, Autorin

Sie beschreiben im Buch feministische Bündnisse, die es in den 80er- und 90er-Jahren gegeben hat. Was bräuchte es heute; auch in Bezug auf andere religiöse Gruppierungen? 

Es gab diese Bestrebungen der Solidarität und die gemeinsamen Kämpfe. Doch auch dort gab es oft Schwierigkeiten, die an der Frage von Antisemitismus entbrannt sind. Das ist natürlich bitter. Gleichwohl braucht es diese Bündnisse weiterhin, es geht nicht ohne einander.

Denn neben dem Antisemitismus von links und dem islamistischen Antisemitismus gibt es zugleich auch noch den klassischen Rechtsextremismus, der Juden:Jüdinnen, aber auch People of Color und andere marginalisierte Gruppen bedroht. Deswegen braucht es Bündnisse. Aber die zunehmende Polarisierung macht es nicht einfacher. 

Naiv gefragt: Wie kann Deutschland und auch die Schweiz weniger gojnormativ werden? 

Das ist eine sehr grosse und globale Frage. Man müsste natürlich auf sehr vielen Ebenen ansetzen, auf gesellschaftlicher, staatlicher und individueller Ebene. Es bräuchte ein permanentes Mitdenken von jüdischen Perspektiven und Positionierungen. Der erste Schritt wäre, überhaupt anzuerkennen, dass es Handlungsbedarf gibt. Und das fällt vielen schon total schwer. 

Dazu müsste man auch anerkennen, dass das Judentum in Europa und in Deutschland tief verwurzelt ist, nicht nur im 20. Jahrhundert, sondern auch in der Zeit davor. 

Ja, und der Grund dafür, dass das Judentum in Deutschland heute so unsichtbar ist, ist ja die Vernichtungsideologie der Nazis. Heute ist die jüdische Bevölkerung in Deutschland relativ klein, aber historisch gesehen hat sie einen signifikanten Teil davon ausgemacht. 

Auf welche Länder lässt sich der Begriff der Gojnormativität anwenden? 

Jedes Land hat seine eigene Geschichte, die man im spezifischen Kontext betrachten muss. Aber ausserhalb von Israel würde ich sagen, sind alle Länder gojnormativ.

«Juden und Jüdinnen als weiss und damit als privilegiert zu betrachten, halten wir für nicht richtig.»

Vivien Laumann, Autorin

Wie ist das Verhältnis des Begriffs Gojnormativität zum Begriff Antisemitismus? 

Oft werden wir gefragt, ob wir den Begriff des Antisemitismus durch unseren Begriff der Gojnormativität ersetzen wollen, das ist nicht der Fall. Antisemitismus ist ein Herrschaftsverhältnis und ein Welterklärungsmodell.

Den Begriff Gojnormativität haben wir in Analogie zum Begriff der Heteronormativität entwickelt, um das Verhältnis zwischen Juden:Jüdinnen und den gesellschaftlichen Strukturen fassen zu können. Es ist also eine Ergänzung und Spezifizierung, ersetzt den Begriff Antisemitismus jedoch keineswegs. 

Auch zum Verhältnis von Jüdisch-Sein und Weiss-Sein schreiben Sie. 

Ja, dazu gibt es ein Kapitel im Buch. Der Begriff «Weiss» kommt aus Debatten rund um Rassismus, um eine dominante beziehungsweise privilegierte Position sichtbar zu machen. Aber in die Gegenüberstellung von weiss und nicht-weiss lassen sich Juden:Jüdinnen oft nicht richtig einsortieren. Sie als weiss und damit als privilegiert zu betrachten, finden wir in Anbetracht der Geschichte Deutschlands mit der Verfolgung und Vernichtung von jüdischem Leben und dem noch immer massiven Alltags-Antisemitismus nicht richtig.

Diese Verkürzung von Juden:Jüdinnen als weiss und privilegiert findet man in antisemitischen Diskursen häufig wieder. Gleichzeitig trifft es auf einige jüdische Menschen  – insbesondere die säkularen – zu, dass sie auf der Strasse nicht direkt als solche zu erkennen sind. Deswegen haben wir diesen Begriff Goj vorgeschlagen, um zu differenzieren und die Intersektionalität mitzudenken. 

Seit dem 07. Oktober 2023 sind die israelische Politik und der Einmarsch in Gaza in aller Munde. Aber der öffentliche Diskurs tut sich häufig schwer damit, angemessen über diese Themen zu sprechen, woran liegt das? 

Warum soll es nicht möglich sein, über diese Themen und über Israel zu sprechen, solange man keine antisemitischen Bilder bedient? Das Problem ist aber, dass häufig eben doch antisemitische Bilder und Narrative verwendet werden. 

Also eigentlich wäre es gar nicht so schwierig, sagen Sie. 

Eigentlich nicht. Und wenn man dann hinschaut, woran das liegt, ist die Antwort doch häufig Antisemitismus. Meine Co-Autorin Judith Coffey und ich sind keine Nahost-Expertinnen und haben kein Buch über den Israel-Palästina-Konflikt geschrieben, sondern ein Buch über Antisemitismus in Deutschland. Das ist unser Fokus. Wenn aufgrund dessen, was in Israel politisch passiert, die Fallzahlen von Angriffen auf Juden:Jüdinnen in Deutschland massiv ansteigen, dann liegt das an Antisemitismus. Denn was haben diese mit israelischer Politik zu tun? 

Man sollte auch in der Lage sein, den Antisemitismus gegenüber jüdischen Menschen in Europa zu bedauern und ernst zu nehmen, unabhängig davon, wie man die aktuelle Situation in Israel und Palästina bewertet. 

Genau. 

Wie sehen Sie dem Abend in Zürich entgegen, was erwarten Sie sich? 

