Hip, tätowiert und braungebrannt – eine Subkultur auf zwei Rädern

Zum zweiten Mal findet die Velokurier-WM in Zürich statt. Die Szene ist international und das Kurier:innen-Dasein geht weit über ihren Job hinaus. Es geht um Zugehörigkeit, Spass und Anarchie.

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Simone lernte durch seine Freundin überhaupt erst Velofahren. (Bild: Noëmi Laux)

Roli fällt schon von Weitem auf. Die pinken Haare glänzen in der Sonne, während Roli am Food Corner ansteht und auf sein:ihr Bier wartet. Dass hier Velobegeisterte zusammenkommen, wird schon vor dem Eingang deutlich: Velos so weit das Auge reicht. Sie liegen auf der Wiese, sind an den Zäunen angekettet, reichen bis zur Strasse, wo sie an den Schildern angelehnt sind. 

Heute jedoch mischt sich auf der Velorennbahn in Oerlikon unter das übliche Rennvelo-Volk eine neue Spezies: Velokurier:innen. Und sie sind unverkennbar; braungebrannt, tätowiert, der Helm bleibt auf dem Kopf, selbst beim Essen. Darunter eine Cap und bunte Karabinerhaken hängen an ihren Rucksäcken. Coolness-Faktor: 10 von 10. Zwei Tage vor der Velokurier-Weltmeisterschaft trifft man sich in Oerlikon zum «Warm-Up», einem gemütlichen Zusammenkommen und Austausch, während auf der Bahn die Rennvelos ihre Kreise ziehen. Zum zweiten Mal findet die Velokurier-WM in Zürich statt, zuletzt 1999.

Für die Kurier:innen, die hier zusammenkommen, ist das Holen und Bringen mehr als ein Job. Sie bezeichnen sich als «Messenger-Family», was sie verbindet, ist die Liebe zum Velofahren und der Freigeist, sagt Roli. Roli mit den pinken Haaren ist mittlerweile mit einem neuen Bier zurück am Tisch. 

Viele Velokurier:innen hätten sich bewusst gegen einen Bürojob entschieden. «Wir sind alle sehr individualistisch.» Auch Roli schmiss vor knapp 30 Jahren das Jus-Studium und stieg auf den Velosattel um. «Es hat mich einfach gepackt, viel mehr als das Studium.» Statt den Jus-Abschluss hat die 52-jährige Person fast 30 Jahre Erfahrung im Holen und Bringen. Später holte Roli ein Kommunikationsstudium nach und machte sich als Finanzberater:in selbstständig. Doch vom Velokurieren kam Roli nie weg: «Auch heute bin ich noch mehrmals die Woche für den Veloblitz auf dem Sattel unterwegs.»

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Carla und Roli sind ein eingespieltes Team – sie gehören seit Jahren zur Szene. (Bild: Noëmi Laux)

Tätowiert, braungebrannt und hip

Es ist schwierig, die Faszination dieser Szene zu greifen, wenn man nicht selbst Teil davon ist. Carla erklärt es so: «Das ist ähnlich wie bei anderen Subkulturen: Je länger man dabei ist, umso schwieriger kommt man wieder weg.» Carla sitzt mit am Tisch und gehört gemeinsam mit Roli zu den Hauptorganisator:innen der diesjährigen WM. 

Sie kam vor mehr als zwölf Jahren, ursprünglich für eine Vertretung von drei Monaten, ins Velokurier-Business. «Es zieht einen rein wie ein Sog», sagt sie. Den ganzen Tag auf dem Velo unterwegs zu sein, die Stadt von allen Seiten und Ecken zu entdecken und dafür auch noch bezahlt zu werden, sei einzigartig. Von «purer Freiheit» spricht sie. 

Dass die Szene häufig in die Hipster-Schublade geschoben wird, stört die beiden nicht: «Wenn das dazu führt, dass mehr Menschen aufs Velo umsteigen, ist das völlig okay», sagt Roli. Dennoch hält Carla fest: «Zuerst gab es die Kurier:innen, dann kamen die Hipster.» Viele Modeelemente, wie etwa die Karabinerhaken oder die hochgekrempelte Hose seien zuerst bei den Kurier:innen gewesen und dann von anderen Subkulturen kopiert worden. Auch das Zürcher Modelabel «FREITAG» hätte dazu beigetragen, dass der Kurier-Style zur Popkultur wurde. Die Bauch- und Umhängetaschen aus Blachen sind häufig an den Kurier:innen zu sehen, die in Zürichs Strassen vorbeirauschen.

