«Heute wollen alle hierher – früher wollten alle weg»
Die Josefswiese ist ein zentraler Ort der Soziokultur in Zürich. Nicole Schultes ist Betriebsleiterin im Verein Josefwiese und erzählt, wie sich das Quartier entwickelt hat, wie sich die Gemeinschaft verändert und wie der Verein Menschen verbindet.
Spaziergänger:innen dürften am vergangenen Sonntag nicht schlecht gestaunt haben, als sie über die Josefswiese flanierten. Rund 150 Menschen versammelten sich vor dem Kiosk neben dem Viadukt, viele von ihnen mit einem Tannenbaum in der Hand. Anlass war das alljährliche Christbaumwerfen. Es ist eines der vielen Projekte des Vereins Josefwiese, die das Quartier zusammenbringen und die Bewohner:innen vereinen – eine bedeutende Aufgabe, die die Mitarbeiter:innen und Helfer:innen mit grossem Engagement umsetzen. Nicole Schultes, die seit Jahren die Betriebsleitung Soziokultur innehat, kennt das Quartier in- und auswendig.
Übrigens: Der Rekord im Christbaumwerfen lag in diesem Jahr bei beeindruckenden 6,15 Metern.
Severin Miszkiewicz: Guten Tag, Frau Schulthess. Wie kam es zum Verein Josefwiese? Nicole Schulthess: Unser Verein ist direkt aus dem Herzen des Quartiers gewachsen. Mitte der 1990er-Jahre haben sich Eltern aus der Gegend zusammengeschlossen, um auf der Josefwiese einen Mittagstisch zu organisieren. Zuerst wollten sie diesen im leeren Milchhäuschen, in dem wir jetzt sitzen, einrichten. Doch die Stadt stimmte dem nicht zu. Daraufhin stellte der Verein einfach einen Bauwagen auf den Platz und führte den Mittagstisch dort durch.
Und wie kommt es, dass wir jetzt doch im Milchhäuschen sitzen und nicht im Bauwagen? Der Bauwagen war nur eine Übergangslösung und wurde bald zum Problem. Das war gerade in der Zeit der Platzspitz-Schliessung, und die Stadt hatte Angst, dass die Drogenszene hierher auf die Josefwiese ziehen könnte. Ein Bauwagen war für sie ein Dorn im Auge. Schliesslich konnte sich der Verein mit der Stadt darauf einigen, das Milchhäuschen zu nutzen und die Josefwiese als Ort der Begegnung zu beleben.
«Damals bekamen Kinder von der Stadt Trambillette, damit sie in ihrer Freizeit in einem anderen Viertel verbringen konnten.»
Nicole Schulthess
Wie hat die Drogenszene das Quartier in den 1990er geprägt?
Heute wollen alle hierher – früher wollten alle weg. Besonders Familien mit Kindern wollten unbedingt aus dem Quartier wegziehen. Viele Parkhauseingänge waren von der Fixer-Szene besetzt, und die Angst vor Drogen war gross. Man kann es sich kaum vorstellen, aber damals bekamen Kinder von der Stadt Trambillette, damit sie in ihrer Freizeit in einem anderen Viertel verbringen konnten.
«Früher war das Quartier ein klassisches Arbeiterviertel, heute ist es sehr trendy.»
Nicole Schulthess
Die Josefwiese selbst hat eine noch längere Geschichte…
Die Parkanlage wurde letztes Jahr 100 Jahre alt. Sie sieht eigentlich noch fast genauso aus wie damals, aber alles drumherum hat sich stark verändert. Zum Beispiel die Viaduktbögen, die heute mit Shops, Restaurants und Gyms belebt sind – so etwas gab es früher nicht. Es war hier immer lebendig, aber auf eine andere Weise. Früher wurden auf der Wiese Eidgenössische Turnfeste und Kilbis veranstaltet. Früher war das Quartier ein klassisches Arbeiterviertel, heute ist es sehr trendy.
