Islam Alijaj: «Meine Wähler:innen würden den unbehinderten Islam vielleicht nicht mögen»
Stadtzürcher SP-Politiker Islam Alijaj kandidiert im Herbst für den Nationalrat. Im Gespräch über seinen Wahlkampf nach amerikanischer Art wird deutlich: Wäre er nicht behindert, wäre er wohl bei der FDP gelandet.
Lara Blatter: Steve Jobs ist Ihr grosses Vorbild, wieso?
Islam Alijaj: Als Steve Jobs den «Apple I» sah, sah er die Zukunft und wusste, wie viele Möglichkeiten uns hiermit offen stehen. Das Gerät war quasi der erste Computer. Mit Wissenschaft und Technologie erschaffte Jobs Dinge, welche die Menschheit in die Zukunft führen. Grosser Tech-Konzern hin oder her, das Visionäre an Jobs spricht mich an. Zudem sehe ich auch Parallelen zwischen uns, wir sind beide sehr charismatisch.
Steve Jobs hat die Computerwelt revolutioniert und Sie wollen das Behindertenwesen revolutionieren und gar eines Tages im Bundesrat sitzen.
Mein Buch, das kürzlich erschienen ist, fängt mit dieser Vision an. Wenn ich eines Tages für den Bundesrat kandidieren würde, dann nur, damit festgehalten wird, dass einer wie ich angetreten ist: ein behinderter Mann, ein Zürcher Secondo mit kosovarischen Wurzeln und dem Namen Islam.
«Ohne Behinderung wäre er schon längst Nationalrat, oder gar nicht in der Politik, schon gar nicht bei der SP», sagt Filmemacher Francois Loriol über Sie in Ihrem Buch und bezeichnet Sie als «Wirtschaftsfuzzi».
Ja, da hat Francois vielleicht gar nicht so unrecht. Wäre ich nicht behindert, wäre ich wohl ein erfolgreicher, reicher Typ geworden, der vielleicht in der FDP wäre. Meine Wähler:innen und Untersützer:innen würden den unbehinderten Islam vielleicht nicht mögen.
Ehrliche Worte. Wieso sind Sie dennoch in der SP gelandet?
Es ist, wie es ist. Ich stecke in meinem behinderten Körper fest und kann ihn nicht ändern. Aber ich kann die Umwelt und die Gesellschaft ändern. Und diese Gedanken haben mich zur SP gebracht. Für mich war immer klar, dass ich zwei Optionen habe: Entweder fahre ich einen Egotrip oder ich stehe für die Sache ein und engagiere mich für eine inklusive Gesellschaft. Und diese kann nur eine Sozialdemokratie erreichen. Aber auch die SP ist ableistisch, es gibt noch viel zu tun.
Wie werden Sie innerhalb der Partei diskriminiert?
Das Bewusstsein für Diskriminierung ist in der SP im Vergleich zu anderen Parteien sehr wohl vorhanden, aber unbewusst passieren viele Dinge. Veranstaltungen sind selten rollstuhlgängig oder für Gehörlose konzipiert. Die Politiker:innen an den Spitzen sind alle nicht behindert und es gibt auch Parteimitglieder, die das nicht anders haben wollen. Ich hatte mal eine Genossin, die nicht daran glaubte, dass ich ein politisches Amt ausüben kann. Das ist ableistisch. In meiner täglichen Arbeit beweise ich nun das Gegenteil.
Sie haben eine Cerebralparese, weshalb Sie im Rollstuhl sitzen und eine Sprechbehinderung haben. Warum denken Sie, werden Sie von anderen Menschen unterschätzt?
Heute werde ich nicht mehr so unterschätzt wie früher. Man kennt mich mittlerweile, da ich schweizweit als Politiker und Aktivist unterwegs bin. Aber früher dachten viele aufgrund meiner Art, wie ich spreche, ich sei geistig behindert.
Das Bild von uns Behinderten in der Gesellschaft ist verzogen. Wir gelten als arme, hilflose Geschöpfe, die man versorgen muss. Man kann uns höchstens mit Guetzli backen, Briefe verpacken oder mit einfachen Holzarbeiten beschäftigen. In Machtpositionen sieht man uns Menschen mit Behinderungen nicht. Zudem glaube ich, dass wir Menschen ohne Behinderungen an ihre eigene Verwundbarkeit erinnern. Von einer Sekunde auf die nächste können sie auf der gleichen Stufe landen wie ich. Davor haben viele Angst.
«Nur mit einer Assistenz kann ich auf Augenhöhe mit den anderen Politiker:innen politisieren.»
Islam Alijaj über die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Mit der Inklusionsinitiative fordern Sie bessere Teilhabebedingungen für behinderte Menschen am gesellschaftlichen Leben. Was heisst das konkret?
