«Ich musste lernen, loszulassen»
Kommende Woche findet in Zürich das Literaturfestival «Die Rahmenhandlung» statt. Im Vorfeld haben sich die beteiligten Schriftsteller*innen, Autor*innen und Journalist*innen gegenseitig interviewt. In einer Mini-Serie veröffentlichen wir ab heute einige der gesammelten Texte. Schriftstellerin Seraina Kobler wurde von Dvora Ben-Haim interviewt und Journalist Alex Flach von Sänger Michael Wäckerlin alias The Human Jukebox.
Zeiten wie diese bringen einen dazu, Veranstaltungen neu und anders zu denken. Alon Renner zum Beispiel, führt in seinem Haus in Zürich kommende Woche ein Literaturfestival durch, an dem unter anderem die Schriftsteller*innen Seraina Kobler, Romana Ganzoni, Sunil Mann sowie die Journalist*innen Simone Meier, Alex Flach und Anna Rosenwasser Texte vorlesen werden. Pro Veranstaltung werden nur 40 Besucher zugelassen, die zu Beginn in vier Gruppen eingeteilt und jeweils von Zimmer zu Zimmer wandern werden.
Im Vorfeld dieser Veranstaltung haben sich die Beteiligten gegenseitig interviewt. Tsüri.ch veröffentlicht eine kleine Auswahl der gesammelten Texte. Schriftstellerin und Journalistin Seraina Kobler wurde von Dvora Ben-Haim interviewt und Journalist Alex Flach von Sänger Michael Wäckerlin alias The Human Jukebox.
Dvora Ben-Haim: Du warst viele Jahre lang Journalistin, zuletzt im Inland-Ressort der NZZ. Was hat dich dazu bewogen, die warme Redaktionsstube zu verlassen?
Seraina Kobler: Da spielten verschiedene Faktoren eine Rolle. Einerseits war bei der Zeitung alles im Umbruch. Mein geschätzter Chef verliess das Haus. Andererseits war ich privat mit einer sehr schwierigen Situation konfrontiert. Je mehr Luft mir diese raubte, umso dringender wurde das Bedürfnis, zu schreiben. Irgendwann, das war im Wochenbett mit meinem vierten Kind, habe ich einfach begonnen. Kurz vor Mitternacht habe ich die Kurzgeschichte dann bei einem Wettbewerb eingeschickt. Fünf Minuten vor Ablauf der Frist.
Und dann?
Die Geschichte hat tatsächlich gewonnen. Danach war klar: Ich wollte unbedingt weitermachen. Es hat dann jedoch ziemlich gedauert, bis ich wieder zur ursprünglichen Leichtigkeit zurückgefunden habe. Ich weiss nicht, ob das ein spezifisch weibliches Phänomen ist. Aber statt einfach zu schreiben habe ich einen Studiengang dafür absolviert und zahlreiche Ratgeber gelesen. Weil ich mich nicht kompetent genug fühlte. Nach zehn Jahren Journalismus. Das lustige daran, je mehr ich mich mit dem Schreiben beschäftigte, umso schwerer fiel mir das Schreiben.
Dennoch veröffentlichst du bald dein Erstlingswerk «Regenschatten». Wie bist du dann schlussendlich auf die Idee für den Roman gekommen?
Ganz ehrlich? Zuerst mal gar nicht. Ich hatte drei verschiedene Projekte begonnen und jedes Mal war nach 50 Seiten fertig. Letztendlich hat es dann funktioniert wie in der Medizin: Nach dem Ausschlussverfahren. Vielleicht war aber auch genau das der einzige Weg, der zur Handlung führen konnte.
Ist es also doch kein Klischee, dass Frauen mehr Mühe damit haben «Bücher mit Handlung» zu schreiben?
Ich kenne zahlreiche Beispiele, die das Gegenteil beweisen. Aber tatsächlich kämpfte ich am Anfang damit, aus all den Reflexionen, Betrachtungen und Beobachtungen eine Geschichte zu bauen. Ein starkes Thema hatte ich mit der Megadürre und einer ungeplanten Schwangerschaft ja schon. Je mehr ich versuchte, künstlich einen Plot zu planen, umso schlechter wurde es. Ich musste lernen, loszulassen. Dann habe ich mich nochmals stark mit den Figuren beschäftigt. Eine ausführliche Anamnese gemacht. Sie die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählen lassen. So habe ich nochmals ein ganz neues Gefühl für sie bekommen.
Was war die überraschendste Sache, die du beim Schreiben deines Buches gelernt hast?
