Hans X. prägte den «Film am See» über Jahrzehnte – nun zieht er sich zurück

Über vierzig Jahre lang war Hans X. Teil der Roten Fabrik, gestaltete Kultur mit, vor allem mit dem Freiluftkino. Ein Porträt.

Am liebsten trinkt Hans X. den pink-leuchtenden Kefir vom «Ziegel», wie er das Restaurant Ziegel au Lac nennt. (Bild: Jenny Bargetzi)

Hans X. trägt ein rotes T-Shirt mit dem schwarzen Aufdruck «Film am See 2008». Er habe es extra angezogen, sagt er stolz. Hans X. ist 69 Jahre alt, die Augen eisblau, die Stimme warm, die Präsenz ruhig. Er wirkt wie ein Grossvater, der Geschichten erzählt, am liebsten von der Roten Fabrik. Hier geht er ein und aus, als wäre sie sein Zuhause. Und das ist sie irgendwie auch, seit über vier Jahrzehnten.

Techniker und Kulturvermittler

Hans X. wird als Jean Xaver Hagen am 23. September 1955 in Wettingen geboren. Er wächst zwischen Kinoleinwänden und Jugendhauspolitik auf. Die Region zählt damals sechs Kinos, sein Lieblingsort ist das Royal. «Pasolini, Truffaut, Fellini – das europäische Autorenkino hat mich geprägt», sagt Hans X. Daneben lernt er Elektromechaniker, filmt an den Wochenenden mit der Super 8, besucht das Jugendhaus in Wettingen, diskutiert, tanzt, politisiert. «Dort kam ich langsam ins Leben», sagt er. «Und in Berührung mit Politik.»

Er zieht Ende der 70er Jahre nach Zürich, lebt zusammen mit sieben Personen – Radiomachern, DJs, Künstler:innen – in einer WG und nennt sich fortan Hans X. Er taucht in die alternative Szene ein, geht aus, hört New Wave, Punk, Rock. Er sagt: «Wir wollten mehr. Wir wollten Räume, in denen wir selbst Veranstaltungen machen konnten.»

Die Suche führt ihn zum wuchtigen Backsteinbau am linken Seeufer; die Rote Fabrik. «Ich ging durch die oberen Gänge, wo früher die alten Holzwände mit den Glasscheiben waren, und schaute neugierig in die Ateliers», erzählt er. Diese Bilder hätten sich verankert.

Der Kampf um Räume und Selbstverwaltung

1980 eskalieren die Proteste in Zürich. Die Jugend rebelliert gegen eine Kulturpolitik, die Millionen für das Opernhaus spricht, aber nichts für sie übrig hat. Hans X. ist mittendrin. «Es war ein deftiges Jahr. Man hat sich nichts geschenkt», erzählt er. Auch die Filme werden politischer. «Sie waren nicht gegen die Polizei gerichtet, sondern gegen die Politik – auch wenn die Polizei deren verlängerter Arm war.»

Die Stadt reagiert. Im Herbst 1980 beginnt der offizielle Versuchsbetrieb der Roten Fabrik als Kultur- und Freizeitzentrum, das allen Alters- und Gesellschaftsschichten offenstehen soll. So steht es in den Weisungen des Stadtrats.

In der Fabrik spielen Bands wie Nirvana und Red Hot Chili Peppers. Der Ort wächst zu einem der bedeutendsten selbstverwalteten Kulturzentren in Europa heran.

Hans X. übernimmt als Fachmann die Filmprojektion und organisiert seine erste Filmveranstaltung in der Roten Fabrik. Diese war ursprünglich für das Autonome Jugendzentrum (AJZ) geplant, das jedoch kurz zuvor geräumt wird. Die «Filmherbstschau» wird zum Auftakt des Freiluftkinos «Film am See» von 1984 – das heute älteste seiner Art in Zürich.

Doch anfangs ist sogar das Zeigen von Filmen ein politischer Akt: Bis Ende der 80er dürfen Filme ausserhalb von Kinosälen nicht mit ihren Originaltiteln angekündigt werden. So umschreibt das «Film am See» seine Filme in den ersten Jahren: Tanzen mit Marlon Brando in Paris (Der letzte Tango in Paris), Töfflifahren mit Peter Fonda und Dennis Hopper (Easy Rider). Erst durch juristische Intervention gelingt der Durchbruch für alle Open-Air-Kinos in der Schweiz.