Wir wollen in der Bundesverfassung dieselbe proaktive Formulierung, wie wenn es um Geschlechter geht. Menschen mit Behinderungen wollen selbst bestimmen können, wo und wie sie leben. Auch sind wir von diversen Bereichen ausgeschlossen, sei es in der Bildung, Kultur oder der Wirtschaft. Ein konkretes Beispiel, das mich ebenfalls betrifft, sind Assistenzen. Wir brauchen diese, damit wir berufliche oder politische Tätigkeiten ausüben können. Ohne Assistenz gelingt die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen nicht.
Im Februar 2022 wurden Sie in den Gemeinderat gewählt. Könnten Sie dort Ihren Beitrag auch ohne Assistenz leisten?
Nein. Damit sich meine Intelligenz entfalten kann, brauche ich Unterstützung. Klar, ich könnte es auch ohne meine Assistentinnen, aber nur mit einer Assistenz kann ich auf Augenhöhe mit den anderen Politiker:innen politisieren. Und darum geht es. Ich bin ein vom Volk gewählter Vertreter. Punkt. Ich muss das Amt ausüben können. Da muss kein:e Sachbearbeiter:in der IV oder einer anderen Stelle meinen, ich sei zu aufwändig.
Für was brauchen Sie Ihre Assistentinnen?
Meine Assistentinnen verfassen Mails, helfen mir im ÖV oder lesen im Gemeinderat meine Voten vor. Sie machen mein Engagement überhaupt erst möglich. Mein Körper alleine könnte die politische Arbeit nicht bewältigen, mein Kopf schon. Als Politiker, Vater und Unternehmer brauche ich pro Monat minimum 220 Stunden an Unterstützung. Und diese finanziert zu bekommen, war ein grosser politischer Kampf. Denn es ist ein riesiger Flickenteppich. Die Zeit hätte ich lieber in die Arbeit im Gemeinderat investiert.
Befürchten Sie manchmal, dass Sie wegen des grossen Aufwands Ihr Amt niederlegen müssen?
Jeden Tag. Aber Aufgeben ist keine Option, denn dann kommen die Leute und meinen: «Ich habe es immer gesagt, so einer wie du kann nicht in die Politik.» Darum zwinge ich meinen Körper und nehme viel in Kauf. Das letzte Jahr war sehr streng und körperlich zahle ich nun den Preis: Ich habe öfter Schmerzen und die Spastiken nehmen zu. Es frisst mich manchmal auf, aber ich muss zeigen, wie eine inklusive Gesellschaft aussehen könnte, damit es die Menschen glauben. Mein Ziel war immer der Nationalrat und nun ist dieses Ziel in Griffnähe. Ich spüre es.
Warum sind Sie so ehrgeizig?
Meine politische Karriere ist mir scheissegal. Es geht nicht um mich, es geht um ganz viele Menschen mit Behinderungen. Sie haben Hoffnungen und wollen dazugehören.
Das klingt alles sehr anstrengend, macht Ihnen Politik auch Spass?
Die Politik ist für mich der Schlüssel für eine inklusive Gesellschaft. Diesen Umweg musste ich gehen. Aber natürlich mache ich es auch gerne, sonst würde ich ausbrennen. Und ich bin offenbar ja auch ein guter Politiker. Du musst mit den Leuten sprechen können, sie abholen und für Ideen gewinnen – das kann ich.
Das biografische Manifest, wie Sie Ihr Buch nennen, bedient sich einer sehr pathetischen Sprache. Sie haben zudem einen Podcast und auch Ihr Auftritt im Internet ist sehr proaktiv – Sie rasen mit Ihrem Kopf durch eine rote Wand. Alles Wahlkampf?
Ja. Ich will einen amerikanischen Wahlkampf führen. Bereits 2019 kandidierte ich als Nationalrat. Nebst dem Fakt, dass mich rund 62’400 Menschen gewählt haben, haben mich auch etwa 8000 aktiv von der Liste gestrichen. Vielleicht, weil ich behindert bin oder wegen meines Namen. Ich weiss es nicht. Für mich war klar: Ich kann nicht hoffen und auf einen klassischen Wahlkampf setzen, da gehe ich unter. Und Schweizer Wahlkämpfe sind auch sehr langweilig. Die Amerikaner:innen machen crazy Sachen, darum passt das zu mir. Sollen die Leute denken, was sie wollen. Und ausserdem: Alle US-Präsidentschaftskandidat:innen haben ein Buch – darum brauche ich auch eines.
«Im Behindertenwesen sind Menschen mit Behinderungen das Produkt, nicht die Kund:innen.»
Islam Alijaj
Darin heisst es, dass Sie sich früher auch selbst viel kleiner machten, als Sie sind. Sie sprachen lange nicht und waren schulisch unterfordert.
Ich unterschätzte mich selbst und sah oft keinen Sinn in meinem Leben. Lange Zeit habe ich geschwiegen, weil ich mich schämte. Ich dachte, so ist mein Leben jetzt: Ich existiere zwar, aber niemanden interessiert es. Aber ich habe es geschafft, meine Karten neu zu mischen.
Inwiefern?
Ich machte eine KV-Ausbildung in der Brunau-Stiftung. Nach der Lehre wollte ich die Berufsmaturität nachholen und Wirtschaft studieren. Weder die Stiftung noch die Invalidenversicherung glaubten daran, dass ich im ersten Arbeitsmarkt eine Chance hätte. Und da begriff ich: Man will mich im System behalten. Im Behindertenwesen sind Menschen mit Behinderungen das eigentliche Produkt und nicht die Kund:innen.
Wie meinen Sie das konkret?
Ohne uns Menschen mit Behinderungen fliesst kein Geld. Unser System ist so aufgebaut, dass Heime und Institutionen Menschen integrieren sollen. Sie erhalten Geld, wenn sie Menschen mit Behinderungen platzieren. Das führt zu finanziellen Fehlanreizen, denn so haben sie kein Interesse daran, dass Menschen mit Behinderungen auf eigenen Beinen stehen oder im ersten Arbeitsmarkt einen Job finden. Diese Fehlanreize verunmöglichen oft die Integration.
Was braucht es Ihrer Meinung nach, dass sich das ändert?
Wir müssen nichts Neues erfinden, nur endlich bestehende Gesetze umsetzen. Das Behindertenwesen müssen wir so umkrempeln, dass die UNO Behindertenkonventionen endlich umgesetzt werden kann. Dafür kämpfe ich und stelle deshalb auch unsere Invalidenversicherung infrage. Allein schon der Begriff invalid ist problematisch. Gibt es gültige und ungültige Menschen?
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In dieser Debatte stehen auch immer wieder Sonderschulen versus integrative Schulen im Fokus. Kürzlich hiess es in der NZZ etwa, dass aufgrund des Fachkräftemangels das Konzept der integrativen Schule in der Krise stecke. Lehrer:innen sowie Schüler:innen seien überfordert. Wie sehen Sie das?
Den Fachkräftemangel bekämpfen wir nicht, wenn wir die integrative Schule abschaffen. Ich bin Realist: Momentan geht der Trend eher in eine andere Richtung. In der Bildungspolitik stehen wir behinderten Menschen ganz hinten an. Anstatt den Fachkräftemangel in seinen Wurzeln zu bekämpfen, baut man da ab, wo es am wenigsten Widerstand gibt und fördert so eine Zweiklassengesellschaft. Aus diesem Grund sollten Sonderschulen abgeschafft werden. Ich bin der Überzeugung, dass wenn Schulen inklusiver arbeiten, wachsen Kinder mit einem anderen Gedankengut auf.
Heute sind Sie verheiratet und haben zwei Kinder. Haben Sie Respekt vor dem Moment, wo ihre Kinder merken, dass ihr Vater «anders» ist als die Mehrheitsgesellschaft?
Diese Momente sind bereits gekommen. Als meine Kinder noch kleiner waren, war alles selbstverständlich und normal. Langsam merken sie, dass da doch etwas ist. Noch finden sie ihren Vater und seine Arbeit als Politiker cool. Aber es werden Momente kommen, wo die Meinungen der Aussenwelt auf sie prallen. Doch sie sind eigenständige Wesen und werden für ihren Vater und ganz viele andere Menschen einstehen.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihren eigenen Wandel sehr eindrücklich, ohne Vorurteile gegenüber dem Kosova zu reproduzieren. Sie sagen, wären Sie nicht in Zürich erwachsen geworden, wären Sie ein anderer Islam Alijaj. Wie hat die Stadt Sie geprägt?
Zürich hat mich gelehrt, weltoffen zu sein und nicht zu bewerten. Als ich angefangen habe, mich mit Politik zu beschäftigen, habe ich realisiert, wie verschiedene Diskriminierungsformen zusammenspielen. Ich bin behindert und habe einen Migrationshintergrund, aber was wäre, wenn ich noch dazu schwul, weiblich, schwarz oder queer wäre? Dieses Denken habe ich von Zürich gelernt. Die Stadt ist leistungsorientiert und gleichzeitig offen für andere Lebensformen und Kulturen. Mein Charakter und Zürich passen wie die Faust aufs Auge – ich gehöre hierhin.