Kommen wir in die Gegenwart. Was macht der Verein heute?
So ziemlich alles, was die Leute aus dem Quartier vorschlagen. Das reicht von Kinderfussball am Morgen über Kaffeenachmittage für Senioren bis hin zu Lesekreisen, Christbaumwerfen, Kino oder einer Tavolata auf der Josefwiese. Die Ideen aus dem Quartier setzen wir dann gemeinsam um. Dieses Jahr planen wir zum Beispiel mehrere Veranstaltungen zum Thema Frauenfussball: ein Töggeliturnier auf der Wiese, Fussballtraining für Mädchen und einen Workshop, in dem Fanartikel gebastelt werden können. Aber es können auch kleinere Sachen sein – heute feiern beispielsweise rund 20 Mitarbeiter:innen der Pädagogischen Hochschule den Dreikönigstag hier. Auch solche Anlässe gehören zum Repertoire des Vereins.
Wie finanziert sich der Verein?
Über den Gastrobetrieb des Kiosks. Wir haben mit der Stadt einen Kontrakt und legen unsere Bilanz immer offen. Wenn wir einen Gewinn erzielen, investieren wir diesen direkt in Veranstaltungen für das Quartier. Wir organisieren jährlich etwa 12 größere Projekte – darunter zum Beispiel ein Blasmusikkonzert, ein Street-Soccer-Turnier oder eine offene Grill-Bühne, bei der sich die Teilnehmenden kulinarisch austoben können.
Natürlich sind wir aber auch stark auf freiwillige Helfer:Innen angewiesen. Darum haben wir seit Jahren unser „Feel-Good-Trips“-Programm. Verschiedene Aufgaben werden auf Zettel geschrieben, und die Helfer:innen können sich melden. Meistens handelt es sich um kurze Einsätze von ein bis zwei Stunden.
Hier auf dem Zettel steht zum Beispiel «Popcorn - 15.08.25 / 18.30-20.00 Uhr».
Für einen unserer Traditionsanlässe, den Lotto-Abend, suchen wir noch jemanden, der den Popcorn-Stand bedient. Die Teilnehmer dürfen sich dort Popcorn holen – das war’s. Die Aufgaben sind bewusst einfach gehalten. Man kann auch beim Samichlaus den Esel führen oder beim Kerzenziehen aushelfen.
Welche Rolle spielt der Verein im Quartier?
Unser Ziel ist es, Menschen zu verbinden und das Quartier lebendig zu machen. Wir sehen uns als Treffpunkt, aber auch als Drehscheibe. Immer wieder begegnen wir Menschen mit ähnlichen Ideen oder Wünschen, die sich aber nicht kennen. Diese bringen wir gerne zusammen.Manchmal sind wir auch so etwas wie eine soziale Anlaufstelle. Zum Beispiel, wenn jemand verzweifelt nach einer neuen Wohnung sucht – auch wenn wir dabei nur begrenzt helfen können.
«Wir haben oft berührende Geschichten gehört von Menschen, die ihre grosse Liebe auf der Josefwiese getroffen haben.»
Nicole Schulthess
Hat sich der Gemeinschaftssinn im Quartier verändert?
Ja, besonders während der Corona-Zeit. Die Leute sehnten sich nach mehr Gemeinschaft und wollten einander helfen. Heute versuchen wir, möglichst viele Zielgruppen anzusprechen – von Familien bis Senioren. Ein Beispiel: Kinder aus der Nachbarschaft haben Seniorinnen aus dem Altersheim abgeholt und zum Kiosk begleitet. Wir haben oft berührende Geschichten gehört von Menschen, die ihre grosse Liebe auf der Josefwiese getroffen haben.
Das klingt fast wie auf dem Dorf.
Genau so ist es! Das würde man hier vielleicht nicht vermuten, aber genau solche Geschichten, die man eher aus einem Dorf kennt, passieren auch auf der Josefwiese. Hier entstehen Freundschaften und Erinnerungen werden geschaffen.
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