Gestört erzählt: «Als ich die Diagnose erhielt, wurde mir mein Verstand abgesprochen»
Mental-Health-Aktivistin Simone Fasnacht lebt mit einer diagnostizierten «schizoaffektiven Störung». Am Dienstag sprach sie mit Psychotherapeut Matthias Boss im Rahmen unseres Fokusmonats «Psychische Gesundheit» über ihre Krankheit.
Psychische Krankheiten scheinen in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabuthema zu sein. Obwohl Studien zeigen, dass jede zweite Person mindestens einmal im Leben psychisch erkrankt. Betroffene schämen sich oft und trauen sich nicht, über ihre Erkrankung zu sprechen, obwohl dies zur Genesung beitragen könnte. Mental-Health-Aktivistin Simone Fasnacht lebt mit der Diagnose «schizoaffektive Störung». Sie gründete im Sommer 2020 MADNESST, ein Kollektiv von Aktivist:innen, das sich für das Thema «psychische Gesundheit» einsetzt und damit einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung und Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen leistet. Im Gespräch mit Psychotherapeut Matthias Boss teilte sie am vergangenen Dienstagabend, 28. Februar, im «Karl*a der*die Grosse» ihre Erfahrungen mit dem Publikum.
Boss gründete das Format «Gestört erzählt». Dies soll den Menschen hinter der Diagnose sichtbar machen und aufzeigen, dass die Erfahrungen von Betroffenen gar nicht so unterschiedlich sind, wie «gesunde» Menschen es schon in kleinerer Dosis erlebt haben. «Es soll die Grenze zwischen gesund und krank, welche meiner Meinung nach nicht existiert, verwischen», so Boss. «Gestört erzählt» soll einen Raum schaffen, in dem es keine Berührungsängste gibt. Deshalb wurde das Publikum zu Beginn auch gleich in die leeren vordersten Reihen gebeten, damit die Personen auf der Bühne das Publikum auch wirklich sehen.
Simone Fasnachts Krankheitsgeschichte
«Wie geht es dir?», fragte Boss Fasnacht danach. «Erstaunlich entspannt», antwortete sie. Sie habe sich im Vorhinein in alle möglichen Stimmungen reinversetzt und nicht gedacht, dass sie an diesem Abend so entspannt sein würde.
In den ersten 20 Minuten liess Fasnacht das Publikum an ihrer Krankheitsgeschichte teilhaben. Sie erlebte jeweils manisch-psychotische und daraufhin depressive Phasen – und das insgesamt drei Mal. In den manisch-psychotischen Phasen hörte sie jeweils Stimmen, war energiegeladen, schlief kaum und sah in allen Dingen ein «Wunder». Alles hing zusammen und war Teil eines grösseren Kontexts. In den depressiven Phasen kam sie dafür kaum aus dem Bett und achtete nicht mehr auf ihre Körperhygiene. Sie hatte konstant sich im Kopf drehende Gedanken und fragte sich, ob sich das Leben noch lohnt.
In dieser Phase steckte Fasnacht pro Episode acht bis zwölf Monate. «Der Grund, weshalb ich jetzt alles in meiner Macht stehende tue, um keine manisch-psychotischen Phasen mehr zu erleiden, sind die Depressionen», so Fasnacht. Die manisch-psychotischen Phasen beschrieb sie als «sehr vielseitig». So spazierte sie zum Beispiel einmal in Luzern den See entlang, als sie plötzlich eine Stimme hörte. Sie wusste, dass sie die Stimme kannte. Es sei ihre «eigene, höchste spirituelle Instanz» gewesen, die sie am gleichen Abend durch eine Art «Ritual» führte: «Ich hatte das Gefühl, zu verbrennen, zu erfrieren, zu ersticken, mich zu zersetzen und aufzulösen. Im Nachhinein fühlte ich mich so, als wäre ich in allen Elementen gestorben», so Fasnacht. Diesen Prozess nahm sie zu diesem Zeitpunkt als Reinigung wahr, um dafür bereit zu sein, nach Indien zu reisen und als «Auserwählte gesegnet» zu werden.
Nach diesem Erlebnis kam Fasnacht in die Psychiatrie. Auch dort wurde sie von der Stimme begleitet. «Sie hat mir damals geholfen, die Gewalt und den Zwang der Psychiatrie zu legitimieren.». Fasnacht erzählte weiter, wie sie intravenös sediert und in ein Isolationszimmer gebracht wurde. Als sie das Bedürfnis äusserte, über ihr Erlebnis mit dem «Ritual» zu sprechen, seien ihr starke Beruhigungsmittel verabreicht worden. «Die Stimme, die ich hörte, gab mir zum ersten Mal im Leben das Gefühl, wertvoll und bedeutsam zu sein. Ich wurde zum ersten Mal gehört und gesehen.»
Fasnacht kann sich nur noch punktuell an die Geschehnisse erinnern. «Auch wenn das, was ich heute erzähle, in sich geschlossen tönt und Sinn ergibt, so sind das nur die Gedankengänge, die ich heute nachvollziehen und an die ich mich zurückerinnern kann. Ich war ein Jahr lang in diesem manisch-psychotischen Zustand. Es gibt wahrscheinlich noch etliche weitere, wirre Gedankengänge und Erlebnisse, an die ich mich nicht mehr erinnere und die ich nicht mehr nachvollziehen kann, auch wenn sie in meiner damaligen Realität Sinn ergaben.»
Label oder Diagnose?
Nach dem Gespräch zwischen Fasnacht und Boss wurde die Runde geöffnet und das Publikum durfte Fragen stellen. «Ich höre, dass ihr oft das Wort Label benutzt und ich spüre irgendwie, dass das negativ konnotiert ist. Was hat das auf sich?», wurde zum Beispiel gefragt. «Manchmal habe ich Lust, andere Wörter zu benutzen, und bezeichne meine Diagnose dann als Label», antwortete Fasnacht. Boss ergänzte: «Diagnosen geben dem erkrankten Menschen oft auch einen Stempel.»
«Als ich die Diagnose erhielt, hörte man auf, richtig mit mir zu kommunizieren. Mir wurde mein Verstand abgesprochen», so Fasnacht. Erst als sie Medikamente genommen und «krankheitseinsichtig» geworden sei, habe sich das wieder geändert.
Fasnacht beendete das Gespräch mit dieser Aussage: «Die Krisen sind zwar sehr anstrengend, für Betroffene wie auch die Angehörigen, doch es besteht die Möglichkeit, dass sich die erkrankte Person durch die Krise besser kennenlernt und viel über sich lernen kann.»
Wenn du die ganze Veranstaltung nachschauen möchtest, kannst du dies hier gerne tun.
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