Wir freuen uns! Wir waren bisher mit dem Buch noch nicht in der Schweiz, deshalb ist es ein schöner Anlass, Judith und ich sind beide gespannt darauf, mehr über den Kontext Schweiz und Zürich zu erfahren und die Menschen hinter «Feministisch*Komplex» kennenzulernen.

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Kezia Seidenberg engagiert sich im Kollektiv «Feministisch*Komplex». (Bild: Dominik Fischer)

Das Kollektiv «Feministisch*Komplex» hat sich Ende 2023 als Antwort auf die Attacke vom 7. Oktober und den in der Folge zunehmenden Antisemitismus in der Schweiz gegründet. Die Lesung und das Gespräch vom 8. Mai wird die dritte Veranstaltung, die das Kollektiv organisiert. Kezia Seidenberg ist fast von Anfang an dabei.

Als jüdische Schweizerin hat sie die Zunahme des Antisemitismus in der Schweiz seit dem 7. Oktober miterlebt. Auch die von Judith Coffey und Vivien Laumann beschriebenen Schwierigkeiten innerhalb linker und queer-feministischer Kreise in Bezug auf das Thema Antisemitismus teilt sie.

Dominik Fischer: Wie ist der Kontakt zu den Autorinnen des Buchs «Gojnormativität»  zustande gekommen?

Kezia Seidenberg: Da die Autorinnen auch aus demselben Selbstverständnis von intersektionalem Queer-Feminismus über Antisemitismus sprechen, sind wir sehr interessiert daran, über diese gemeinsamen Anliegen zu sprechen. Deshalb haben wir gemeinsam mit der Plattform «not_your_bubble» und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) die Autorinnen für einen Anlass zu ihrem Buch angefragt.

Durch die Entwicklungen in der Schweiz in den queer-feministischen Räumen nach dem 7. Oktober hat sich aber die Bedeutsamkeit des Begriffs Gojnormativität nochmals deutlicher gezeigt.

Denn es ist ein Erklärungsversuch für die Diskriminierung- und Ausschlusserfahrungen, die so viele von uns auch in der Schweiz machen mussten und ein Lösungsvorschlag und ein Plädoyer für authentische Bündnisse.

Wie ist euer Kollektiv zustande gekommen?  Ich war bei der Gründung nicht dabei. Aber es war eine Antwort auf die Reaktionen, die der Angriff vom 7. Oktober Angriff in Europa und der Schweiz hervorgerufen hat. In dem Kollektiv sind jüdische, nichtjüdische und queere Menschen dabei und solche, die sich einfach feministisch einsetzen wollen.

Wir sind eine queer-feministische Gruppe, die universelle Solidarität zeigen möchte. Für mich ist das Kollektiv ein Ort, in dem ich mich als jüdische Person einbringen und wohlfühlen kann und mich verstanden fühle.

«Plötzlich fühlte ich mich nicht einmal mehr in linken Kreisen wohl dabei, dazu zu stehen, dass ich jüdisch bin.»  

Kezia Seidenberg vom Kollektiv «Feministisch*Komplex»

Dieses grosse Fragezeichen innerhalb linker Kreise zum Thema Antisemitismus ist auch Thema des Buchs. Wann bist du damit in Berührung gekommen?  

Ich habe das Buch erst im letzten Jahr gelesen, nachdem mich andere Mitglieder des Kollektivs darauf hingewiesen hatten. Es ist ein paar Jahre alt, aber man sieht, wie die im Buch besprochenen Themen und Strukturen wieder neue Relevanz haben.

Ich persönlich habe mich vor dem 7. Oktober nicht so viel mit Antisemitismus und dem jüdischen Leben in Europa auseinandergesetzt, es war ein Thema, das ich eher von mir weg geschoben habe. Auch, weil ich es oft als ein rein religiöses Thema angeschaut habe. Aber meine Herkunft besteht so wie sie ist, unabhängig von meiner Religiosität. Seit dem 7. Oktober war es dann gar nicht mehr möglich, meine eigene jüdische Herkunft zu ignorieren.

Im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, habe ich mich eher aufgrund von rechtem Antisemitismus unwohl gefühlt. Aber plötzlich fühlte ich mich nicht einmal mehr wohl dabei, in linken, eigentlich antirassistischen Kreisen dazuzustehen, dass ich jüdisch bin.

«Das Buch kann einen wichtigen Diskurs anstossen.»

Kezia Seidenberg vom Kollektiv «Feministisch*Komplex»

Moderieren wird die Veranstaltung am 8. Mai der Islamwissenschaftler Amir Dziri. Wie ist es dazu gekommen? 

Einige im Kollektiv waren schon an Anlässen dabei, an denen er beteiligt war. An einem davon ging es um jüdisches Leben in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, also ein Thema mit Parallelen. Wir finden, dass er für die Moderation zu diesem Thema sehr gut geeignet ist und sehr feinfühlig und differenziert darüber spricht. Und natürlich hat er seine eigene Perspektive darauf, nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein. 

Was erhofft ihr euch von der Lesung und der Diskussion? 

Wir hoffen, dass viele «Gojim», also nicht-jüdische Personen, an dem Abend dabei sein werden. Aber auch wenn viele Menschen mit jüdischem Hintergrund kommen, ist das sehr wertvoll. Denn das Buch kann einen wichtigen Diskurs anstossen.

Ich habe mich in dem Buch sehr oft wiedergefunden, es hat mir ganz viele Aha-Momente gegeben. Ich glaube, es kann auch anderen dabei helfen, in linken, feministischen und queeren Kreisen für sich einzustehen. 

Die Veranstaltung findet am 8. Mai von 19 bis 21 Uhr statt. Die Tickets für die Teilnahme vor Ort sind bereits ausverkauft, Tickets für den Livestream gibt es hier.

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