Phänomen Gig Economy: Ist neu immer besser?

«Angestellt im Netz – Schöne neue Arbeitswelt», über diese Thematik wurde vergangenen Montagabend am Podium im Impact Hub Viadukt diskutiert. Am krönenden Abschluss der Veranstaltungsreihe zum Fokusmonat Zukunft der Arbeit sprachen drei Fachpersonen über die bestehende Problematik und ihre eigenen Visionen.

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Dass die Digitalisierung so einige Veränderungen mit sich bringt, wurde bereits zur Genüge diskutiert und sollte mittlerweile jeder Person, die mindestens einen Beitrag von Tsüri.ch gelesen oder einen deren Event besucht hat, wissen. An der Abschlussveranstaltung der Reihe wurde es konkret: Angestellt im Netz – Schöne neue Arbeitswelt lautete der Titel des Podiums, welches im Impact Hub Viadukt in gemütlicher Runde ausgetragen wurde. Welche neuen Möglichkeiten mit welchen Problemen tun sich auf, wenn Erwerbstätige ohne geografische Grenzen und vielleicht auch ohne klare Arbeitgeber*in arbeiten?

Zur Diskussion eingeladen waren die Zukunftsforscherin Senem Wicki, der Gewerkschafter Stephan Germann von der Unia Zürich und Flurin Hess vom Think Tank Dezentrum, der sich mit Zukunftsvisionen wie dezentralem Arbeiten auseinandersetzt.

Die Gig Economy und ihre Tücken

Senem Wicki, die Forscherin im Grüppchen, nennt drei langfristige Veränderungen, die in Bezug auf die Zukunft der Arbeit bereits zu beobachten oder aber zu erwarten sind:

  1. Mit dem technischen Fortschritt gebe es eine zunehmende Digitalisierung der Arbeitsvorgänge,
  2. durch mehr politische Selbstbestimmung eine Individualisierung auf dem Arbeitsmarkt
  3. und durch die höhere Lebenserwartung eine Anpassung der Lebensläufe.

Bezüglich der Verschiebung von Festanstellungen hin zur Gig Economy ist für sie deshalb klar: «Es gibt auch Arbeitsnehmende, die in kurzfristigen Aufträgen auf Stundenlohnbasis eine persönliche Freiheit sehen.»

<div style="background-color:#3dafe8;color:white;font-weight:bold;padding:10px"> Gig Economy </div> <div style="font-size:18px;padding:10px;background-color:#dddddd"> Gig Economy bezeichnet einen Teil des Arbeitsmarktes, bei dem kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Selbständige, Freiberufler*innen oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden. Dabei dient häufig eine Onlineplattform als Mittlerin zwischen Kunde und Auftragnehmer*in, die Plattform setzt Rahmenbedingungen und hält deren Betreiber*innen eine Provision ein. </div>

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Dem widerspricht Stephan Germann indirekt mit den Worten, dass es zwar wenige hochqualifizierte Arbeitnehmer*innen gebe, die kleinere Jobs wie das Fahren für Uber als Nebenverdienst gerne annehmen, niedrigqualifiziertere jedoch in die Situation hineingedrängt würden. Auch der studierte Arbeitspsychologe Flurin Hess sagt: «Es gibt Menschen, die freiwillig unsichere Mini-Jobs machen – oder wo es zumindest so scheint.» Die meisten allerdings, so Hess, würden von diesen sogenannten Null-Stunden-Verträge nicht profitieren. Solche Verträge würden seit einigen Jahren in Grossbritannien systematisch vom Staat gefördert werden. Bei einem Zero-Hours-Vertrag existiert kein festes Einkommen, sondern der*die Arbeitnehmer*in arbeitet auf Abruf und Stundenlohnbasis.

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Moderatorin Ursina Ingold, Stephan Germann, Flurin Hess und Senem Wicki (v.l.n.r.).

Laut Hess sind solche Verträge typisch für das Gig Economy Phänomen. Wirtschaftlich gesehen würde sich diese Arbeitsform zwar auszahlen – und sich gut präsentieren, da sie die Arbeitslosenquote tief halten –, Arbeitnehmende stünden allerdings unter enormem Druck, was zu Überarbeitungen und psychische Erkrankungen führen könne.

Opfer- und Täterrolle ungeklärt

Um so etwas zu verhindern, brauche es Gewerkschaften wie die Unia, betont Germann. Entscheidend sei jedoch, dass der Impuls von den Arbeitnehmer*innen selbst komme: «Die Wut und die Hoffnung auf Besserung müssen vorhanden sein, sonst passiert nichts.» Erst dann könne eine Organisation wie die Unia Wirkung erzeugen. Und genau dort läge der Hund begraben, wendet Zukunftsforscherin Wicki ein: «Studien zeigen, dass sich beispielsweise viele Uber-Fahrer*innen nicht als Opfer, sondern als selbstständige Unternehmer*innen sehen.» Erst wenn sie merken würden, dass niemand für sie die Verantwortung übernimmt, wenn ein Unfall passiert oder das Fahrzeug defekt ist, gebe es eine Veränderung in ihrer Denkweise.

Es gibt auch Arbeitsnehmende, die in kurzfristigen Aufträgen auf Stundenlohnbasis eine persönliche Freiheit sehen.

Senem Wicki, Zukunftsforscherin

Auch der Fakt, dass es für einen Konflikt eine Gegenpartei braucht, ist Thema der Diskussion. Diese Gegenspieler sei bei Arbeitnehmenden, die sich im Internet und global ihre Aufträge suchen, selten gegeben, sagt Hess: «Personalvermittlungsstellen schaffen oft eine zu grosse Distanz zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden». Und als wäre die empathische Distanz nicht schon problematisch genug, komme bei Freelancern oder Digitalen Nomaden auch noch die geografische Distanz hinzu, wenn sie aus einem fernen Land für ein Unternehmen arbeiten würden. Wo ein Gesamtarbeitsvertrag in der Schweiz Rechte und Pflichten für beide Parteien vorgebe, stelle sich die Frage der geografischen Grenzen, die im Internet aufgebrochen würden – vor allem bei Grosskonzernen, die global agieren würden, so Hess.

Die Verantwortung wahrnehmen

Eine Antwort auf diese Frage gebe es bisher noch nicht, sind sich alle drei Expert*innen einig. Lösungsvorschläge sind aber vorhanden. Während die Zukunftsforscherin Wicki auf eine Einführung von Dienstleistung-Labels, vergleichbar mit den Food-Labels, pocht, bleiben die beiden Männer in der Runde skeptisch. Germann argumentiert: «Nicht jede*r Konsument*in hat die Wahl das beste, und damit das teuerste, Label zu kaufen.» Für ihn sei der Staat in der Pflicht, die Grundpfeiler für gute Arbeitsbedingungen zu schaffen – beispielsweise damit, dass Erwerbstätigen eine Verhandlungsmacht zugesprochen wird.

Arbeitgeber*innen fürchten sich vor einem Shitstorm auf Social Media – und das ist auch gut so.

Flurin Hess, Dezentrum

Auch Hess bleibt skeptisch, ob eine Einführung von Labels den gewünschten Erfolg bringen könnte: «Ich bin fest davon überzeugt, dass dies nicht DIE Lösung ist. Es gibt genügend Beispiele von bereits eingeführten Labels, die nicht halten, was sie versprechen.» Aber: der technologische Fortschritt könnte helfen, für eine Transparenz zu sorgen. Auf die Problematik der Gig Economy bezogen, bedeute das: «Arbeitgeber*innen fürchten sich vor einem Shitstorm auf Social Media – und das ist auch gut so», so Hess.

Zwischen Heute und Morgen

Doch wie sähe denn diese schöne neue Arbeitswelt im Netz aus, wenn die oben erwähnten Probleme Beiseite geschafft werden könnten? «Mindestlöhne werden kommen», ist sich der Gewerkschafter Germann sicher und verweist auf die Bestrebungen der EU und auf Deutschland, wo der Mindestlohn bereits Fakt ist. Das sei zumindest ein Schritt in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen. Was allerdings uns diesbezüglich noch im Weg stehe, sei die Gesellschaft selbst: «Solange wir uns über unsere Arbeit definieren, ist die Angst vor der Einführung eines Grundeinkommens noch zu gross», so Germann.

In der Finanzierung sehe er dafür kein Problem, denn die technologische Revolution – die bereits im Gange ist – bringt eine enorme Produktivitätssteigerung mit sich. Geklärt werden müsse, wer davon profitieren soll: Wir alle, indem wir weniger arbeiten müssen, oder ein paar wenige Unternehmer*innen, die durch mehr Produktivität ihren Profit steigern?

Solange wir uns über unsere Arbeit definieren, ist die Angst vor der Einführung eines Grundeinkommens noch zu gross.

Stephan Germann, Unia

«Automatisierung ist ja nichts Negatives», hakt Hess ein, deshalb stelle auch er sich die Frage der künftigen Güterverteilung. Die Antwort sei für ihn der «vollautomatisierte Luxuskommunismus», bei dem alle gleichermassen vom technologischen Fortschritt profitieren würden. Ein weiteres utopisches Zukunftsbild dreht sich bei dem Vertreter des Think Tanks um eine Dezentralisierung von Organisationsformen – technologisch, aber auch strukturell und politisch.

Wicki bleibt hingegen mehr bei der Gegenwart: «Ich wäre nur schon froh, wenn in heutigen Strukturen Anliegen wie Gleichstellung oder Kinderbetreuung ernster genommen würden.» Es könne nicht sein, dass Frauen an Meetings noch immer ihre Babybäuche verstecken müssten, um nicht entlassen zu werden. Auch eine Entkrampfung der Identifikation über die eigene Arbeit wäre für die Forscherin wünschenswert. Etwas mehr Lockerheit würde es der Gesellschaft zulassen, Lösungen auszuarbeiten und auch dem Grundeinkommen stünde dann im Prinzip nichts mehr im Wege.

Die gesamte Podiumsdiskussion im Impact Hub Viadukt kannst du auch nachschauen:

Alle Bilder: Elio Donauer

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