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Typisch Kurier: Tätowiert, hip und durchtrainiert. (Bild: Noëmi Laux)

Roli und die 41-jährige Carla gehören zur älteren Generation. Die meisten Berufskolleg:innen studieren, oder stehen am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn. In den 90er-Jahren sei die Szene weniger divers gewesen. «Früher waren die meisten Kuriere Männer, es gab nur vereinzelt FLINTA-Personen», erinnert sich Roli zurück. (Anm. der Red.: FLINTA steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen)

Auch ihrem offenen und toleranten Ruf wurde die Szene nicht immer gerecht. Roli nahm eine Zeit lang nicht an internationalen Events teil, weil männlich gelesene Personen angefeindet wurden, weil sie Röcke trugen. Heute gibt es an vielen Anlässen Achtsamkeitsteams, die sich um das Wohlbefinden der Kurier:innen kümmern. «Menschen, die nicht ins klassische Rollenbild passen, sind besser integriert.»  

Der Anspruch auf Perfektion

Als gute:r Velokurier:in komme es vor allem auf zwei Dinge an: Schnelligkeit und kombiniertes Denken. Fähigkeiten, die am Hauptrennen am Sonntag geprüft werden. Wer dort startet, muss möglichst rasch verschiedene Sendungen bei fiktiven Firmen abholen und ans Ziel bringen. Dabei geht es nicht nur um Tempo. Entscheidend ist, die verschiedenen Aufgaben möglichst zeitsparend und geschickt zu kombinieren.

Neben dem Wettkampf geht es den rund 800 Teilnehmer:innen aus aller Welt vor allem auch darum, Spass zu haben und gemeinsame Zeit zu verbringen. Auf dem Programm stehen unter anderem eine gemeinsame Velofahrt von Winterthur nach Zürich, Stadtführungen, ein Bad im See, ein Pedalorennen, etliche Partys und zig Workshops.

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So stehen sie da: Kurier:innen aus Bogota tauschen sich aus. (Bild: Noëmi Laux)

Als 1999 die WM erstmals in Zürich stattfand, war Roli für die Medienarbeit verantwortlich und begleitete die Planung damals schon eng. Das Event sei ein voller Erfolg gewesen, erinnert sich Roli zurück. Nicht zuletzt, weil die rund 700 Kurier:innen ein Rundum-sorglos-Paket angeboten bekamen. Sie mussten sich weder um die Verpflegung noch um eine Unterkunft kümmern, lediglich die Anreise war von den Gäst:innen zu organisieren. 

Der Druck, wieder ein derart reibungsloses Event auf die Beine zu stellen, ist gross. «Wir haben einen Plan und bis jetzt läuft alles mehr oder weniger so wie es soll», sagt Roli nach kurzem Überlegen. Am Ende könne man bei einer so grossen Veranstaltung aber ohnehin nicht alle möglichen Stolpersteine mit Sicherheit umgehen, «was jetzt noch passiert, lassen wir deshalb auf uns zukommen». 

Liebe durchs Velo

Simone und Arianna aus Italien stehen mit Berufskolleg:innen aus Bogota zusammen und besprechen, wie sie zum Abendessen und zur anschliessenden Party kommen. «Ich mag die Szene, weil sie etwas Anarchisches hat», sagt Arianna und setzt ihren Helm auf. «Wir sind alle Freigeister, das verbindet.» 

Ihr Partner Simone kam durch sie in die Szene. Bevor sich die beiden im letzten Jahr kennenlernten, konnte Simone noch nicht einmal Velofahren. «Und jetzt bin ich schon an der Weltmeisterschaft», sagt er und lacht. Arianna ergänzt: «Ich habe gleich beim ersten Date klargemacht, wenn das was werden soll mit uns, musst du Velofahren lernen.» Arianna brachte ihm das Fahren bei, zunächst auf einem Tandem, bis er selbst die Balance halten konnte.

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Arianna und Simone sind ein Paar, und beide in der Kurier-Szene. (Bild: Noëmi Laux)

Am Rand der Rennbahn steht ein junger Mann und schaut das Rennen. Mit den Karabinern an der Hüfte und der Velo-Cap, die unter dem Helm zum Vorschein kommt, ist klar, auch er gehört zur Szene. Robert kommt aus Ungarn und arbeitet als Kurier für UberEats. Am Wettkampf nimmt der 27-Jährige diesmal nicht teil. Er begleitet die Meisterschaft als Fotograf und kümmert sich um die Medienarbeit. «Ich durfte letztes Jahr an der Europameisterschaft in Lissabon teilnehmen», sagt er. Diesmal wolle er im Hintergrund arbeiten und der Szene so etwas zurückgeben. Auf die Frage, weshalb er dennoch in Vollmontur hier steht, muss Robert lachen: «Das gehört eben dazu.» 

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Robert aus Ungarn nimmt nicht am Wettkampf teil, er ist dennoch in Vollmontur. (Bild: Noëmi Laux)

«Robert, let’s go!», tönt es vom Eingang der Rennbahn, wo eine Gruppe Kurier:innen startklar auf ihren Velos wartet. Aufbruchstimmung. Gemeinsam ziehen sie weiter zum Abendessen, danach findet die Eröffnungsparty im Dynamo statt. Noch den ganzen Abend fallen sie auf, die wohl hippsten Velokurier:innen der Welt. In kleineren und grösseren Gruppen schlängeln sie sich durch die Strassen von Oerlikon in Richtung Stadt.

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