Jubiläumsbuch der Roten Fabrik
Hans X. zeigt auf ein Foto aus dem Jahr 1985 im Jubiläumsbuch der Roten Fabrik – erschienen 2021, ein Jahr später als eines der schönsten deutschen Bücher ausgezeichnet. Er steht an der Theke und bezahlt. (Bild: Jenny Bargetzi)

Technik statt Kunst – der stille Unterstützer

Filmemacher ist Hans X. trotzdem nie geworden. «Ich bin kein Künstler», sagt Hans X. «Ich habe immer gespürt: Es wird schon genug gefilmt, gemalt, gezeichnet.» Darum habe er sich mehr in der Technik engagiert, um diejenigen, die diesen Drang hätten, technisch zu unterstützen.

Wenn Hans X. erzählt, folgt er einer inneren Logik. Seine Sätze schweifen aus, kreisen, kehren zurück, ohne dass er den Überblick verliert. Das spiegelt sich auch in seinem umfangreichen Archiv wider, das er über Jahrzehnte gesammelt hat: Programme, Flugblätter, Zeitungsartikel, Briefe – alles, was die Geschichte der Roten Fabrik dokumentiert. Vor zwei Jahren musste er das Archiv aus der Fabrik auslagern, «weil es keinen Platz mehr dafür gab».

Heute bietet er Führungen durch die Rote Fabrik an, erzählt Besucher:innen Geschichten und stellt Verbindungen zwischen damals und heute her.

Früher war Aufbruch, heute ist Verwaltung

45 Jahre hat Hans X. den Wandel der Fabrik miterlebt. Früher sei man einfach losgezogen, habe gemacht, auch wenn es Ärger gab. «Wie bei der Minarett-Initiative, als plötzlich ein Halbmond auf dem Kamin stand», sagt Hans X. Lausbübisch sei das gewesen.

Mittlerweile steckt die Rote Fabrik seit zwei Jahren in der Krise. Ein Defizit von einer halben Million Franken wurde öffentlich, das Fabrikvideo und die Fabrikzeitung mit ihren zehn Ausgaben pro Jahr wurden eingestellt. «Einfach streichen, ohne Diskussion – das ist genau das, wovor man sich immer gefürchtet hat. Und jetzt macht man’s selbst.»

Hans X. in der Roten Fabrik
Fast jeden Morgen trinkt Hans X. seinen Kaffee im Ziegel, liest die Zeitung, und schaut, was der Tag bringt. (Bild: Jenny Bargetzi)

Das einstige Vorzeigekulturzentrum ist in Schieflage, und die NZZ fragte kürzlich, was eigentlich mit den linksalternativen Bollwerken von früher los sei.

Ist die Rote Fabrik überhaupt noch politisch?

Hans X. zuckt mit den Schultern. In der Fabrik herrsche viel Zurückhaltung und Angst, sagt er. Angst vor politischen Reaktionen, vor gekürzten Subventionen, vor dem Druck der bürgerlichen Seite. «Die Zentralwäscherei ist mutiger.»

Dabei könnten sie viel stärker argumentieren, sagt Hans X. Das «Film am See» zeige jährlich Werke, die andere Kinos meiden würden – zu frech, zu direkt, zu politisch. «Wir sind kein Kino, wir zeigen Filme. Das ist ein Unterschied.» Doch damit ist für Hans X. nun Schluss: Dieses Jahr ist er zum ersten Mal nicht mehr Teil des Teams. «Ich bin entspannt», sagt Hans X., «und ich freue mich darauf, bei den Vorstellungen all die vertrauten Gesichter wiederzusehen.»

Bleiben, wenn andere gehen

Ganz verlassen will er die Fabrik aber nicht. «Es gibt immer wieder neue Leute und neue Konstellationen in der IGRF, der Interessengemeinschaft, die das Haus verwaltet», sagt Hans X. «Das macht es spannend. Ich habe nie das Gefühl bekommen, dass ich gehen müsste.»

Was er ausserhalb der Fabrik noch macht? «Ich suche seit anderthalb Jahren eine Wohnung in Wollishofen», sagt Hans X. Dann spricht er wieder vom Ziegel, vom Kaffee am Morgen, der Zeitung, dem Tagesplan, von seinem Archiv. Er sei das «Gedächtnis der Roten Fabrik», schrieb einmal der Tages-Anzeiger über ihn. Vielleicht stimmt das. Vielleicht ist er aber auch einfach einer, der nie aufgehört hat, im Hintergrund Räume zu schaffen. Für andere und für sich selbst.

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Jetzt unterstützen!

Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in Politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare