Hilfsbereitschaft: Ein Blick auf die eigene Heuchelei
Voller Begeisterung und Mitgefühl helfen die Schweizer:innen den Notleidenden im Ukraine-Krieg. Aber dürfen wir uns deshalb auf die Schulter klopfen? Unser Gastautor Reda El Arbi übt sich in Selbstreflexion.
Dieser Text ist bereits auf unserem Partnerportal Bajour erschienen. Bajour gehört wie Tsüri.ch zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
Unbeschreibliches Mitgefühl, Spontandemonstrationen mit 20'000 Menschen, Spendenaktionen in Material und Geld, Angebote für Unterkunft, Jobs, medizinische Hilfe, Schulplätze – die Reaktion der Menschen in der Schweiz auf Putins Angriffskrieg und der daraus resultierenden humanitären Krise gibt mir den Glauben an das Gute zurück.
Zumal ich ja selbst Teil dieser positiven Reaktion bin. Habe ich doch bereits unser Arbeitszimmer im Geiste umgestellt und mich für die private Unterbringung von Flüchtenden aus der Ukraine gemeldet – als einer der Ersten, will ich betonen.
Ich könnte mir dafür gleich mehrmals täglich auf die Schulter klopfen, im Gleichtakt mit dem Grossteil meiner linksgrünen Bubble, die sich ebenfalls selbstlos und begeistert für die Ukraine engagiert. Das gehört sich auch so, wenn man die eigenen Werte auch wirklich leben will.
Natürlich brauchts in jeder Heldengeschichte auch Bösewichte. Da wäre Nationalrat Thomas Aeschi, der explizit und vielmals belegt eine nachweislich rassistische Unterscheidung in hellhäutige und dunklere Flüchtende macht und letzteren Vergewaltigung und Verbrechen unterstellt. Aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe. Oder diejenigen, die wie Weltwoche-Herausgeber Roger Köppel nach Neutralität schreien, während Kinder unter den Bomben von Putins persönlichem Wahnsinn sterben.
Soweit, so schwarzweiss. Aber ganz so einfach ist es nicht. Ich gestatte mir nur dann, Angriffe auf andere zu fahren, wenn ich die gleichen Prinzipien auf mein eigenes Verhalten anwende. Und da muss ich mich fragen: Wo war meine Bereitschaft zur privaten Unterbringung von Flüchtenden im Herbst 2019. Oder im Sommer zuvor? Oder im Winter vor diesem Sommer? Täglich starben (und sterben) Flüchtende im Mittelmeer, werden auf dem Weg hierher (oder wenigstens bis an die Aussengrenzen Europas) misshandelt, ausgenutzt, verachtet, verprügelt, bespuckt.
Aber ehrlich: Hätte ich für zwei junge Männer aus Afghanistan unser Arbeitszimmer leergeräumt?
Reda El Arbi
Wo war mein überfliessendes Mitgefühl in diesen Jahren? Natürlich, es war da. Ich habe mich politisch für Flüchtende engagiert, hab Petitionen unterschrieben, Kampagnen für NGOs entworfen, Spendensammlungen mitorganisiert. Das gehört zum 1 x 1 des linken Aktivisten. Aber ehrlich: Hätte ich für zwei junge Männer aus Afghanistan unser Arbeitszimmer leergeräumt? Vielleicht, wenn man auf mich zugekommen wär und mich explizit danach gefragt hätte. Aber mich begeistert und mit vor Mitgefühl nassen Augen und Stolz geschwellter Brust vorgedrängt, um direkt Hilfe zu leisten? Das habe ich nicht.
Wenn in der Politik sich so schnell etwas bewegt wie in dieser Kriegskrise, ist das immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Stimmung. Schnelle Sanktionen, schnelle Hilfe, Gelder, die man plötzlich hat, obwohl man sonst immer übers Budget klagt, das alles ist nur möglich, weil die Politik den starken Wunsch der Bevölkerung erkannte. Und darum bekommen Flüchtende aus Syrien den Status F. Und solche aus der Ukraine den Status S. Das spiegelt nicht einzelne Personen, sondern unsere Gesellschaft, auch Dich und mich.
Prädikat Gutmensch
Ich würde mir wünschen, dass diese Begeisterung für Hilfe an Schwächere anhält, sich auch bei der nächsten Katastrophe zeigt, den Worten «humanitäre Tradition der Schweiz» über die politischen Formen hinaus Bedeutung gibt, bis in unseren gelebten Alltag hinein. Dass wir, jede:r Einzelne, diese Begeisterung, wenn sie schon mal da ist, auch weitertragen und gleichmässig auf Notleidende verteilen.
Was das bedeutet? Vielleicht, dass man sich nicht nur meldet, um ukrainische Flüchtende aufzunehmen. Sondern einfach, um Flüchtende aufzunehmen. Ohne Ansicht der Herkunft, des Geschlechts, der Hautfarbe, der Religion oder der Person.
Weil wir Prinzipien über Personen stellen. Auch und vor allem wir, die wir uns verdienen müssen, von Rechten als «Gutmenschen» betitelt zu werden.