Geschrieben habe ich ja schon immer. Der ursprüngliche Auslöser dafür, in die Fiktion zu wechseln, war ein persönlicher Schicksalsschlag. Eine Ungerechtigkeit, die mein Weltbild eine ganze Weile lang auf den Kopf stellte. Eines Tages habe ich mich morgens im Spiegel angesehen. Die Geschichte begann, sich in meinem Gesicht zu manifestieren. Da habe ich angefangen. Und je mehr ich zu Papier brachte, umso klarer sah ich: Das war nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte. Das befreiendste überhaupt war das Löschen. All die sinnlosen Seiten, die ich schreiben musste, um auf das zu kommen, was ich eigentlich sagen wollte. Irgendwann begann sich das zu verselbstständigen. Und was am Ende stehen blieb, dass war dann wirklich Fiktion.
Mit welchen Themen setzt du dich als Schriftstellerin auseinander? Und dürfen wir eine solche Auseinandersetzung auch in denjenigen Texten erwarten, die du während «Der Rahmenhandlung» vorliest?
Zeit und Vergänglichkeit sind zwei Dinge, die mich beschäftigen. Vielleicht sind sie die stärksten Treiber überhaupt. Zumindest literarisch betrachtet. Deshalb wird es auch in der Geschichte, die ich lesen werde, um einen Ort gehen, an dem keine Zeit existiert.
Auf welche Vorlesung «Der Rahmenhandlung» freust du dich besonders? Und warum?
Dvora, das ist wie wenn du fragen würdest: Welches deiner Kinder magst du am liebsten? :-) Ich freue mich auf alle! Und auf einen Gin Tonic at 5 o’clock mit ihnen (inklusive Sunil Mann) nach den Lesungen.
Michael Wäckerlin alias The Human Jukebox: Du bist bekannt als Journalist, Kolumnist und als «Mediensprecher» einiger namhafter Clubs und des Nachtlebens per se. Doch wer ist Alex Flach wirklich?
Alex Flach: Ein sehr emotionaler Mensch, dem seine Emotionalität auch immer wieder mal einen Stock zwischen die Beine wirft. Ein Mensch, der zwar gerne ausgeht, der aber auch sein Gewissen ständig ausgleichen muss: Auf einen Absturz folgt eine Wanderung, auf eine ungesunde Nacht mit zu viel Alkohol was Selbstgekochtes mit Fisch und Gemüse. Vielleicht ist es diese Tendenz zu Extremen, kombiniert mit dem Bedürfnis nach einer ausgeglichenen Bilanz, die es mir verunmöglicht, einem Job bei einer Bank oder einer Versicherung nachzugehen, wie man es von einem Ökonomen eigentlich «erwartet». Handkehrum ist es wohl auch ebendiese Emotionalität, die mir mein Schreibtalent geschenkt hat.
Du hast deine Hobbys und Passionen zu deinem heutigen Beruf gemacht. Wann und wie hast du bemerkt, dass dein «altes» Leben so nicht weitergehen konnte?
Als ich bereits am Sonntagmittag, wegen der bevorstehenden montagmorgendlichen Hinfahrt zum Bürostuhl bei der Versicherung, den Seelenkoller gekriegt habe. Gegen Ende war es ein Gefühl, als ob eine Hand mein Herz umklammert und irgendwann konnte ich einfach nicht mehr am Montagmorgen in diesen Job zurückkehren. Das war nicht mein Leben und schon gar nicht meine Zukunft.
Wegen der Coronakrise hat die Event- und Clubbranche sowie das Nachtleben in der Schweiz seit Mitte März dieses Jahres eine sehr harte und schwierige Zeit. Wie hast du die Zeit als Mr. Nightlife erlebt? Und hat sich deine Arbeit dadurch verändert, wenn ja, wie?
Ich habe momentan keinen Job: Meine Clubkunden verdienen ja auch nichts, also kann ich ihnen ebenfalls keine Rechnungen stellen. Alles in allem ist das Verhalten der Tagespresse, eines Grossteils der Politik und des Gros der Öffentlichkeit dem Nachtleben gegenüber eine Schande: Keine 2 Prozent aller Ansteckungen (gemäss BAG) haben seit der Lockerung im Schweizer Nachtleben stattgefunden. Und trotzdem gelten die Clubs als der Virensumpf schlechthin: Hier wird eine ganze Branche aufgrund irgendwelcher Annahmen, es könnte ja irgendwann irgendwas geschehen, zerstört. Es ist dumm, beschämend und höchst verstörend.
Darf man als «Mediensprecher» des Zürcher Nachtlebens seine eigene Meinung äussern oder reibt sich das mit den Clubs die man vertritt?
