Geschichten vom Schwamendingerplatz: «Es ist zu laut und zu teuer»

Kaum ein Quartier verändert sich so rasant wie Schwamendingen. Die Einhausung der A1 soll die Lebensqualität im Quartier verbessern, gleichzeitig steigen die Mieten. Wie nehmen Bewohner:innen den Wandel wahr? Ein Besuch auf dem Schwamendingerplatz.

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Ein Nachmittag auf dem Schwamendingerplatz. (Bild: Noëmi Laux)

Eine junge Frau wippt ihr Kind im Kinderwagen in den Schlaf und blickt dabei in ihr Handy. Alle paar Minuten fährt eine Tram vorbei, Autos hupen. Es ist laut und hektisch. Alle Bänke auf dem Schwamendingerplatz sind besetzt. Die einzelnen Gespräche jedoch gehen in der städtischen Geräuschkulisse unter. 

Eine Gruppe älterer Männer am Rande des Platzes sticht heraus. Sie lachen laut, fallen sich gegenseitig ins Wort und gestikulieren wild. Die vier Männer sind Kinder italienischer Einwanderer:innen. In den 50er-Jahren kamen viele Menschen aus Italien in die Schweiz. Einige der ehemaligen Saisonniers blieben. Viele liessen sich damals in Schwamendingen nieder. So auch die Eltern dieser vier. Der Schwamendingerplatz sei ihr Treffpunkt, erzählen sie. Einer von ihnen ist Robert.

Robert (65)

«Ich habe mein ganzes Leben in Schwamendingen verbracht, bin hier zur Schule gegangen und machte eine Ausbildung als Maler. Bis zum Malermeister habe ich mich weiterbilden lassen. Mit Mitte 40 kam ich in eine Lebenskrise. Ich kündigte meinen Job und eröffnete eine Bar, ebenfalls in Schwamendingen. Es folgte die beste Zeit meines Lebens. Wir hatten jeden Tag bis 2 Uhr in der Früh geöffnet und ich lernte viele Menschen kennen. Alle, die hier in der Runde sitzen, waren Gäste in meiner Bar. 2001 musste ich nach knapp fünf Jahren schliessen, weil immer mehr zwielichtige Gestalten kamen, die sich nicht benommen haben. Einmal hat mir ein betrunkener Gast fast ein Auge ausgeschlagen. Danach war für mich klar: jetzt ist Schluss. Heute würde ich keine Bar mehr eröffnen wollen, zu streng die Vorschriften.»

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Robert: «Ich habe mein ganzes Leben in Schwamendingen verbracht.» (Bild: Noëmi Laux)

Ein Mann wird auf das Gespräch aufmerksam und mischt sich in die Diskussion ein. Auf seinem Schoss liegt eine Weltwoche, neben ihm auf der Bank eine angebrochene Tafel Schokolade.

Joasch (34)

«Ich bin vor sieben Jahren aus dem Thurgau, wo ich aufgewachsen bin, nach Schwamendingen gezogen. Ich würde gern wieder aufs Land zurück. Hier gefällt es mir nicht so gut. Es ist zu laut und zu teuer. Nach Schwamendingen kam ich wegen meiner Partnerin. Sie lebt schon lange hier und möchte nicht aufs Land ziehen, was ich verstehen kann. Meine Partnerin ist Schwarz. Dort wo ich aufgewachsen bin, ist die Mehrheit weiss. In Schwamendingen habe ich weniger Angst, dass sie rassistisch angegangen wird, als im Thurgau. Die Menschen hier sind diverser.»

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Joasch: «Es gefällt mir hier nicht so gut, zu laut und zu teuer.» (Bild: Noëmi Laux)

Der Schwamendingerplatz ist weitläufig und belebt. In der Mitte plätschert ein Brunnen. Aus der hinteren Ecke dröhnt Musik aus einer Boombox. Ein Hund springt umher. «Rocky, chunsch jetzt do ahne!», ruft ein Mann. Er trägt schwarze Adiletten und ein rotes, weit geschnittenes Shirt. Der Hund scheint die Worte seines Herrchens nicht zu hören. Also erhebt dieser sich von der Bank, läuft quer über den Platz und greift seinen Hund energisch am Halsband. «Do bliebe jetzt.» Auch er ist gebürtiger Schwamendinger, «born and raised in Schwamendingen», fügt er hinzu und grinst. 

Sandro (42)

«Als Teenager haben wir uns hier auf dem Schwamendingerplatz zum Kiffen getroffen, und heute sitzen wir immer noch hier. Viele meiner Freund:innen von damals sind immer noch oder wieder in Schwamendingen. Einige sind schon verstorben, wegen der Drogen und dem Alkohol, oder leben heute von der Invalidenrente (IV). Auch ich kann nicht mehr arbeiten und lebe von der IV. Das war aber nicht immer so. Ich habe 20 Jahre lang auf dem Bau gearbeitet. Was ich an Schwamendingen mag, sind die Menschen. Du wirst nicht dumm angemacht oder angegafft, wenn du tagsüber rumhängst. Hier können einfach alle sein, wie sie sind. Trotzdem hat sich Schwamendingen früher für mich mehr wie ein Zuhause angefühlt. Es war grüner und heimeliger. Heute wird überall gebaut, hässlich gebaut. So viel Beton und dann all die Flachdächer – das verstehe ich nicht.»

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Sandro: «Was ich an Schwamendingen mag, sind die Menschen.» (Bild: Noëmi Laux)

Das Café Jasmin grenzt direkt an den Schwamendingerplatz. Mittlerweile ist es kurz nach 18 Uhr, die Tische im Aussenbereich füllen sich. Dennoch nimmt sich Wirt Serol Sare Zeit, für ein kurzes Gespräch. Der 37-Jährige räumt noch schnell einen Tisch ab und bringt einem Gast ein Bier. Kurz nachdem wir uns im hinteren Teil des Lokals niedergelassen haben, betritt ein Mann in Arbeitsmontur den Laden. «Maler Franky hat Durst», begrüsst der Wirt seinen Kunden und bittet den Stammgast am Nachbartisch kurz einzuspringen und die Gäst:innen zu bedienen. 

Die Wand hinter der Bar ist rot gestrichen, passend zur Schweizerfahne, die anlässlich der Fussball-EM über dem Zapfhahn hängt. Im hinteren Teil des Lokals prangen Zeichnungen über den Tischen, die Schwamendingen in den 50er- und 60er-Jahren zeigen. «Ein Geschenk eines Gastes», so der Wirt stolz.

Früher führten die Hauseigentümer:innen hier ein Blumengeschäft, den Blumenladen Meier. Auf dem Logo prangte eine Jasminblume auf dem i – so kam das Café an seinen Namen.

Serol (37)

«Mein Vater hat das Café 2016 übernommen, seither führen wir den Laden gemeinsam. Ich öffne mittags meist das Geschäft und mein Vater übernimmt dann am Nachmittag und schliesst den Laden nach Feierabend. Wir haben viele Stammgäst:innen, einige kommen jeden Tag zu uns. Ich mag diesen familiären Umgang. Viele schätzen uns, weil wir nicht so teuer sind. Ein grosses Bier kostet bei uns 6 Franken 10. Bei den Speisen laufen unsere Käse-Schinken-Sandwiches am besten. Angst, dass wir die Miete nicht mehr zahlen können, oder rausgeschmissen werden, habe ich nicht. Wir verstehen uns gut mit den Hausbesitzer:innen. Sie wohnen über der Bar und sind oft zu Besuch. Bei unseren Gäst:innen ist das anders. Einige mussten ihre Wohnungen verlassen, weil das Haus abgerissen oder kernsaniert wurde. Nicht alle haben etwas Neues in Schwamendingen gefunden, weil die Mieten einfach extrem steigen.» 