Solange die Clubs, für die ich die Kommunikation mache, im entsprechenden Beitrag nicht erwähnt werden... klar. Und sowieso: Ich bin ja auch noch Chefredaktor der DRINKS Schweiz, des offiziellen Organs der Schweizer Barkeeper Union SBU. Sonst lasse ich mich einfach mit dieser Funktion ausweisen. Ich spreche während der Krise ausschliesslich für mich und somit kann ich auch alles sagen.
Aufgrund deiner journalistischen Tätigkeit und auch dank deiner Arbeit als Kolumnist beim Tages Anzeiger bist du jetzt einer der Teilnehmer des Literaturfestivals «Die Rahmenhandlung» in Zürich. Wie ist es dazu gekommen? Und was dürfen wir von dir erwarten respektive was werden wir von dir vorgelesen bekommen?
Alon Renner, dem Veranstalter, gefällt mein Schreibstil, also hat er mich angefragt. Ist jetzt wohl nicht die aufregendste Antwort... ich adaptiere die Maske des Roten Todes von Edgar Allan Poe und lege die Geschichte auf die Coronakrise um. Wird etwas pietätlos und wohl nichts für Gemüter, die sich allzu schnell empören.
Hast du einen bestimmen Antrieb oder eine bestimme Emotion, die dich in den Schreibmodus versetzt? Und ist Schreiben für dich ein seelischer und/oder mentaler Reinigungsprozess?
Ich liebe es, an einzelnen Sätzen zu feilen. Ist sehr von der Tagesform abhängig: Manchmal bastle ich an einem Satz eine halbe Stunde und ein andermal benötige ich für einen ganzen Text nur 30 Minuten. Die Schreiblust kommt und geht, ganz so wie's ihr passt. Ein bisschen Zeitdruck hat bei mir auch noch nie geschadet.
Welche literarischen und journalistischen Vorbilder begleiten deinen Werdegang? Hat dich jemals ein Schriftstück zum Weinen gebracht oder dich so beeinflusst, dass du einen Teil deines Lebens bewusst verändert hast?
Meine Kindheit war diesbezüglich höchst durchschnittlich: Karl May und Stephen King. Nein... leider! nein: Auch heute noch kann es vorkommen, dass ich bei guten Filmen oder bestimmten klassischen Stücken heule wie ein Schlosshund. Beim Lesen gab's das noch nie... gefesselt, bezaubert, verstört, überrascht, beeindruckt... aber noch nie weinerlich. Schade. Aber vielleicht habe ich auch immer die falschen Bücher gelesen.
Auf wen dürfen wir uns sonst noch an deinen Leseabenden freuen? Auf wen freust du dich ganz besonders?
Auf Zsu Zsu Sonderegger, die wandelnde Enzyklopädie. Die Allgemeinbildung dieser Frau bewegt sich in überaus beeindruckenden Gefilden...
Welche waren deine letzten persönlichen Erfolgserlebnisse in Beruf und Privatleben?
Dass der Öffentlichkeit schlagartig klar geworden ist, dass die Virenschleudern nicht im Club tanzen, sondern am Familientisch essen und Monopoly spielen. Recht zu kriegen und das erst noch mit einer Portion Schadenfreude kombinieren zu können... gibt nicht viel Schöneres.
Und zum Schluss: googlest du dich manchmal auch selber?
Gibt es jemanden, der ganz ehrlich von sich selbst behaupten kann, das nie zu tun?
<div style="background-color:#3dafe8;color:white;font-weight:bold;padding:10px"> Literaturfestival «Die Rahmenhandlung»</div> <div style="font-size:18px;padding:10px;background-color:#dddddd"> Vom 27. bis 30. August findet in Zürich das Literaturfestival <a href="https://www.dierahmenhandlung.com/?author=1950"target="_blank">«Die Rahmenhandlung»</a> statt. Gastgeber Alon Renner lädt dafür in seine Villa ein – wo genau, erfahren die Gäste erst zu Beginn der Veranstaltung. Es machen mit: <br/> <br/> - Schriftsteller Sunil Mann <br/> - Schriftstellerin und Journalistin Seraina Kobler <br/> - Schriftstellerin Romana Ganzoni <br/> - Journalistin und Aktivistin Anna Rosenwasser <br/> - Journalistin Andrea Keller <br/> - Journalistin und Schriftstellerin Simone Meier <br/> - Journalist und Nachtschwärmer Alex Flach <br/> - DJ Zsuzsu <br/> - Autorin Tanja Kummer <br/> - Sänger Michael Wäckerlin alias The Human Jukebox <br/> - Schriftstellerin und Musikerin Amaris Wen <br/> - Barbara Schwitter <br/> - Judith Shoukier <br/> - Christine Schwitter-Müller <br/> - Dvora Ben-Haim <br/> - Gastgeber Alon Renner
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