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Serol: «Angst, dass wir die Miete nicht mehr zahlen können, oder rausgeschmissen werden, habe ich nicht.» (Bild: Noëmi Laux)

An einem Tisch im Aussenbereich sitzen Evelyn, Beat und Annalies. Auch sie sind alle in Schwamendingen aufgewachsen. Kennengelernt haben sich die drei zu Schulzeiten, engen Kontakt pflegen sie jedoch erst, seit sie pensioniert sind. Mehrmals die Woche kommen sie ins Café Jasmin und verbringen gemeinsame Zeit. Evelyn hat sich gerade noch ein Bier bestellt – ohne Schaum, so wie immer.

Evelyn (69)

«Es ist verrückt, wie sich Schwamendingen seit meiner Kindheit verändert hat. Damals gab es weder eine Tram, noch führte die Autobahn mitten durchs Quartier. Jeden Morgen ist der Milchmann von Haus zu Haus gefahren und hat die Nachbarschaft beliefert. Als Kind habe ich mich immer gefreut, wenn ich das Geld in den Milchkasten legen durfte. Heute fühle ich mich nicht mehr so sicher im Quartier. Nicht, dass ich Angst hätte, wenn ich abends allein unterwegs bin, aber es wird mehr geklaut. Pakete zum Beispiel. Nachts höre ich oft Blaulicht, das war früher nicht so. Mir hat das ruhigere Schwamendingen besser gefallen.»

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Evelyn: «Heute fühle ich mich nicht mehr so sicher im Quartier.» (Bild: Noëmi Laux)

Schwamendingen ist in den letzten 90 Jahren stark gewachsen. Während das Quartier 1933, kurz vor der Eingemeindung gerade einmal 2830 Einwohner:innen zählte, leben heute knapp 34’000 Menschen in Schwamendingen. Dieses Bevölkerungswachstum hat vor allem mit der regen Bautätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Schwamendingen setzte sich zum Ziel, grün und familienfreundlich zu wachsen, was zur Folge hatte, dass der Kreis 12 in den 60er-Jahren zum kinderreichsten Quartier der Stadt wurde.

Die Eröffnung des Glatt Zentrum im Jahr 1975 führte dazu, dass immer mehr Menschen von ausserhalb nach Schwamendingen kamen. Das Quartier erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung. Mit der Eröffnung des Tramtunnel Milchbuck-Schwamendingen fuhr 1986 erstmals eine Tram durch Schwamendingen. In den 80er-Jahren wurde die A1 zwischen dem Schöneichtunnel und dem Dreieck Zürich-Ost ausgebaut und führt seither mitten durchs Quartier. Die Einhausung dieses Autobahnabschnittes soll das Quartier wieder vereinen und die Lebensqualität der Bewohner:innen verbessern. Nach rund 20 Jahren Bauzeit ist das Millionenprojekt nun in der Endphase.

Beat (55)

«Überall wird gebaut und gleichzeitig schliesst ein Restaurant nach dem anderen. Früher konnten wir uns fast jedes Wochenende an einem neuen Ort treffen. Heute ist das Café Jasmin einer der wenigen Orte, an denen man noch gemütlich zusammenkommen kann. Auch das Kreisbüro wurde nach Oerlikon verlegt und der Polizeiposten geschlossen. Es kommen immer mehr Menschen nach Schwamendingen und die Infrastruktur und das Angebot an Ausgehmöglichkeiten nehmen ab. Ich habe Informatik an der ETH studiert und bin durch mein Studium weggekommen aus Schwamendingen. Mit dem Alter wird der Kontakt zu den Freund:innen aus dem Studium weniger, weshalb ich wieder mehr Zeit hier verbringe, wo ich aufgewachsen bin. Schwamendingen ist und bleibt mein Zuhause.»

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Beat: «Schwamendingen ist und bleibt mein Zuhause.» (Bild: Noëmi Laux)
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